Achtes Kapitel
Es ist der Gipfel der Ironie, Maman, dass zwei Herren meinetwegen ein Duell austragen wollen – wegen einer schlichten, mittellosen alten Jungfer! Das bin ich wohl kaum wert.
Madeline scheiterte kläglich in ihrem Versuch, das intime Zwischenspiel in Raynes Kutsche zu vergessen, was teils daran lag, dass sie am Mittwochmorgen nicht unterrichtete und so mehrere Stunden mit ihren wirren Gedanken allein war.
Um die unerwünschten Erinnerungen zu vertreiben – und ihre Rastlosigkeit zumindest ein wenig sinnvoll zu nutzen –, begab sie sich über die Gartenanlage hinterm Herrenhaus hinaus auf die Wiesen, wo sie frische Wildblumen schnitt, mit denen sie die Zimmer in Danvers Hall schmücken konnte.
Sie war noch dabei, als Freddie Lunsford sie rief, der über den Kiesweg auf sie zukam.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Miss Ellis«, begrüßte er sie munter. »Simpkin verriet mir, wo ich Sie finde.«
Madeline ließ ihre Gartenschere in den blumengefüllten Korb zu ihren Füßen fallen, drehte sich um und zog lächelnd ihre Handschuhe aus. »Ihnen auch einen guten Morgen, Mr Lunsford.«
»Ich komme eigens früh, weil ich hoffte, Sie vor Ihrem Unterricht zu erwischen.«
»Sie haben Glück, denn ich bin erst am späteren Vormittag in der Akademie. Ich plane, mit meinen Schülerinnen zu Mittag zu essen, und wir werden vorgeben, in einem Pariser Hotel zu speisen. «
»Aha. Jedenfalls möchte ich Ihnen dies geben.«
Erst nachdem Madeline das Blatt von ihm angenommen hatte, erkannte sie, dass es sich um einen Bankwechsel handelte, und angesichts der hohen Summe machte sie große Augen. Einhundert Pfund waren das Doppelte ihres Jahreslohns bei Lady Talwin.
»Das ist die Belohnung, die ich Ihnen versprach«, erklärte er, als sie ihn verwundert ansah.
»Aber ich sagte Ihnen doch, dass ich keine Belohnung wünsche.«
»Ich bestehe darauf, Miss Ellis. Dank Ihrer Mithilfe wurde ich vor einer veritablen Katastrophe bewahrt, und ich sollte Ihnen die angemessene Dankbarkeit erweisen.«
»Ihr Dank genügt mir vollkommen«, begann Madeline und versuchte, ihm den Wechsel zurückzugeben. Doch Freddie trat einen Schritt zurück und hielt grinsend beide Hände in die Höhe.
»Rayne warnte mich schon, dass Sie ablehnen würden, stimmt mir allerdings zu, dass Sie es verdient haben. Ich bin willens, Ihnen nachzustellen, bis Sie annehmen, und notfalls werde ich meinen Cousin herbeirufen, sollte ich Verstärkung brauchen.«
Madeline gab sich in Würde geschlagen und lachte. »Nun schön, also gut, ich danke Ihnen. Ich schicke den Bankwechsel an meinen Bruder, der das Geld gut gebrauchen kann.«
»Sie ebenfalls, würde ich meinen«, sagte Freddie in der ihm eigenen taktlosen Art, während er ihr schlichtes graues Morgenkleid und den kurzen schwarzen Spencer musterte. »Sie sollten sich ein oder zwei hübsche Kleider kaufen, Miss Ellis.«
Seine offensichtliche Kritik an ihrer Garderobe brachte Madeline zum Erröten, doch anstatt ihm zu widersprechen, wechselte sie das Thema.
»Mrs Sauville versucht demnach nicht mehr, Sie zu erpressen?«
Freddie zog eine Grimasse. »Gott, ich hoffe es … oder zumindest vertraue ich darauf, dass es in ein paar Tagen vorbei ist. Ich will ihr heute Morgen noch schreiben und ihr mitteilen, dass ich ihren Forderungen nicht nachzukommen gedenke und sie meine Briefe lieber noch einmal lesen sollte.« Er grinste wieder. »Ihr steht ein herber Schock bevor, wenn sie entdeckt, dass ihr Druckmittel gegen mich auf mysteriöse Weise verschwunden ist.«
»Ja, vermutlich«, sagte Madeline lächelnd.
»Und jetzt verabschiede ich mich, Miss Ellis. Mich erwartet ein opulentes Frühstück in Riverwood, denn Rayne erlaubte mir nicht, auch nur einen Bissen zu essen, ehe ich bei Ihnen war. Ich schwöre Ihnen, ich verhungere! Die letzte Woche habe ich schon kaum etwas herunterbekommen – Ach, möchten Sie uns vielleicht Gesellschaft leisten, Miss Ellis?«, unterbrach Freddie sich selbst.
»Danke, aber ich habe bereits gefrühstückt«, verneinte Madeline rasch, die Rayne um jeden Preis meiden wollte.
»Na schön, dann … Aber falls ich Ihnen jemals Ihren Gefallen erwidern kann, müssen Sie nur fragen.«
»Werde ich, Mr Lunsford«, versicherte sie ihm, obgleich sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie je vor einem Erpresser beschützt werden müsste.
Mit einer galanten Verbeugung zog Freddie seinen Hut vor ihr, drehte sich um und tänzelte vergnügt von dannen. Er pfiff laut vor sich hin.
Immer noch lächelnd, wandte Madeline sich wieder ihren Blumen zu. Bald darauf überraschte Simpkin sie, der erschien, um ihr einen weiteren Besucher anzukündigen, diesmal Lord Ackerby, und fragte, ob sie für ihn »zu Hause« wäre.
Bei der Erwähnung ihrer adligen Nemesis krampfte sich Madelines Magen zusammen.
Doch noch ehe sie antworten konnte, dass sie für den Baron nicht zu Hause wäre, sah sie auch schon, wie er den Gartenweg entlangkam. Selbst aus der Entfernung waren seine große, vornehm gekleidete Gestalt, die kastanienroten Haare und vor allem die überhebliche Haltung unverkennbar. Anscheinend hatte er geahnt, dass sie sich verleugnen lassen würde, und war dem Butler in den Garten gefolgt.
Simpkin runzelte die Stirn angesichts des dreisten Verstoßes gegen die Etikette; Madeline verbarg ihren Ekel. »Danke, Simpkin, ich spreche allein mit seiner Lordschaft.«
»Wie Sie wünschen, Miss Ellis.«
Madeline fragte sich, was ihren ungebetenen Gast hergeführt haben mochte, was sie laut aussprach, sobald der Butler fort war.
»Sie, natürlich, meine Teure«, antwortete er. »Stellen Sie sich meine Verwunderung vor, als ich entdeckte, dass Sie hier gelandet sind! Sie sind wie eine Katze mit neun Leben.«
»Sind Sie den weiten Weg von Chelmsford hergefahren, um über Katzen zu reden, Mylord?«
»Nein, ich komme aus London, wo ich die letzten Tage verbrachte.« Ackerby blickte sich um. »Haviland hat Sie recht stilvoll untergebracht, wie ich sehe.«
Madeline hatte Mühe, gelassen auf die Unterstellung zu antworten, sie wäre Raynes Mätresse geworden. »Sie irren, Sir, und Sie beleidigen Lord Haviland, indem Sie andeuten, sein Handeln wäre denselben niederen Beweggründen geschuldet wie Ihres. Lord Haviland ist ein Freund meines verstorbenen Vaters. Als solcher war er so freundlich, mir zu helfen, eine Stellung hier in Chiswick zu bekommen, an einer Akademie für junge Damen, die Lady Danvers gehört.«
Ackerby zog skeptisch eine Braue hoch. »Ach ja? Dann bin ich doch überaus beruhigt«, sagte er ungläubig.
»Ihre Gemütsverfassung, Lord Ackerby, war meine Sorge nie.«
Er hob eine Hand. »Ich möchte nicht mit Ihnen streiten, meine Teure.«
Madeline presste die Lippen zusammen, denn es fiel ihr schwer, ihre Wut zu bändigen. »Was möchten Sie stattdessen?«
»Entschädigung, weiter nichts.«
»Entschädigung?«, wiederholte sie. »Wovon sprechen Sie?«
»Ihr Bruder ist ein Dieb und ein Schurke, Madeline. Er stahl mir ein kostbares Erbstück, und ich will es sofort zurück.«
»Ich bitte um Verzeihung?« Gerard konnte bisweilen ein Spitzbube sein, der Freunden wie Feinden Streiche spielte, aber er war nicht verdorben. Und niemals würde er ihren wohlhabenden Nachbarn bestehlen.
Leider war offensichtlich, dass der Baron nicht scherzte.
»Gewiss wollen Sie mir Ihre absurde Anschuldigung näher erklären«, sagte sie.
»Sie ist keineswegs absurd. Ihr Bruder verließ die Stadt letzte Woche kurz vor Ihnen. Erst am Tag, nachdem ich Sie in dem Gasthaus sah, entdeckte ich, dass die De-Vasse-Halskette fort war.«
Von dem unbezahlbaren Collier aus Diamanten und Rubinen hatte Madeline bisher nur gehört. Es war ehedem im Besitz des Vicomte und der Vicomtess de Vasse, den Eltern von Gerards Braut Lynette.
»Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass Gerard die Halskette gestohlen hat?«
»Einer seiner Komplizen gestand es«, antwortete Ackerby. »Als ich das Fehlen bemerkte, habe ich selbstverständlich meine Bediensteten verhört, und ein Zimmermädchen enthüllte, dass Ihr Bruder sie verführte, um sich Zugang zu meinem Haus zu verschaffen. Dort brach er den Safe auf und stahl die Kette.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete Madeline matt. Gerard liebte Lynette von ganzem Herzen. Es war ausgeschlossen, dass er sich mit einem Zimmermädchen einließ.
»Sie sollten lieber. Wo finde ich Ihren Bruder?«
Madeline weigerte sich, darauf zu antworten. Sie konnte dem Baron ohnehin nicht erzählen, dass Gerard mit seiner Liebsten nach Schottland durchgebrannt war, denn noch war es nicht allgemein bekannt, und Madeline wollte das Geheimnis möglichst lange wahren. »Ich bin nicht sicher, wo er sich in diesem Moment aufhält.«
Was größtenteils der Wahrheit entsprach. Im Anschluss an ihre Fahrt nach Schottland hatten Gerard und Lynette geplant, Zuflucht im Cottage ihres französischen Cousins zu suchen, von wo aus sie Lynettes Eltern schreiben würden, dass sie nunmehr vermählt waren. Allerdings wusste Madeline nicht, ob das junge Paar schon dort angekommen war. Und selbst wenn sie es wüsste, würde sie es nicht Baron Ackerby enthüllen, damit er ihnen dorthin folgen könnte.
»Dann schlage ich vor, dass Sie ihn finden«, sagte Ackerby streng. »Für Ellis wird es umso schlimmer, sollte ich genötigt sein, nach ihm zu suchen. Falls er mir die Halskette umgehend zurückgibt, zeige ich mich vielleicht nachsichtig, und er müsste lediglich ins Gefängnis, nicht an den Galgen.«
Madeline wurde elend. War es möglich, dass der Baron Recht hatte? Dass Gerard wirklich die Halskette nahm und mit ihr vor dem Zorn des Adligen floh? Die Juwelen waren ein Vermögen wert; dennoch könnte Gerard sie aus rein sentimentalen Gründen begehrt haben, weil sie ursprünglich dem Vicomte und der Vicomtesse geraubt wurden, als sie während der Französischen Revolution emigrierten, um der Guillotine zu entgehen.
Madeline erschauderte. Ein solch ritterlicher Akt wäre ihrem Bruder wahrlich zuzutrauen. Für Gerard wäre es nur gerecht, würde er die Halskette den rechtmäßigen Besitzern zurückbringen.
Dennoch galt Madelines Loyalität einzig ihrem Bruder, und so sah sie Ackerby empört an und sagte: »Sie haben keinerlei Beweis für seine Schuld, Mylord. Die Behauptung eines Zimmermädchens, noch dazu unter Zwang geäußert, dürfte wohl kaum genügen. «
»Ich werde den Beweis haben, den ich brauche, wenn ich die Halskette bei Ihrem Bruder finde. Und ich verspreche Ihnen, dass ich nicht aufgebe, bis ich Ellis‘ habhaft geworden bin. Dann hängt er für sein Verbrechen.«
Madelines Unglück wandelte sich in Furcht. Falls Gerard das Collier an sich genommen hatte, musste er es zurückgeben, egal wie ehrenwert seine Gründe sein mochten. Was wiederum bedeutete, dass sie ihren Bruder vor dem Baron finden musste …
Aber was war nur mit ihr, dass sie die Anschuldigungen auf einmal nicht mehr vehement von sich wies? Andererseits mochte Ackerby ein Wüstling sein, doch er käme nicht den weiten Weg hierher, um ihr haarsträubende Lügen zu erzählen. Und seiner Miene nach war es ihm vollkommen ernst.
Während sie mit sich rang, was sie sagen sollte, huschte ein zufriedener Ausdruck über die Züge des Barons. »Ich schätze, es wäre Ihnen nicht recht, sollten Ihre neuen Freunde« – er wies zum Herrenhaus – »erfahren, dass Ihr Bruder ein gemeiner Dieb ist. Es würde kein gutes Licht auf Sie werfen, Madeline, und könnte Sie sogar Ihre Stellung kosten.«
»Ich vermute, Sie wollen es ihnen erzählen.«
»Das kommt darauf an.«
»Auf was?«
»Ihre Selbstlosigkeit. Sind Sie bereit, etwas für Ihren Bruder zu opfern?«
»Sie sprechen in Rätseln, Lord Ackerby«, erwiderte Madeline, die seiner Andeutungen gründlich überdrüssig war.
»Dann lassen Sie mich deutlicher werden. Ich wäre gewillt, über das Vergehen Ihres Bruders hinwegzusehen, im Austausch gegen … gewisse Zugeständnisse Ihrerseits.«
Sie wusste leider zu gut, welche Zugeständnisse gemeint waren. Also war der eigentliche Grund, weshalb Ackerby sie bis Danvers Hall verfolgte, der, dass er nach wie vor entschlossen war, sie zu seiner Mätresse zu machen! Ihre wiederholte Ablehnung nahm er nicht hin, und nun setzte er perfide ein höchst wirksames Druckmittel gegen sie ein.
Sie biss die Zähne zusammen. In diesem Moment begriff sie, wie Freddie sich gefühlt haben musste, als er erpresst wurde. Ackerby wusste, dass sie beinahe alles täte, um Gerard zu schützen. Aber so leicht beugte sie sich Ackerby nicht. »Wie ich Ihnen bereits sagte, werde ich nicht Ihre Geliebte.«
»Nicht einmal, um Ihren Bruder zu retten?«
»Sie können nicht sicher sein, dass er überhaupt schuldig ist!«
»Oh, das ist er sehr wohl. Und ich werde es letztlich beweisen. Bis dahin wäre es Ihnen fraglos lieber, sollten Ihre neuen Arbeitgeber nichts von den Verdächtigungen erfahren.«
»Nur zu, richten Sie allen Schaden an, den Sie wollen«, bluffte sie.
Ackerby schien wenig angetan von dieser Erwiderung. Sein Gesicht rötete sich vor Wut, und Madeline überlegte, ob sie die Situation womöglich falsch anging. Selbst wenn Gerard vollkommen unschuldig war, könnte Ackerby ihrem Ruf gewaltig schaden, indem er seine Vorwürfe publik machte. Und es wäre fatal, sollte Madeline ihre Stellung aufgrund eines Skandals verlieren.
Ebenso wenig wollte sie, dass Rayne von der Angelegenheit erfuhr. Er mochte den Diebstahl eines Brotlaibs für verzeihlich halten, wenn er aus purer Not erfolgte, aber niemals könnte er den eines wertvollen Erbstücks akzeptieren.
Madeline brauchte Zeit. Sie musste herausfinden, ob Gerard wirklich schuldig war. In dem Fall würde sie ihn zur Vernunft bringen und dafür sorgen, dass er den gestohlenen Schmuck zurückgab, ehe er damit entdeckt und verhaftet wurde.
Bemüht versöhnlich sagte sie: »Es gibt keinen Grund, dass Sie mit irgendjemandem hier in Chiswick über Ihren Verdacht reden, Mylord. Sie könnten sich irren, und falsche Anschuldigungen würden kein gutes Licht auf Sie werfen. Sollte mein Bruder die Halskette haben, was ich nicht glaube, werde ich persönlich ihn veranlassen, sie zurückzugeben. «
»Ich fürchte, Ihre Beteuerung genügt mir nicht.«
Das Funkeln in Ackerbys Augen verriet Madeline, wie sehr er ihre Not genoss. Umso mehr wunderte Madeline, dass er auf einmal einzulenken schien. »Vielleicht können wir einen Kompromiss finden, meine Teure.«
»Was für einen Kompromiss?«
»Ich begnüge mich mit einem Kuss.«
Scham und Wut überkamen Madeline angesichts seiner Unverfrorenheit. Ackerby nutzte abermals ihre Wehrlosigkeit aus, wie er es kaum einen Monat nach dem Ableben von Lady Talwin schon getan hatte, als er ihr das unglaubliche Angebot machte, sie zu seiner Mätresse zu nehmen.
Sein Blick fiel auf ihre Lippen, und Madeline graute vor der Vorstellung, den abstoßenden Baron zu küssen. Zumindest hatte sie die Gartenschere griffbereit, sollte sie sich verteidigen müssen.
»Verstehe ich Sie richtig?«, fragte sie. »Wenn ich Sie jetzt küsse, erlauben Sie mir, mit meinem Bruder zu reden, damit er Ihnen den Schmuck wiedergibt – falls er ihn überhaupt hat? Und bis dahin sagen Sie zu niemandem ein Wort über die fehlende Kette oder Gerards mögliche Rolle bei deren Verschwinden?«
»Ja, es wäre unser kleines Geheimnis. Haben wir eine Abmachung?«
Madeline war nicht sicher, ob sie sich dazu durchringen konnte, ganz gleich wie sehr sie ihren Bruder liebte. Natürlich wollte sie Gerard retten, doch sowie sie ihren unverbesserlichen Bruder fand, würde sie ihn erwürgen dafür, dass er sie in diese Lage brachte.
Ihr Zögern schien der Baron als Zustimmung zu nehmen, denn er kam noch näher und packte ihre Schultern. Madeline konnte nicht einmal die Hände heben, um ihn abzuwehren, bevor er den Kopf neigte und ihre Lippen einnahm.
Sein Kuss war mindestens so widerlich wie Madeline geahnt hatte. Doch Ackerby machte es noch ärger, indem er ihr seine Zunge in den Mund drückte. Madeline wurde übel, und sie stemmte beide Fäuste gegen seine Brust, um sich ihm zu entwinden, nur war Ackerbys linker Arm um ihre Taille geschlungen und presste sie fest an ihn.
Als seine rechte Hand von ihrer Schulter glitt und ihren Busen umfing, reichte es Madeline endgültig. Angeekelt stieß sie einen Protestlaut aus und versuchte mit aller Kraft, sich Ackerby zu entwinden.
Im selben Moment vernahm sie eine tiefe, knurrende Männerstimme. Der Baron gab sie plötzlich frei, so dass Madeline ein Stück rückwärts stolperte. Kaum hatte sie die Balance wiedergefunden, begriff sie, was geschehen war: Rayne hatte Ackerby von hinten beim Kragen gepackt und ihn von ihr weggerissen.
Ehe sie einen Ton herausbrachte, hatte Rayne den Mann schon zu sich gedreht und ihm einen Fausthieb gegen das Kinn verabreicht, dessen Wucht den Baron mit einem dumpfen Aufprall auf der Erde landen ließ.
Madeline erschrak, als sie den zornigen Rayne sah, der sich auf den Gefallenen stürzte, sichtlich entschlossen, ihn wieder auf die Beine zu bringen, damit er ihn erneut schlagen konnte.
Madeline ergriff Raynes Arm und klammerte sich an ihn.
»Hören Sie auf, bitte!«, rief sie atemlos.
»Warum?«
»Sie könnten ihn umbringen!«
»Genau das ist meine Absicht.«
Mit einem fürwahr tödlichen Blick machte er einen Schritt vor, obgleich Madeline ihn mit aller Kraft zurückhielt.
»Rayne, bitte!«, flehte sie.
Sie war sehr froh, dass er den abscheulichen Kuss beendet hatte, doch so sehr es sie rührte, dass er sie beschützen wollte, konnte sie ihm schlecht erklären, warum Ackerby sie geküsst hatte. Dann müsste sie ihm gleichzeitig erzählen, was ihr Bruder wahrscheinlich getan hatte, und das wollte sie nicht. Außerdem würde Rayne wohl erst recht zornig, wenn er von Ackerbys Erpressung erfuhr. Und auch wenn es befriedigend war, mitzuerleben, wie der Baron für seine Beleidigungen bestraft wurde, verdiente er doch nicht, deshalb zu sterben.
Ackerby indes war sichtlich erbost. Er lag inmitten der Rosenbüsche, hielt sich das schmerzende Kinn und funkelte Rayne wütend an.
»Wie können Sie es wagen, mich zu schlagen, Sie … Sie … Kretin! Ich verlange eine Entschuldigung, sofort!«
»Auf die werden Sie lange warten müssen«, knurrte Rayne. »Sie schulden Miss Ellis eine Entschuldigung, denn Sie fielen über sie her.«
»Einen Teufel tat ich!«
»Entschuldigen Sie sich oder nennen Sie Ihren Sekundanten«, forderte Rayne.
»Dann nehme ich Ihre Herausforderung an«, zischte der Baron.
»Pistolen oder Schwerter?«
»Pistolen. Es wird mir ein Vergnügen sein, eine Kugel auf Sie abzufeuern.«
»Mir wird es eine Freude sein, Ihnen eine Lektion in angemessenem Benehmen Damen gegenüber zu erteilen.«
Madeline stand stumm vor Entsetzen da. Rayne hatte soeben den Baron zum Duell gefordert, und Ackerby hatte angenommen!
»Nein!«, rief sie mit schriller Stimme. Aber keiner der beiden hörte ihr zu.
»Morgen bei Sonnenaufgang?«, fragte Rayne.
»Abgemacht«, knurrte Ackerby.
»Hier oder in London?«
»London, am üblichen Ort.«
Rayne nickte knapp. »Mein Sekundant wird die Einzelheiten mit Ihrem besprechen.«
Der Baron zögerte, als würde ihm erst jetzt gewahr, was er getan hatte.
Madeline sah zu Rayne auf, der seinen Gegner immer noch mit furchteinflößendem Blick fixierte.
»Nun gut«, murmelte Ackerby, der sich mühsam aufrappelte. »Mein Londoner Haus ist Nummer sieben Portman Square.«
Er hegte eindeutig Bedenken, stellte Madeline fest, war jedoch zu erzürnt oder zu stolz, um die Sache rückgängig zu machen.
Sie hingegen war nicht zu stolz, ihn zu bitten, es noch einmal zu überdenken. Sie musste Ackerbys Zorn beruhigen, damit er ihn nicht an ihrem Bruder ausließ, ehe sie eine Chance gehabt hatte, mit Gerard zu reden.
»Lord Ackerby, dieses Missverständnis tut mir furchtbar leid, aber Sie wollen doch gewiss kein Duell austragen?«
Der Baron schaute nur einmal böse in ihre Richtung, während er sich den Schmutz vom Gehrock klopfte. »Guten Tag, Miss Ellis. Sie hören von mir, wenn dies hier vorbei ist, seien Sie dessen versichert.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er seinen Hut auf, der ins Blumenbeet gefallen war, und ging.
Verzweifelt blickte Madeline ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wandte sie sich zu Rayne. »Was in aller Welt fällt Ihnen ein, ihn zum Duell zu fordern? Sind Sie von Sinnen?«
»Keineswegs. Es ist höchste Zeit, dass jemand diesem Unhold Manieren beibringt.« Einer von Raynes Wangenmuskeln zuckte. »Ich befürchtete das Schlimmste, als Freddie mir erzählte, er hätte Ackerby vorfahren gesehen, also kam ich her. Was ein Glück war.«
Ein vager Gedanke Madelines war, dass er den Weg durch die Gärten der beiden Anwesen genommen haben musste, denn allein das erklärte, dass er so schnell hier sein konnte.
»Daran ist ganz und gar nichts glücklich«, erwiderte sie. »Nicht nachdem Ihre Konfrontation zur Folge hat, dass einer von Ihnen beiden stirbt! Es war unnötig, dass Sie den edlen Ritter gaben, Rayne. Ich wäre allein mit Ackerby fertiggeworden.«
»Ja, das schien Ihnen bestens zu gelingen«, konterte er sarkastisch.
Madeline sagte nichts. Es war furchtbar, dass Rayne gesehen hatte, wie der Baron sie belästigte, doch sie mochte sich nicht ausmalen, was geschähe, wenn die beiden sich duellierten. Rayne könnte verwundet oder sogar getötet werden. Und selbst wenn er unversehrt blieb, konnte die Angelegenheit schreckliche Folgen haben.
»Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, dass Sie eine Konfrontation mit ihm verlieren könnten?«
»Nein«, antwortete er. »Ich werde nicht verlieren.«
»Und was geschieht, wenn Sie gewinnen? Sie wissen, dass Duelle gesetzlich verboten sind. Falls Sie ihn töten, könnten Sie gezwungen sein, das Land zu verlassen, um einem Arrest zu entgehen.«
»Vielleicht töte ich ihn nicht, sondern schieße lediglich ein angemessen großes Loch in ihn.«
In ihrer Aufgebrachtheit griff sie nach Raynes Arm. »Ich lasse nicht zu, dass meinetwegen Blut vergossen wird!«
»Das ist nicht Ihre Entscheidung, meine Süße.« Er nahm ihre Hand von seinem Arm. »Verzeihen Sie, dass ich Ihren Wunsch nach Eigenständigkeit missachte, aber der Schurke hat Sie zum letzten Mal berührt. «
Mit dieser Erklärung drehte Rayne sich um und schritt auf das Herrenhaus zu.
Madeline starrte ihm nach. Sie wollte fluchen und schreien zugleich. Wie konnten sich die Ereignisse in solch kurzer Zeit zu solch einer Katastrophe ausweiten?
Sie hob eine Hand an ihre schmerzende Schläfe. Zu dem Duell durfte es niemals kommen. Sie musste es irgendwie verhindern – und anschließend ihren Bruder dazu bringen, dass er die Halskette zurückgab, bevor man ihn als Dieb überführte und hängte.
Angesichts der drängenden Zeit, ließ sie den Blumenkorb stehen und lief ins Haus.
Madeline hielt es für einfacher, Ackerby zu bewegen, dass er das Duell absagte, als Rayne, der viel zu dickköpfig war. Und wenngleich Madeline seine Ritterlichkeit durchaus zu schätzen wusste, war sie doch weder schwach noch schutzlos. Zudem würde sie es nicht ertragen, ihn um ihretwillen leiden zu sehen.
Natürlich konnte sie Lord Ackerby nicht nach London folgen, daher schrieb sie ihm an seine Adresse am Portman Square und schwor ihm, sie würde Sorge tragen, dass er sein Eigentum wiederbekam, wenn er auf das Duell verzichtete. Sie sicherte ihm des Weiteren zu, mit Lord Haviland zu sprechen und ihm begreiflich zu machen, dass es ein Fehler gewesen war, den Baron zu fordern.
Und sie hatte fest vor, zu ihrem Wort zu stehen. Sie würde Rayne gleich nach ihrem Unterricht in Riverwood aufsuchen. Er war hoffentlich einsichtiger, sowie sich sein Zorn etwas gelegt hatte, und sie könnte ihm in aller Ruhe erklären, dass sie Baron Ackerby gestattete, sie zu küssen, auch wenn sie Rayne die Gründe verschweigen würde.
Madeline war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie ihn belügen musste und vorgeben, sie hätte willentlich den abstoßenden Wüstling geküsst. Aber Rayne würde nie vom Duell zurücktreten, sofern sie ihn nicht überzeugte, dass er Ackerbys Umarmung falsch gedeutet hatte.
Der zweite Brief, den Madeline schrieb, ging an ihren Bruder. Sie verlangte von ihm zu erfahren, ob er das kostbare Erbstück gestohlen hatte, und, wenn ja, dass er sofort zur Vernunft käme und es Ackerby zurückgab. Sie schilderte ihm auch, mit welchen Konsequenzen Ackerby gedroht hatte.
In den Brief faltete sie den Bankwechsel von Freddie Lunsford und versiegelte ihn. Die einhundert Pfund konnten sie entweder benutzen, um wichtige Dinge für den Haushalt anzuschaffen, oder aber Gerard kaufte seiner jungen Braut davon ein Hochzeitsgeschenk, das nicht gestohlen war.
Sie adressierte den Brief an Lynettes Cousin in Maidstone, Kent. Blieb die Antwort aus, wollte Madeline persönlich hinfahren und ihren Bruder zur Rede stellen. Allerdings missfiel es ihr, Chiswick gerade jetzt zu verlassen, hatte sie ihre Stelle hier doch eben erst angetreten.
Ihre Furcht um Gerard wurde durch die Gewissheit gemildert, dass sie notfalls Rayne bitten könnte, der ihr gewiss half, ihren Bruder vor Ackerby zu retten. Aber dann müsste sie ihm von dem Diebstahl erzählen, was seine Meinung von ihr nachhaltig trüben dürfte.
Gegenwärtig hielt Rayne sie für geeignet, seine Frau zu werden, doch sie bezweifelte, dass er die Schwester eines Diebes heiraten würde, dem Gefängnis oder gar der Galgen drohten.
Ach, Maman, ist es falsch von mir, zu hoffen, ich könnte eines Tages sein Herz gewinnen?
Diesen närrischen Gedanken vertrieb sie energisch, räumte ihre Schreibsachen fort und machte sich auf die Suche nach Simpkin.
Sie fand den älteren Butler im Ballsaal von Danvers Hall, wo er die Bediensteten überwachte, die das Wachs von den Kronleuchtern entfernten und sie mit frischen Kerzen bestückten.
Als sie ihn bat, die Briefe schnellstmöglich für sie nach Chiswick zur Post zu bringen, erklärte er sich prompt bereit.
»Wenn Sie erlauben, Miss Ellis, Lord Haviland wird Sie gewiss gern für Sie frankieren.«
Madeline verneinte lächelnd. Die Empfänger müssten keine Zustellgebühren zahlen, wenn die Briefe von einem Mitglied des Hochadels abgestempelt waren, aber natürlich durfte Rayne nichts von den beiden Schreiben wissen.
»Mag sein, doch ich möchte die Großzügigkeit seiner Lordschaft nicht noch mehr strapazieren als ohnehin schon. Überdies sind beide Briefe sehr eilig.«
Simpkin zog seine Taschenuhr hervor. »Dann kümmere ich mich gleich darum. Ich müsste die Postkutsche noch antreffen.«
»Ich danke Ihnen, Simpkin, das ist sehr freundlich«, sagte Madeline und eilte wieder nach oben, um sich für den Unterricht umzukleiden.
Das drohende Duell würde es schwierig machen, sich auf den Unterricht oder die Schülerinnen zu konzentrieren.
Als sie ihr Schlafzimmer erreichte, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Nach Jahren, in denen sie das männliche Geschlecht vollkommen ignorierte, mutete es nahezu grotesk an, dass sich nun zwei Adlige ihretwillen duellieren wollten!
Rayne konnte nicht glauben, dass er so impulsiv gehandelt und den Baron zum Pistolenduell im Morgengrauen gefordert hatte. Normalerweise war er nicht bloß gelassen, nein, er war ausgesprochen kühl, wenn es um Frauen ging.
Ackerby zu fordern, war höchst unvernünftig gewesen. Und Rayne hätte Mühe, die Rage zu erklären, die ihn überkam, als er sah, wie der Schurke Madeline Ellis belästigte. Wäre dasselbe einem anderen Mann geschehen, hätte Rayne es als pure Eifersucht gedeutet.
Was es in seinem Fall nicht sein konnte, denn Eifersucht würde voraussetzen, dass er tiefe Gefühle hegte. Und seine Fürsorge für Madeline war einzig der Freundschaft zu ihrem verstorbenen Vater geschuldet.
Gewiss war seine aufbrausende Reaktion einem grundsätzlichen Schutzinstinkt gegenüber dem zarten Geschlecht entsprungen – und selbstverständlich der Tatsache, dass er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten.
Zu seiner Verwunderung jedoch hatte Madeline seine Einmischung ganz und gar nicht gutgeheißen. Im Gegenteil: Sie hatte ihm verübelt, dass er zu ihrer Rettung herbeieilte.
Rayne hingegen bereute es nicht, dachte er grimmig, während er die Schritte einleitete, die zur Vorbereitung eines Duells nötig waren, angefangen mit einem Schreiben an den Mann, den er bitten wollte, sein Sekundant zu sein. Er schickte einen Diener mit dem Brief nach London. Ackerby musste ein für alle Mal begreifen, dass Madeline einen Beschützer hatte, und falls er sich weigerte, eine angemessene Entschuldigung vorzubringen, würde ihn eben eine Pistolenkugel Zurückhaltung lehren.
Entsprechend war er besorgt, als kaum eine Stunde später Simpkin in Riverwood erschien. Er hatte den alten Butler gebeten, ein Auge auf Madeline zu haben und ihn zu benachrichtigen, sollte der Baron es wagen, nochmals nach Danvers Hall zu kommen.
»Ackerby ist doch nicht zurückgekehrt, um Miss Ellis zu belästigen?«, fragte Rayne den Butler, sowie Simpkin in seine Bibliothek trat.
Der Butler runzelte sorgenvoll die Stirn. »Nein, Mylord. Ich dachte lediglich, Sie würden zu wissen wünschen … Kurz nachdem Sie gingen, bat Miss Ellis mich, einen Brief an Baron Ackerby zur Post zu bringen.«
»Ach, tat sie das?«, fragte Rayne scharf, denn die Nachricht behagte ihm nicht.
»Ja, Mylord. Und ihr schien es dringlich, dass der Brief umgehend abgeschickt wurde. Desgleichen ein zweites Schreiben, das an einen Mr Gerard Ellis adressiert war.«
»Ihr Bruder«, murmelte Rayne nachdenklich.
»Mir missfällt es, Miss Ellis‘ Vertrauen zu verraten«, erklärte Simpkin, »doch Sie baten mich, auf Miss Ellis acht zu geben und Sie zu unterrichten, sollte Lord Ackerby weiterhin eine Gefahr für sie sein. Und nach dem, was Sie mir über ihn berichteten, gestehe ich, dass ich besorgt war, weil Miss Ellis es für nötig erachtete, dem Baron zu schreiben.«
»Es war richtig von Ihnen, zu mir zu kommen, Simpkin«, versicherte Rayne ihm. »Um alles Weitere kümmere ich mich.«
Er dankte dem Butler und verabschiedete ihn, dann stand er am Fenster und blickte hinaus in Richtung Danvers Hall. Dass Madeline an Baron Ackerby geschrieben hatte, war verstörend und weckte eine Vielzahl Gefühle in Rayne. Misstrauen und Zweifel waren vorherrschend, dicht gefolgt von Unbehagen.
Was hatte sie so dringend einem Adligen mitzuteilen, den sie angeblich verabscheute?
Und noch ein anderer Gedanke kam Rayne, als er sich an Madelines Ausdruck erinnerte, als er ihren Angreifer zu Boden schlug: Ihre Augen waren dunkel vor Zorn gewesen. Zum fraglichen Zeitpunkt glaubte er noch, ihre Wut richtete sich gegen den Baron.
Hatte er die Situation falsch gedeutet? Wäre es möglich, dass Madeline wütend auf ihn gewesen war, weil er ihren Liebhaber zum Duell forderte?
Rayne fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er hatte Madeline vertraut, weil sie die Tochter ihres Vaters war, aber er kannte sie eigentlich gar nicht. War er zu leichtgläubig gewesen, als er sie beim Wort nahm, was ihre Lage betraf?
Etwas stimmte nicht, das spürte er. Und für einen Moment hatte Madeline ausgesehen, als fühlte sie sich … schuldig.
Rayne fluchte leise. Dasselbe hatte er schon einmal erlebt: eine Frau, die Geheimnisse vor ihm hatte. Und nun schrie es buchstäblich in ihm, dass sich die Geschichte wiederholen würde.
Fragen über Fragen gingen ihm durch den Kopf, deren vorrangigste lautete: War Madelines Beziehung zum Baron eine andere als Madeline behauptete?
Rayne hatte sie unbedingt vor dem Wüstling schützen wollen, aber vielleicht brauchte oder wollte sie überhaupt keinen Schutz.
Im Garten vorhin könnte Madeline den Baron willentlich umarmt haben. Und ihr erstickter Schrei, als der Mann ihre Brust umfasste, könnte ein Wonnestöhnen gewesen sein. Manche Damen mochten es, grob behandelt zu werden.
Raynes Gesichtsmuskeln spannten sich an. Gewiss reagierte er übertrieben. Die eine bittere Erfahrung, die er mit einer Frau gemacht hatte, war kein Grund, Madeline zu misstrauen.
Dennoch verheimlichte sie ihm etwas, dessen war er sicher. Und es war nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sie geheime Briefe an ihren Liebhaber schrieb. Genau wie damals, als die betrügerische Frau, die du liebtest, ihr Herz längst einem anderen geschenkt hatte.
Er durfte Madeline nicht voreilig unterstellen, so verschlagen wie Camille Juzet zu sein. Wie Freddie erzählt hatte, beabsichtigte Madeline, die Belohnung an ihren Bruder Gerard zu schicken, weil er das Geld nötiger hätte als sie. Camille hatte Hilfe gesucht, um ihrem Bruder und anderen Familienmitgliedern bei der Flucht vor den Behörden zu helfen; doch weiter reichten die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Frauen nicht.
Nein, er würde keine vorschnellen Schlüsse ziehen, entschied Rayne.
Und solange er nichts Näheres wusste, würde er nicht zulassen, dass die Zärtlichkeit, die er für Madeline zu empfinden begann, zerstört wurde. Vor allem aber würde er Ackerby eine Lektion in Ehre und Benehmen erteilen, die dieser so bald nicht vergaß.
Den Unterricht über Ruhe und Gelassenheit vorzutäuschen, war Madeline annähernd unmöglich gewesen. Ihre Angst wegen des bevorstehenden Duells war schlicht übermächtig. Sowie sie die Akademie verlassen durfte, fuhr sie in dem kleinen offenen Wagen, den Arabella ihr großzügigerweise zur Verfügung gestellt hatte, geradewegs nach Riverwood.
Zu ihrem Verdruss war Rayne nicht zu Hause – oder zumindest behauptete es sein Majordomus. Schlimmer noch, Bramsley weigerte sich, ihr zu sagen, wo Lord Haviland war, obwohl Madeline vermutete, dass er es wusste.
Freddie Lunsford aber war noch dort, auch wenn er nicht sonderlich erfreut wirkte, als man sie zu ihm ins Billardzimmer führte.
»Können Sie mir sagen, wo ich Haviland finde?«, fragte Madeline ohne Umschweife. »Bramsley wollte mir lediglich verraten, dass er nicht im Hause ist.«
»Er ist vor einer Stunde nach London gefahren«, antwortete Freddie eher widerwillig.
»Teufel noch eins«, murmelte Madeline. »Ich hatte gehofft, ihn sprechen zu können, um ihm dieses absurde Duell auszureden.«
»Er kann es nicht absagen«, sagte Freddie.
»Warum nicht?«
»Weil es Ehrensache ist. Diesmal ging Ackerby zu weit. Sie können nicht erwarten, dass Rayne stillschweigend hinnimmt, wie dieser Schuft Sie besudelt. «
»Aber er hat mich nicht besudelt!«, erwiderte Madeline ungeduldig. »Die ganze Situation wurde missverstanden. «
Freddie runzelte die Stirn. »Tja, jetzt ist es zu spät.«
»Nein, ist es nicht! Ich muss nur nach London fahren und mit Rayne sprechen.«
»Miss Ellis«, sagte er eilig, »Sie dürfen sich nicht in seine Angelegenheiten mischen. Es ist einfach ausgeschlossen. Und selbst wenn Sie auf Rayne einreden, bis Ihnen die Puste ausgeht, ist es zwecklos. Ich kenne ihn. Wenn er sich im Recht glaubt, kann ihn nichts und niemand umstimmen.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass er die Nacht in seinem Stadthaus verbringen will?«
Freddie verzog unglücklich das Gesicht. »Dorthin wollte er. Er musste seine Duellierpistolen holen und sich mit seinem Sekundanten treffen. Und morgen muss er frühzeitig aufstehen.«
Nun war es an Madeline, die Stirn zu runzeln. »Hat er Sie nicht gebeten, sein Sekundant zu sein?«
»Nein«, antwortete Freddie ein wenig beschämt. »Ich bin nicht der beste Schütze, und Rayne wollte nicht, dass ich verletzt werde, falls ich für ihn einspringen muss.«
»Wenigstens ist er um Ihr Wohl besorgt, wenn schon nicht um sein eigenes«, sagte Madeline spitz. »Also, wer wird sein Sekundant sein?«
»Er hatte vor, Will Stokes zu bitten.«
»Wer ist Will Stokes?«
»Ein langjähriger Freund. Sie kennen sich, seit sie Jungen waren, und haben zusammen im Auslandsdienst gearbeitet.«
Stokes musste Raynes Brotdieb sein, dachte Madeline, aber das war nicht von Belang. Wichtig war, dass sie das Duell verhinderte, ehe jemand zu Schaden kam.
Doch vielleicht hatte Freddie Recht. Rayne die Sache ausreden zu wollen, dürfte so gut wie unmöglich sein. Sie müsste wohl zu drastischeren Maßnahmen greifen, um ihn zur Einsicht zu bringen.
»Wissen Sie, wo das Duell stattfindet?«, fragte sie. »Ackerby sagte, ›am üblichen Ort‹, und Rayne schien zu wissen, was gemeint war.«
Freddies Miene verfinsterte sich. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich wüsste es eben gern.« Als er zögerte, ergänzte Madeline gereizt: »Sie können es mir verraten, Mr Lunsford, oder ich finde es allein heraus. Falls nötig, suche ich ganz London ab.«
»Miss Ellis … Madeline, in eine Ehrensache zwischen Gentlemen mischt man sich nicht ein!«
»Da ich kein Gentleman bin, bindet mich auch deren Ehrenkodex nicht.«
Sie würde das Duell verhindern, selbst wenn sie beide Kontrahenten mit der Waffe bedrohen musste. Sie hatte immer noch ihre Pistole bei sich, und sie würde nicht riskieren, dass Rayne erschossen oder bestraft würde, weil er Ackerby ihretwegen getötet hatte.
Als sie Freddie streng ansah, seufzte der schließlich. »Ich schätze, es war Rudley Commons gemeint, ein Feld am Rande von London, auf dem oft Duelle abgehalten werden.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Madeline, die froh war, dass er ihr eine stundenlange Suche ersparte. »Wären Sie dann wohl so freundlich, mich morgen früh, vor Tagesanbruch, dorthin zu begleiten?«
Der erstickte Laut, den Freddie von sich gab, klang wie ein Jaulen. »Ich werde Sie gewiss nicht begleiten! Rayne bringt mich um, sollte ich so etwas wagen. «
»Ich bringe Sie um, wenn nicht.«
Leider wusste Madeline nur zu gut, dass eine solche Drohung von ihr nicht sonderlich wirksam war, also versuchte sie es mit einer anderen Taktik. »Sie sagten, sollte ich jemals in einer Lage sein, in der Sie mir einen Gefallen tun können, wie ich Ihnen unlängst einen erwies, bräuchte ich Sie nur zu bitten. Nun, ich bitte Sie jetzt.«
»Madeline, das ist nicht fair!«
»Wollen Sie Ihr Wort brechen? Nach allem, was Sie gerade erst über die Ehre von Gentlemen sagten? «
»Sie wissen, dass ich das nicht kann«, antwortete Freddie verärgert.
»Dann fahren Sie mich morgen früh?«
»Ja, Teufel auch, ich fahre Sie. Aber Sie werden Rayne erklären, wie Sie mich zwangen, denn sonst haben Sie mich auf dem Gewissen.«
»Ja, werde ich, und ich nehme die Verantwortung allein auf mich«, sicherte Madeline ihm zu. Vor Erleichterung fiel sie beinahe in Ohnmacht.
Allerdings bildete sie sich nicht ein, dass die Gefahr für Rayne damit abgewendet war. Ebenso wenig wie die für sie. Denn die jüngsten Ereignisse hatten ihr bestätigt, was sie schon befürchtet hatte: Sie war hoffnungslos verliebt.