Fünftes Kapitel

Ich kann nicht sagen, was schockierender ist, Maman, Havilands Umwerbung … oder mein Sehnen, ihr nachzugeben.

Madeline fand an einem sehr ungewöhnlichen Ort Zuflucht vor ihrem kurzen Anfall von Melancholie: im Kinderzimmertrakt.

Der größte Raum war offenbar zuletzt für den Hausunterricht genutzt worden, den kleinen Pulten und Lesebüchern auf den Regalen nach zu urteilen. Nebenan waren Kinderschlafzimmer sowie eines für eine Erwachsene – wahrscheinlich das Kindermädchen oder die Gouvernante. Alle Zimmer waren frisch renoviert, und in einem stand sogar eine neue Wiege, wie Madeline sah. Ihr fiel wieder ein, dass Arabella sagte, sie würde ihr erstes Kind im kommenden Frühjahr erwarten.

Als Madeline in den Unterrichtsraum zurückkehrte, stellte sie ihre Kerze auf einen Tisch und ging zum Fenster, das sie einen Spalt weit öffnete, um frische Luft hineinzulassen.

Der Raum rief Erinnerungen an ihr Kinderzimmer zu Hause wach, als ihre Mutter noch lebte. Sie hatten wundervolle Zeiten zusammen … Maman, die Gerard und sie lehrte zu lesen, zu rechnen und die Länder auf dem Globus zu finden, in denen Papa gerade war.

Nun waren ihre Eltern beide nicht mehr, ihr Bruder war verheiratet und begann ein neues Leben, in dem sie nicht vorkam. Sie musste ihre Zukunft selbst meistern, ganz allein auf sich gestellt.

Madeline sank auf die gepolsterte Fensterbank und blickte hinaus in die mondhelle Nacht. Dort unten, jenseits des Gartens, war die Themse. Die Gerüche hier erinnerten Madeline an zu Hause, denn ihre Farm lag am Chelmer River. Allerdings war daheim nie Musik zu hören gewesen, wie jetzt aus dem Ballsaal unten.

Auf den Ball zu gehen, war ein Fehler gewesen, hatte es Madeline doch nur niedergeschlagen gemacht. Sie war besser fernab von dem Trubel aufgehoben, wo sie sich einreden konnte, dass sie nicht bemerkte, wie die besten Jahre ihres Lebens ereignislos verstrichen.

Dabei wollte sie nie wie die flatterhaften jungen Damen mit ihren modischen teuren Kleidern und den raffinierten Frisuren sein.

Wäre sie indes eine von ihnen, sähe Haviland sie vielleicht in einem anderen Licht. Könnte sie sich solche Kleider erlauben und eine Zofe, die ihr das Haar aufsteckte …

Hör sofort auf damit, schalt Madeline sich verärgert. Es war unsinnig, ihre Umstände zu bejammern.

So unsinnig wie die Sehnsucht nach eigenen Kindern, die eine Kinderstube wie diese füllten, denn sie würde einzig aus Liebe heiraten, und dass sie einen Mann fand, den sie liebte und von dem sie geliebt wurde, war in ihrem Alter und ihrer Situation höchst unwahrscheinlich.

»Ich weiß, Maman, wenn Wünsche Pferde wären, könnten Träumer reiten. Und ich bin auch ohne Pferd zufrieden.«

»Hier verstecken Sie sich also.«

Madeline erschrak, als sie Havilands tiefe Stimme hörte, sprang auf und drehte sich zu ihm. Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem.

Er hatte eine kleine Lampe bei sich, deren goldener Schein die weiße Krawatte im Kontrast zu seinem gebräunten Teint und den schwarzen Haaren zum Leuchten brachte.

Zunächst blickte er sich im Raum um, ehe seine blauen Augen auf ihr verharrten und er weiter hereinkam. »Haben Sie mit jemandem gesprochen?«

Sie wurde rot. Auf keinen Fall würde sie ihm gestehen, dass sie oft mit ihrer verstorbenen Mutter sprach. »Bisweilen spreche ich meine Gedanken laut aus«, murmelte sie.

Ihm schien die Erklärung zu genügen. Er stellte seine Lampe zu ihrer Kerze auf den Tisch und kam zu ihr.

»Sie enttäuschen mich, Miss Ellis. Ich gab Ihnen explizit den Auftrag, mich vor der Horde von Debütantinnen zu retten, aber Sie überließen mich ihnen wehrlos.«

Sein Tonfall war unbeschwert, beinahe neckend, doch Madeline konnte nichts erwidern. In seiner Nähe setzte ihr Verstand aus.

»Sie schienen keiner Rettung zu bedürfen«, brachte sie schließlich heraus.

»Oh, der bedurfte ich sehr wohl.« Er neigte den Kopf zu den Pulten. »Die Kinderstube? Welch eine interessante Wahl für ein Versteck.«

Seine Bemerkung machte sie verlegen. »Ich verstecke mich nicht.«

»Nein? Warum sind Sie dann hier? Weil Sie nicht nach der neuesten Mode gewandet sind?« Er musterte ihr lavendelblaues Kleid. »Ich würde sagen, Sie sind vollkommen adäquat gekleidet.«

Madeline hatte immer noch Mühe zu atmen, zwang sich aber, nicht dumm und schweigend dazustehen. »Wie ich Ihnen bereits sagte, kann ich Bällen im Allgemeinen nicht viel abgewinnen.«

»Ich auch nicht. Mir missfallen die Fallstricke und Anmaßungen der Gesellschaft überhaupt. So viel eitles Vergnügen erscheint mir nach Jahrzehnten kriegerischer Konflikte auf dem ganzen Kontinent frivol. Mich erstaunte stets, wie wenig die feinen Kreise das blutige Gemetzel zu rühren schien, von dem sie lediglich ein schmaler Kanal trennte.«

Starkes Mitgefühl regte sich in Madeline, als sie daran dachte, wie viel Krieg und Tod Haviland gesehen haben musste. »Ja, das ist wahr. Und ich bin es gewöhnt, tätig zu sein, nicht eitlem Vergnügen zu frönen.«

»Genau wie ich. Doch Sie sind keine Bedienstete in diesem Hause, Miss Ellis. Sie sind ein Gast und als solcher haben Sie das Recht, sich heute Abend zu amüsieren.«

»Ich weiß.«

Stumm musterte er sie, als suchte er nach etwas, das ihre Züge ihm verraten könnten.

Je länger die Stille andauerte, umso unbehaglicher wurde Madeline.

»Warum sind Sie hier, Mylord? Sollten Sie nicht Ihrer zukünftigen Braut den Hof machen?«

Er zögerte, dann schmunzelte er betont unglücklich. »Müssen Sie mich daran erinnern?«

»Sie sind derjenige, der sagte, dass Sie diesen Abend zur Suche nach einer geeigneten Kandidatin nutzen wollten.«

»Ich dachte, ich hätte eine kleine Pause verdient. Aber Sie verschwanden, ehe ich Sie zu einem Walzer bitten konnte.«

Sie staunte. »Sie wünschten, mit mir Walzer zu tanzen? «

»Was überrascht Sie daran? Sie wären eine weit anregendere Partnerin als jede der anderen Damen, mit denen ich heute Abend tanzte.«

Madeline sah ihn verärgert an. »Ich tanze keinen Walzer, Mylord.«

»Ach nein? Warum nicht?«

»Ich habe es nie gelernt.«

»Ein unverzeihliches Versäumnis.«

Womit er einen empfindlichen Punkt traf. »Zweifellos, nur wann hätte ich Gelegenheit gehabt, Walzer zu lernen?«, fragte sie. »Ich war schon als Gesellschafterin beschäftigt, als der Tanz vor zwei Jahren vom Kontinent zu uns kam, und nicht in der Situation, mir einen Tanzlehrer zu nehmen.«

Madeline bemerkte, dass sie übertrieben spitz wurde, und fügte mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: »Außerdem hielt Lady Talwin den Walzer für eine vulgäre Zurschaustellung von Hedonismus.«

Haviland neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. »Sie könnten auch Whist spielen. Unten sind zwei Kartensalons für diejenigen, die nicht gern tanzen.«

»Nein, das wäre nicht klug. Beim Whist steche ich jeden aus.«

Er lächelte. »Ach, wirklich?«

»Ich prahle nicht. Lady Talwin und ich spielten oft um imaginäre Pennys, und sie verabscheute es, wenn ich nicht mein Bestes gab. Hier würde ich zweifelsohne gewinnen, und ich möchte Lady Danvers‘ Gäste nicht um ihre Spieleinsätze bringen. Es wäre keine Art, mich für ihre Freundlichkeit zu bedanken.«

»Nein, wohl nicht«, stimmte er ihr zu. »Nun gut. Da Sie nicht Karten spielen wollen, erlauben Sie mir, Ihnen den Walzer beizubringen.«

»Hier?«, fragte sie entsetzt.

»Was wäre geeigneter? Hören Sie, wir haben sogar Musik.«

Tatsächlich drangen Walzerklänge durchs halboffene Fenster herein, wie Madeline feststellte.

»Kommen Sie«, murmelte Haviland. »Lassen Sie es sich von mir zeigen.«

Ihr Herz vollführte einen Sprung, als er einen Schritt näher kam, und sie versteifte sich, sowie er ihre Hände ergriff.

Sie hatte keine Angst vor ihm, beteuerte Madeline im Geiste, während er ihre rechte Hand auf seine Schulter legte und ihre linke mit seiner viel größeren umfasste. Nein, sie fürchtete sich davor, was mit ihr geschah, wenn er sie berührte.

Die überwältigende Wirkung, die Haviland auf sie ausübte, ängstigte sie. Kaum berührte er sie, konnte sie nicht mehr denken.

Zu ihrer Verwunderung machte er keine Anstalten, ihr die richtigen Tanzschritte beizubringen. Stattdessen hielt er sie einfach in seiner leichten Umarmung und sah sie an.

Madeline wartete, vollkommen erstarrt, während ihr Herz wild pochte. Ihr war, als würde sie in seinen saphirblauen Augen ertrinken. Seine bloße Präsenz überwältigte ihre Sinne, und seine Wärme hüllte sie buchstäblich ein.

Ihr Blick fiel auf seinen Mund, diesen festen, sinnlichen Mund, der ihr gestern Abend solche Wonnen bereitet hatte … Gütiger Himmel, war es erst gestern gewesen, dass Haviland sie küsste?

Eine heftige Sehnsucht überkam sie, der dringliche Wunsch, er möge abermals ihre Lippen auf jene betörende Weise einnehmen.

»Nein«, hauchte sie. »Ich kann nicht …«

Im verzweifelten Bemühen, die Kontrolle wiederzuerlangen, löste sie sich aus seiner Umarmung. »Ich möchte weder den Walzer noch irgendeinen anderen Tanz lernen, Mylord.«

Er hatte sie prompt freigegeben, und so war der Zauber gebrochen, mit dem er sie belegt hatte. Als Madeline jedoch zurückwich, bedachte sie nicht, dass der Fenstersitz unmittelbar hinter ihr war. Ihre Kniekehlen stießen gegen die Holzkante der Fensterbank, worauf ihre Beine unter ihr einknickten und sie hilflos auf das Kissen hinuntersank.

Der Schreck fuhr ihr durch den ganzen Körper – wenn auch nicht so sehr wie Havilands Blick, der auf ihr ruhte.

Wenigstens klang ihre Stimme gefasst, als sie sagte: »Wie es der Zufall will, bin ich froh, Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ihnen zu haben, Lord Haviland. Ich wollte sie nach Freddie Lunsfords Briefen fragen.«

Eine Weile lang sah er sie schweigend an, dann setzte er sich neben sie auf die Fensterbank. »Ja, das dachte ich mir.«

Madeline widerstand dem Impuls, aufzuspringen und aus dem Zimmer zu fliehen. Solch ein Schwächling war sie nicht!

»Bitte, fahren Sie fort, Miss Ellis. Ich bin ganz Ohr.« Sein Tonfall war unmissverständlich ironisch, denn er war keineswegs gewillt, sie anzuhören.

Madeline sagte trotzdem, was sie zu sagen hatte. »Ich möchte meine Hilfe bei der Wiederbeschaffung der Briefe anbieten. Hat Mr Lunsford meinen Vorschlag Ihnen gegenüber erwähnt?«

»Leider ja«, antwortete Haviland trocken.

»Also erlauben Sie mir, Sie zu Mrs Sauvilles Soiree am Dienstagabend zu begleiten?«

»Verraten Sie mir, wie genau Ihre Hilfe aussehen soll?«

»Es dürfte recht offensichtlich sein. Als Frau falle ich weniger auf, wenn ich durch das Haus einer Witwe und in ihr Schlafgemach schleiche.«

»Mag sein, aber ich möchte Sie aus der Angelegenheit heraushalten.«

»Warum?«

»Zum einen, weil Sie, wenn man Sie ertappt, wegen Diebstahls angezeigt und im Gefängnis enden könnten. «

Er versuchte, ihr Angst einzuflößen. Und gewiss ließe Haviland niemals zu, dass man sie ins Gefängnis sperrte. »Dann werde ich mir Mühe geben müssen, nicht ertappt zu werden. Und selbst falls doch, wären Sie dort, um einzuschreiten.«

»Sie könnten später von einem der Gäste wiedererkannt werden, haben Sie das bedacht? Es könnte bedeuten, dass Sie Ihre Stellung an der Akademie verlieren.«

Daran hatte sie nicht gedacht. Lehrerinnen mussten sich tadellos verhalten, und Madeline sollte ganz besonders vorsichtig sein, war sie doch vorerst nur auf Probe eingestellt. Andererseits hatte Lady Danvers ihr aufgetragen, neue Unterrichtsmethoden auszuprobieren, die das Interesse ihrer Schülerinnen fesselten.

»Ich hätte einen legitimen Grund, zu der Soiree zu gehen«, überlegte sie laut. »Einen, den Lady Danvers fraglos befürworten würde. Mr Lunsford sagte, dass bei Madame Sauvilles Salons viele ihrer Landsleute anwesend wären. Folglich kann ich behaupten, dass ich sie treffen möchte, um mich für meinen Unterricht über Frankreich und die französischen Moden zu informieren – wie Arabella wünschte.«

Für einen Moment schien Haviland sprachlos. Für einen sehr kurzen Moment. »Ja, das könnten Sie behaupten, nur tut es nichts zur Sache.«

»Also wollen Sie allein hingehen?«, fragte sie skeptisch.

»Das ist mein gegenwärtiger Plan.«

»Waren Sie schon einmal auf einer von Mrs Sauvilles Soireen? Dürfte sie nicht misstrauisch werden, wenn Sie plötzlich dort erscheinen, ausgerechnet jetzt, da sie Ihren Cousin erpresst?«

»Sie muss nicht notwendig von unserer familiären Beziehung wissen.«

»Und wenn sie es doch tut? Sie wollen gewiss nicht erreichen, dass sie Verdacht schöpft und die Briefe in ein neues Versteck schafft.«

»Die Zeit lasse ich ihr nicht.« Als Madeline widersprechen wollte, hob Haviland eine Hand und drückte sacht seine Finger auf ihre Lippen. »Vertrauen Sie mir, ich regle die Angelegenheit mit Mrs Sauville. Und sollte ich der Ansicht sein, Hilfe zu benötigen, kann ich auf Bekannte zurückgreifen, die in derlei geschult sind.«

Sie wich zurück. Zwar wusste sie, dass er sie mit seiner intimen Geste einschüchtern wollte, doch sie wollte lieber nicht riskieren, überhaupt von ihm berührt zu werden.

»Daran zweifle ich nicht«, entgegnete Madeline. »Wahrscheinlich kennen Sie aus Ihrer früheren Tätigkeit eine Menge Leute, die vorzugsweise im Schatten agieren.«

»Stimmt.«

»Dennoch wäre meine Anwesenheit ein geeigneter Vorwand für Sie, dort zu sein, den Mrs Sauville bereitwillig akzeptieren würde. Daher ist mir nicht begreiflich, weshalb Sie meine Hilfe ablehnen.«

»Weil ich Sie auf keinen Fall in Gefahr bringen will. Ihr Vater würde mir dafür den Kopf abschlagen, lebte er noch.«

»Mein Vater hat nichts mit all dem zu tun.«

»Er würde wollen, dass ich Sie beschütze.«

Trotzig reckte Madeline ihr Kinn. »Ich schätze es nicht, wenn man mich wie eine zerbrechliche, hilflose Dame behandelt, Lord Haviland. Ich bin nicht aus Porzellan.«

»Was ich auch niemals annehmen würde.«

Mit einem empörten kleinen Schnauben verschränkte sie die Arme vor der Brust, was leider zur Folge hatte, dass Haviland sofort auf ihren Busen blickte.

Dort verharrte sein Blick für ein oder zwei Herzschläge, ehe er zu ihrem Gesicht zurückkehrte. »Warum bestehen Sie darauf, mich zu begleiten?«

Zunächst schwieg Madeline, denn sie wollte ihm nicht gestehen, wie dringend sie sich seine Anerkennung wünschte. Es war erniedrigend, dass er sich stets um sie kümmerte, deshalb wollte sie zur Abwechslung einmal ihm helfen.

»Weil ich nicht gern etwas schuldig bleibe. Sie haben mir großzügig zu meiner Anstellung bei Lady Danvers verholfen; nun möchte ich mich erkenntlich zeigen.«

»Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, indem Sie sich aus der Angelegenheit heraushalten.« Er hielt eine Hand in die Höhe, als sie etwas erwidern wollte. »Genug von Freddies Briefen, meine Liebe. Ich habe etwas anderes, das ich mit Ihnen besprechen möchte.«

Es ärgerte Madeline, dass er ihr nicht einmal zuhören wollte. So leicht gab sie nicht auf, auch wenn sie es gegenwärtig für angeraten hielt, Haviland seinen Willen zu lassen. »Nun gut, was möchten Sie besprechen? «

»Ich möchte Sie um Ihre Hand bitten.«

Madeline starrte ihn verständnislos an. Zweifellos hatte sie sich verhört.

»Würden Sie mir die Ehre erweisen, mich zu heiraten, Miss Ellis?«, fragte Haviland direkter.

Mindestens ein Dutzend wirrer Gedanken gingen Madeline durch den Kopf, während sie zugleich ein wahrer Gefühlsaufruhr ergriff – Unglaube, Verwirrung, Freude, Misstrauen …

»Treiben Sie Scherze mit mir, Lord Haviland?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Sie können unmöglich im Ernst reden«, sagte sie, und unwillkürlich erhob sie die Stimme. »Sie wollen mich heiraten?«

»Ich versichere Ihnen, dass ich es vollkommen ernst meine, Madeline. Ich hätte Sie gern zu meiner Gemahlin und Countess.«

Er scherzte nicht, stellte Madeline sprachlos vor Staunen fest, auch wenn sie minder überrascht hätte, wäre ihr der Mond auf einem Silbertablett offeriert worden.

Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, weil sie nichts zu sagen hatte. Zudem war ihr, als hätte sie gar keinen Atem mehr.

»Bitte, zügeln Sie Ihren Enthusiasmus«, bemerkte Haviland trocken.

Unsicher sah Madeline ihn an. Träumte sie? Vor wenigen Minuten erst hatte sie beklagt, dass Haviland sie niemals auch bloß näher ansehen würde, und nun trug er ihr die Ehe an?

Sie schluckte. »Sie müssen zugeben, dass Ihr Antrag äußerst unerwartet kommt«, brachte sie endlich heraus.

»Ganz und gar nicht. Ich bin auf der Suche nach einer wohlerzogenen Gemahlin, die mir einen Erben schenkt. Sie brauchen jemanden, der Sie ernährt und beschützt. Mit einer Heirat würden wir quasi zwei Fliegen auf einen Streich schlagen.«

Das also war der Grund! Sie hätte wissen müssen, dass sein verblüffender Antrag nicht etwa einer wachsenden Zuneigung zu ihr entsprang.

»Ich halte nichts vom Fliegenerschlagen«, erwiderte Madeline. »Warum sollte jemand harmlose Kreaturen töten wollen?«

Er lachte. »Sie wissen, dass es sich lediglich um eine Redewendung handelt. Und Sie weichen meiner Frage aus. Wollen Sie mich heiraten, Madeline?«

Sie wich seiner Frage auch weiterhin aus, indem sie eine andere stellte. »Warum in aller Welt machen Sie mir einen Antrag? Sie haben die freie Wahl zwischen der halben weiblichen Bevölkerung Englands.«

»Ich möchte nicht die halbe weibliche Bevölkerung sondern Sie.«

»Warum?«

»Weil Sie über viele der Vorzüge verfügen, die ich mir bei einer Gemahlin wünsche.«

»Nennen Sie mir einen.«

»Ich kann Ihnen gleich mehrere aufzählen, angefangen damit, dass mir Ihre Gegenwart behagt.«

Die Freude, die Madeline für einen kurzen Moment empfunden hatte, schwand sogleich. »Behaglichkeit ist eine dürftige Grundlage für die Ehe.«

»Aber sie ist ein guter Anfang. Und ich kann nicht behaupten, ähnlich bei einer der jungen Damen empfunden zu haben, die ich bisher kennenlernte. Zudem bemühen Sie sich nicht, mir zu schmeicheln oder mich zu beeindrucken. Glauben Sie mir, gerade das finde ich höchst erfrischend.«

Glücklicherweise hatte Madeline ihren ersten Schock überwunden, und je mehr Haviland seine Motive erklärte, umso weniger war sie geneigt, seinen Antrag anzunehmen.

»Ich glaube nicht, dass Sie von meinen Qualitäten angetan sind«, sagte sie. »Sie wollen mich lediglich heiraten, weil Sie sich meinem Vater verpflichtet fühlen. Aber Sie haben Ihre Schuld, sofern es überhaupt eine gab, längst beglichen, indem Sie mir halfen, eine Stellung zu bekommen.«

Haviland zögerte. »Es ist wahr, dass ich mich Ihrem Vater nach wie vor verpflichtet fühle. Er rettete mein Leben, und diese Schuld werde ich niemals begleichen können. Doch würde ich eine solche Verpflichtung allein nicht zum Grund für eine Entscheidung dieser Tragweite nehmen.«

»Nun, ich möchte niemanden heiraten, der mich aus einem fehlgeleiteten Schuldgefühl heraus ehelichen möchte.«

»Sie sollten einen Antrag nicht aus einem fehlgeleiteten Stolz heraus ablehnen.«

Madeline biss sich auf die Unterlippe. »Ich bezweifle, dass mein Stolz fehlgeleitet ist«, sagte sie trotzig. »Sie betrachten mich als ein Objekt, das Ihrer Wohltätigkeit bedarf.«

»Nein, Sie deuten meine Absichten willentlich falsch.«

»Ich denke, dass ich Ihre Beweggründe sehr wohl verstehe. Sie wünschen, mich zur Zuchtstute zu nehmen. «

Sein Schreck ob ihrer Direktheit wich einem Ausdruck von Verärgerung. »Sie wären meine Countess, Madeline, und die Mutter meiner Kinder. Und Sie würden alle Privilegien und Vorteile genießen, die der Titel mit sich bringt.«

Wäre es nicht dumm von ihr, den Earl of Haviland abzuweisen? Es war allerdings ihr erster Heiratsantrag, der noch dazu von dem Mann ihrer Träume vorgebracht wurde. Warum in aller Welt nahm sie nicht voller Begeisterung an?

Weil er mit keinem Wort von Liebe gesprochen hat, beantwortete sie ihre stumme Frage. Er hatte gesagt, dass er einen Erben wolle, und seinen Antrag so leidenschaftslos und nüchtern vorgebracht, dass ihr weiblicher Stolz tatsächlich gekränkt war.

Andererseits könnte Haviland ihr die Kinder schenken, nach denen sie sich sehnte. Durfte sie ein solch verlockendes Angebot ausschlagen? Vor wenigen Tagen noch wäre sie allein angesichts der Chance, Kinder zu bekommen, in Ekstase geraten. Doch aus unerfindlichen Gründen wollte sie nun mehr als eine lieblose Verbindung, die einzig der Fortpflanzung diente.

Bin ich von Sinnen, mehr zu wollen, Maman?

Vielleicht sollte sie Haviland nicht vorschnell zurückweisen. Sie könnte sich Bedenkzeit erbitten …

Madeline schüttelte den Kopf, um die unangebrachten Gedanken zu vertreiben. »Ich habe nie einen Titel begehrt, Lord Haviland. Und ich brauche kein Leben voller Müßiggang. Vielmehr würde ich es wohl verabscheuen, bin ich es doch gewöhnt, für meinen Unterhalt zu arbeiten.«

»Wie ich ebenfalls. Was ein weiterer Grund ist, weshalb ich denke, dass wir zueinanderpassen.«

»Dennoch gibt es zahlreiche Gründe, die gegen eine Verbindung sprechen. Womöglich würden wir uns häufig streiten.«

»Die Sorge habe ich nicht. Manche Männer wünschen sich eine pflichtbewusste und gehorsame Gemahlin, aber ich gehöre nicht zu ihnen.« Er lächelte. »Stellen Sie es sich als einen Tausch vor. Sie schenken mir Kinder im Austausch gegen finanzielle Sicherheit. «

Madeline war sicher, dass ihr Unglück ihr ins Gesicht geschrieben stand. »Das ist fürwahr eine kühle Betrachtungsweise.«

Haviland zuckte mit den Schultern. »Wir würden schlicht eine Vernunftehe eingehen, wie es andere auch fortwährend tun.«

»In Ihrer Familie, mag sein, nicht aber in meiner.« Ohne ihm Zeit zu geben, etwas zu erwidern, fuhr sie fort: »Sie haben die freie Auswahl unter vielen Damen, die Ihnen mit Freuden einen Erben schenken, Mylord. Und Sie hatten sich sogar schon für eine entschieden, wie ich hörte. Freddie Lunsford erzählte mir, dass Sie im letzten Sommer Roslyn Loring heiraten wollten.«

»Freddie hat ein loses Mundwerk«, sagte Haviland und verzog das Gesicht.

»Stimmt, doch er sagte nur, dass Sie ihr den Hof machten und das Gerücht ging, Sie hätten ihr einen Antrag gemacht. Haben Sie?«

»Ja.«

»Und sie lehnte ab? Warum?«

»Weil wir uns nicht liebten. Und, nicht zu vergessen, sie war sehr in Arden verliebt.« Haviland sah sie prüfend an. »Was einer Ihrer Vorzüge gegenüber Roslyn Loring ist, denn Sie sind nicht in einen anderen Herrn verliebt, oder irre ich?«

Sein Tonfall war überraschend schroff, beinahe fordernd, und Madeline erschrak. »Nein, bin ich nicht.«

»Dann sehe ich nichts, was unserer Heirat im Wege stünde.«

Sie wandte die Augen gen Zimmerdecke. »Was ihr sehr wohl im Wege steht, Mylord, ist, dass ich nicht gewillt bin, eine lieblose Ehe einzugehen.«

Als er stumm blieb, sah sie ihn an. »Ich glaube nach wie vor nicht, dass Sie ehrlich den Wunsch hegen, mich zu heiraten. Falls Ihr Antrag nicht aus Wohltätigkeit erfolgt, würde ich meinen, dass Sie impulsiv handeln.«

»Impulsiv insofern, als ich meinem Gefühl folge, und meine Gefühle haben mir über viele Jahre gute Dienste geleistet.«

»In dieser Angelegenheit tun sie es nicht. Gestehen Sie, Mylord, Sie wollen mich nicht heiraten.«

Seine Mundwinkel bogen sich zu einem Schmunzeln. »Ich gestehe, dass Sie mir eine übergroße Freundlichkeit erweisen würden, indem Sie meinen Antrag annehmen. Ich könnte meine Brautsuche aufgeben und müsste mich nie mehr eifrigen Debütantinnen aussetzen.«

Madeline lachte, wenn auch nicht amüsiert. »Ah, nun kommen wir zum Kern der Sache.«

»Ich scherzte.«

»Ich nicht.«

»Verraten Sie mir, warum Sie mich nicht zu heiraten wünschen.«

Madeline erschauderte. Es war nicht an dem, dass sie Haviland nicht heiraten wollte. Ganz im Gegenteil. Er bot ihr eine Zukunft, wie Madeline sie sich bestenfalls in ihren Träumen ausmalen könnte. Doch ginge sie ein großes Risiko ein, nähme sie seinen Antrag an. Eine solch ungleiche Verbindung – eine unscheinbare, arme Jungfer, die einen gut aussehenden, charismatischen Lord heiratete, der keine Liebe wollte – dürfte zwangsläufig zu Unglück und Herzschmerz ihrerseits führen.

Sie war schon jetzt viel zu sehr in Haviland verliebt. Nie war sie einem Mann begegnet, der ihre Leidenschaft und Fantasie befeuerte wie er. Falls sie sich auf dieser Welt einen Ehemann auswählen dürfte, würde sie zweifellos sofort ihn wählen.

Und das war das Problem. Sie war viel zu sehr geneigt, sich unsterblich in ihn zu verlieben, und wie könnte sie damit leben, dass ihre Gefühle nicht erwidert wurden?

Haviland musste ihr Erschaudern bemerkt haben, denn er schloss das Fenster hinter ihr. Aber die Kälte, die sie bis in ihr Innerstes durchfuhr, hatte nichts mit der kühlen Nachtluft zu tun.

Als sie schließlich sprach, bemühte sie sich, möglichst unbekümmert zu klingen. »Ich bin idealistisch genug, um mir Liebe in meiner Ehe zu wünschen.«

Auf einmal wurde seine Miene rätselhaft und verschlossen. »Meiner Erfahrung nach wird Liebe zu viel Bedeutung beigemessen.«

Mithin hatte Madeline sich nicht getäuscht, was seine Empfindungen betraf. Offenbar hielt er nichts von solch verwirrenden Emotionen wie Liebe. Sie hingegen schon. Sehr viel sogar.

Nicht dass sie jemals erwartet hätte, eine wunderbare Liebe zu finden, wie ihre Eltern sie teilten. Und sie war bereit, dieses Manko stoisch zu ertragen. Sollte sie indes Haviland heiraten, würde sie sich jeder Hoffnung auf wahre Liebe berauben, und sie konnte ihre Träume einfach noch nicht zerstören.

Madeline hatte allerdings nicht die Absicht, ihm von ihren Sehnsüchten und Ängsten zu erzählen.

»Sie haben bisher keine meiner Unzulänglichkeiten erwähnt«, sagte sie stattdessen. »Ich bin viel zu unverblümt, um nur eine zu nennen.«

Auf diesen Einwand schien er vorbereitet. »Mit Offenheit kann ich umgehen. Ja, ich empfinde Ihre Direktheit sogar als ebenso erfrischend wie Ihre Ehrlichkeit. «

Sie hatte bei Haviland bisher keine Notwendigkeit gesehen, nicht auszusprechen, was sie dachte, weil sie sicher gewesen war, dass sie als Braut für ihn nicht infrage käme. Jetzt war sie allerdings sehr unsicher.

»Aber ich bin viel zu unscheinbar für jemanden wie Sie, Mylord. Wie der Umstand, dass Sie zuvor der Duchess of Arden einen Antrag machten, nur beweist. Sie sind ein Mann. Von Ihrer Ehefrau erwarten Sie, dass sie schön ist.«

»Nicht zwingend. Schönheit erregt allzu leicht Eifersucht und Zwietracht. Ich schätze Loyalität weit höher.«

Obgleich Madeline wusste, dass er es nicht verletzend gemeint hatte, fuhr sie innerlich zusammen. Den Blick abgewandt, murmelte sie: »Wenn Sie Treue wünschen, sollten Sie sich einen Hund kaufen.«

Er lachte nicht, lächelte nicht einmal, wie sie erwartet hätte. Stattdessen legte er einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu ihm. »Sie haben wenig Vertrauen in Ihre weiblichen Reize, habe ich recht?«

Es war schrecklich, dass er ihre Gedanken zu lesen schien! »Ich sehe keinen Anlass, mir Illusionen zu machen.«

Havilands Blick wurde weicher. »Sie mögen gemeinhin vielleicht nicht als überwältigende Schönheit gelten, Madeline, aber Sie sind keineswegs unscheinbar. Ein reger Verstand macht viele physische Unvollkommenheiten wett.«

So absurd es war, schmerzten seine aufmunternd gemeinten Worte. Und dabei sagte er die Wahrheit: Madeline war nie schön gewesen und würde es nie sein.

»Nun, wenn das keine Schmeichelei ist«, entgegnete sie mit einer Sorglosigkeit, die sie nicht empfand.

»Ich will Sie nicht beleidigen, indem ich Sie belüge. Vor allem da ich weiß, dass Sie Lügen ebenso wenig leiden können wie ich.«

Sie seufzte. »Es ist sinnlos, diese Unterhaltung fortzusetzen, Lord Haviland. Der Anstand gebietet, dass ich Ihnen für Ihr freundliches Angebot danke, aber ich muss ablehnen.«

Das machte ihn vorübergehend sprachlos. »Sie wollen nicht einmal darüber nachdenken?«

»Nein.« Sie würde sich nicht erlauben, Hoffnungen zu hegen, um grausam enttäuscht zu werden.

»Dennoch, ich möchte, dass Sie es überdenken. Sie müssen nicht hier und jetzt eine Entscheidung fällen. Mein Angebot bleibt bestehen.«

»Bis Sie eine andere Kandidatin finden, die Sie mehr verlockt, als ich es tue«, murmelte sie, und nun konnte sie die Verbitterung nicht zurückhalten.

Haviland sah sie mit einer seltsamen Intensität an. »Glauben Sie mir, Sie verlocken mich sehr.«

»Ach ja?« Ihr Tonfall war nicht bloß skeptisch, nein, er war geradezu sarkastisch.

»Ja, durchaus«, sagte er ruhig. »Sie übersehen anscheinend einen Ihrer größten Vorzüge.«

»Welcher da wäre?«

»Sie haben einen fantastischen Körper.«

Plötzlich schlug ihr Herz wie verrückt. »Wie können Sie das wissen?«

»Haben Sie vergessen, dass ich Sie in Ihrem Nachtkleid sah?«

»Mein Nachtkleid verhüllte mich viel zu sehr, als dass Sie etwas von meinem Körper hätten sehen können. «

»Lassen Sie es mich anders formulieren. Ich habe Sie in Ihrem Nachtkleid gefühlt

Madeline wusste nicht recht, ob sie es als Kompliment nehmen sollte, doch Haviland schien vollkommen ernst. »Mir wäre es lieber, man würde mich meines Verstandes wegen schätzen.«

Da war wieder das träge Lächeln, das sie stets bezauberte. »Ich schätze Ihren Verstand gleichfalls, glauben Sie mir.«

Sie malte sich indes nicht aus, er würde sie begehren. Entschlossen setzte Madeline sich gerader auf und widerstand dem verführerischen Lächeln.

»Ich erkenne das Problem, Lord Haviland«, erklärte sie. »Sie begreifen nicht, dass ich einen wohlhabenden, gut aussehenden Earl zurückweise, denn Sie sind es gewöhnt, dass die Damen vor Ihnen in Ohnmacht fallen. Ich neige nicht zu Ohnmachten.«

»Es würde mich sehr wundern, täten Sie es. Und Sie sollten mich bei meinem Taufnamen nennen … Rayne.«

Er ergriff ihre Hand, worauf Madeline wie versteinert war. »Eine solche Vertrautheit halte ich für unangebracht. «

»Ich nicht. Und im Allgemeinen bekomme ich, was ich will, süße Madeline.«

In seinen Augen war ein amüsiertes Funkeln und noch etwas anderes, das Madeline nicht erkannte. War das … Verlangen?

Nein, sie musste sich irren. Oder aber er drückte es absichtlich aus, um ihren Widerstand zu brechen. Falls dem so war, musste sie ihm zugestehen, dass es seine Wirkung nicht verfehlte.

Erst recht nicht, als er ihre Hand an seine Lippen hob und sie durch den Handschuh hindurch küsste.

»Ich halte Sie für eine einzigartige Frau«, raunte er, »und ich begehre Sie sehr.«

Madeline wollte liebend gern ihre Hand zurückziehen, brachte aber leider nicht die Kraft dazu auf. Mit der kleinsten Berührung raubte er ihr ihren Willen. Und als er einen Arm um ihre Schultern legte, raste ihr Puls.

»Sie begehren mich nicht, Lord Haviland«, widersprach sie ihm. »Sie wollen mich lediglich bewegen, Ihren Antrag anzunehmen.«

»Selbstverständlich will ich«, gestand er freimütig, ließ ihre Hand los und strich sanft über ihre Wange. »Was das Begehren angeht, werde ich Sie davon eben noch überzeugen müssen.«

Sie wollte zurückweichen, doch hinter ihr war das Fenster. Und Haviland neigte bereits seinen Kopf, bis sein Mund über ihrem war und ihre Lippen von seinem Atem heiß wurden. Als sie die Luft anhielt, nutzte Haviland den Moment, um sie zu küssen.

Madeline erbebte unter der warmen, verlockenden Reibung seiner Lippen, dem langsamen Streicheln seiner Zunge, die mit ihrer spielte und ihr Verlangen entfachte.

Sein berauschender Mund erregte sie, wie Haviland beabsichtigt hatte. Erschrocken ob seines Erfolgs, unternahm Madeline einen letzten Versuch, sich zu sträuben, indem sie eine Hand gegen seine Brust presste. Dort fühlte sie die festen Muskeln unter den Stoffschichten.

Tatsächlich gab Haviland sie frei und hob seinen Kopf.

»M-mich zu küssen«, stammelte sie, »beweist lediglich, dass Sie ein Talent besitzen, Damen zu betören.«

»Betöre ich Sie, meine Liebe?«

»Sie wissen, dass Sie … scheren Sie sich fort!«

»Aber ich habe kaum angefangen.«

»Lord Haviland … Sie können mich nicht verführen …«

»Ich kann, meine Liebe.« Seine Hand wanderte in ihren Nacken, wo er die Finger auf der empfindlichen Haut spreizte. »Und nun seien Sie still und lassen Sie mich Sie richtig küssen.«

Diesmal nahmen seine Lippen ihre fordernder ein. Madeline vergaß zu atmen, als sie von einer Hitzewelle durchströmt wurde.

Der berauschende Kuss dauerte eine Ewigkeit an, und in ihrer Benommenheit nahm Madeline nur vage wahr, wie sich Havilands Arme um sie legten. Unwillkürlich klammerte sie sich an ihn, hielt sich an seinen starken Schultern fest.

Sie bemerkte gar nicht, dass er die Haken hinten an ihrem Kleid löste, bis er ihr einen letzten, herzerweichenden Kuss gab und den Kopf hob.

»Ach, meine süße Madeline, wie können Sie an Ihren Vorzügen zweifeln?«

Benommen und atemlos blickte sie zu ihm auf.

»Sie haben solch liebreizende Augen«, murmelte er mit rauer Stimme.

Seine eigenen waren eine Nuance dunkler vor Leidenschaft, wie Madeline auffiel.

»Und solch sinnliche Lippen …«

Er beugte sich vor und knabberte zärtlich an ihnen.

»Und Ihre Brüste …«

Der lavendelblaue Crepe glitt über ihre Schultern nach unten, so dass ihr Hemdchen sichtbar wurde. Ehe Madeline protestieren konnte, hatte er schon Korsett und Hemd aufgewunden, so dass die Wölbungen ihres Busens entblößt waren.

Ihre Haut brannte buchstäblich, wo sein erhitzter Blick sie traf.

»Ihre Brüste sind göttlich«, flüsterte er.

Sie fühlte seine Finger, die ihren Hals hinab zu einer der vollen Rundungen wanderten, und ein beschämendes Kribbeln regte sich in ihr, sobald sie begriff, was er tat.

Dann umfing er kühn eine Brust mit der Hand, besitzergreifend und schockierend intim. Madeline stieß einen stummen Schrei aus, weil ihr die Berührung bis in den Schoß fuhr. Sein Daumen umkreiste die Brustknospe, die sich kitzelnd aufrichtete. Im nächsten Moment war sein Mund auf Madelines Brust und fing die rosige Spitze ein.

Madeline seufzte hilflos und bog sich ihm entgegen, als er sie mit der Zunge streichelte und neckte. Er schien gleichsam Funken in ihr zu entzünden, und das nicht nur an ihrem Busen.

Nach einer kurzen Weile ließ er von der einen Brust ab und widmete sich der anderen, die er zunächst mit heißen Küssen bedeckte, bevor er auch hier die Knospe mit seinen Lippen umschloss. Abwechselnd rieb und streichelte er sie mit seiner Zunge.

Die zarte, schamlose Verführung seines erotischen Mundes machte Madeline erschauern vor Verlangen. Sie wehrte sich nicht mehr gegen das, was er in ihr auslöste. Vielmehr gab sie sich ganz dem Entzücken hin, von ihm liebkost zu werden, tauchte die Hände in sein Haar und drückte ihn fester auf ihren Busen, während sie vergebens bemüht war, die Sehnsucht zu bändigen, die in ihrem Innern anschwoll …

Plötzlich hielt Haviland inne, seinen Mund noch an ihrer Brust. Dann wich er zurück.

»Heiliger«, murmelte er. »Was zum Teufel tue ich hier?«

Er richtete sich wieder auf und starrte sie an, als würde er jetzt erst gewahr, dass er Madeline halb entkleidet hatte. Madeline zitterte allerdings so sehr, dass er sie weiter mit einem Arm stützen musste.

Ihre fiebrigen Sinne verstanden gar nicht gleich, dass seine verwegenen Aufmerksamkeiten geendet hatten, auch wenn sie mühelos begriff, was für einen Anblick sie bot: beinahe liegend auf dem Fenstersitz und mit entblößtem Busen, der unter ihren heftigen Atemzügen wogte.

Madeline wurde feuerrot, noch bevor er mehr zu sich selbst ergänzte: »Ich ließ mich von Ihrem Zauber hinreißen.«

Es klang reumütig, als würde er ehrlich bedauern, an sich halten zu müssen. »Ich sollte besser aufhören, ehe ich vergesse, dass ich ein Gentleman bin, und Sie hier und jetzt verführe.«

Die maßlose Enttäuschung, die Madeline überkam, machte sie wütend auf sich selbst.

Zitternd setzte sie sich auf und zog ihr Korsett nach oben. Sobald ihre Brüste bedeckt waren, zurrte sie ihr Kleid über die Schultern und richtete es. Doch als sie aufstehen wollte, legte Haviland eine Hand auf ihren Arm.

»Erlauben Sie mir, Ihnen mit dem Kleid zu helfen.«

Da er die Haken auf ihrem Rücken leichter erreichte als sie, wartete Madeline brav, aber ungeduldig, bis er das Kleid wieder geschlossen hatte. In dem Moment jedoch, in dem er den letzten Haken festgezogen hatte, sprang sie förmlich auf und lief ein paar Schritte weg von ihm, um Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Immer noch atemlos, stand sie in der Mitte des Zimmers und versuchte, die Fassung wiederzufinden.

Zum Glück folgte Haviland ihr nicht. Er blieb auf dem Fenstersitz.

Nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte, drehte Madeline sich zu ihm um und sah, dass er den Verschluss vorn an seiner Kniebundhose richtete. Er straffte den Satin über der Wölbung seiner Lenden und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

»Falls Sie an Ihrer Wirkung auf mich zweifelten, meine Liebe, haben Sie hier den Beweis«, sagte er lächelnd.

Sie wurde abermals sehr rot. Ja, sie hatte ihn eindeutig erregt.

»Also, sind Sie nun bereit, meinen Antrag anzunehmen? «, fragte er beiläufig.

Scherzte er? Madeline sah ihn ungläubig an. Erwartete er allen Ernstes, dass sie ihm so leicht erlag? Haviland hatte geglaubt, er könnte sie dazu verführen, ihn zu heiraten, indem er ihre Schwäche für ihn ausnutzte. Aber so einfältig war sie nicht!

»Sie sollten lieber zum Ball zurückkehren, Mylord, sonst fällt Ihre Abwesenheit auf«, sagte sie streng.

»Mein Name ist Rayne.«

»Rayne, dann eben. Gehen Sie bitte?«

»Ja, unter einer Bedingung.«

»Welche Bedingung?«

»Dass Sie mir versprechen, zumindest über meinen Antrag nachzudenken.«

Ihr Trotz wurde wach. Haviland war fürwahr ein Meister der Manipulation und entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Vermutlich würde er nicht aufhören, sie zu verführen, bis er gewonnen hatte … es sei denn, sie täuschte vor, ihm nachzugeben.

Ohne sich ihren Ärger anmerken zu lassen, reckte Madeline das Kinn und sah ihn an. »Ich wäre wohl gewillt, über Ihren Antrag nachzudenken. Zumindest lehne ich nicht gleich ab. Allerdings hätte ich ebenfalls eine Bedingung. Sie nehmen mich mit zu Mrs Sauvilles Soiree am Dienstagabend und lassen mich Ihnen helfen, die Briefe zu beschaffen.«

Haviland beäugte sie kritisch. »Freddie hatte Recht. Sie sind eine sehr unabhängige Frau.«

»Was ich nie leugnete«, entgegnete sie süßlich.

Er schmunzelte. »Und Sie haben überdies viel mit Ihrem Vater gemein, Madeline. Sie verhandeln hart.«

Da er offenbar nach wie vor nicht zustimmen wollte, fasste Madeline ihre jeweiligen Bedingungen zusammen. »Sie nehmen mich am Dienstagabend mit und geben mir eine Rolle, die ich spielen kann. Wer weiß, vielleicht erweise ich mich als taugliche Komplizin. Und sei es, dass ich Mrs Sauville ablenke, während Sie ihre Gemächer nach den Briefen durchsuchen. Im Gegenzug werde ich über Ihren Heiratsantrag nachdenken.«

»Nun gut«, antwortete er schließlich.

»Sind wir uns einig?«

»Ja.« Haviland stand auf und kam auf sie zu. »Aber ich möchte es mit einem Kuss besiegeln.«

»Nein!«, rief Madeline aus, hielt beide Hände in die Höhe und wich zurück. »Auf keinen Fall.« Sie durfte nicht zulassen, dass er sie nochmals berührte.

»Lord Haviland, würden Sie bitte gehen?«, wiederholte sie fast flehend. »Ihre Debütantinnen verzehren sich gewiss schon nach Ihrer Aufmerksamkeit.«

»Ohne Frage«, sagte er grinsend.

Vorerst schien er mit seinem Erfolg zufrieden, dachte Madeline erleichtert. Ein letztes Mal blickte er sie an, dann schritt er zum Tisch, nahm seine Lampe wieder auf und ging zur Tür.

Madeline hielt den Atem an und schaute ihm nach, bis er fort war. Havilands Verführung hatte sie erregt, schlimmer noch, sie hatte es ihm leicht gemacht, seine sinnlichen Attacken fortzusetzen, indem sie ihm sagte, sie würde seinem Antrag eventuell doch zustimmen.

Gewiss war es nicht klug von ihr, ihn länger hinzuhalten. Und es war wahrscheinlich auch wenig weise, ihn zu erpressen, dass er sich bei Mrs Sauville von ihr helfen ließ. Je weniger sie mit Haviland zu tun hätte, umso besser, denn sie besaß erwiesenermaßen keine Willenskraft, was ihn betraf.

Willigte sie gar ein, ihn zu heiraten, würde er ihr das Herz brechen.