Elftes Kapitel
Es ist höchst entmutigend, Maman, dass ich meinen Gemahl nicht einmal während der Hochzeitsnacht in meinem Bett zu halten vermochte.
Als sie am nächsten Morgen nach einer größtenteils schlaflosen Nacht erwachte, blieb Madeline eine Weile liegen und sann über alles Erdenkliche nach. Über das fremde Bett. Über die unbekannten Empfindungen, das leichte Wundsein zwischen ihren Schenkeln, vor allem aber über den Schmerz in ihrem Herzen.
Die Erinnerung an den wundervollen Liebesakt mit Rayne machte ihr die Brust eng. Ihre Hochzeitsnacht war vollkommener als alles andere in ihrem Leben gewesen … bis Rayne sie abrupt verließ.
Unglücklich umklammerte Madeline ein Kissen und kniff die Augen zu. Es war nicht ungewöhnlich, dass vornehme Eheleute getrennte Schlafgemächer hatten, doch war es nicht beschämend, wenn der Bräutigam sich unmittelbar nach der Vereinigung in seine eigenen Zimmer zurückzog? Und dass Rayne am Morgen nach ihrer ersten Nacht ohne Abschied nach London reiste, verhieß ebenfalls nichts Gutes für ihre Ehe.
Ihr Elend hatte sie allein verschuldet, schalt Madeline sich. Es war ihr Fehler, dass sie Luftschlösser gebaut hatte. Der unmögliche Traum, Rayne könnte sie lieben, eine richtige Ehe mit ihr wollen, war genau das: unmöglich.
Sie hätte sich niemals Hoffnungen machen dürfen. Warum hast du nicht auf Rayne gehört, als er dich vor seiner Gefühlskälte warnte? Es geschieht dir nur recht, nachdem du seinen Antrag so überstürzt annahmst!
Sie warf die Bettdecken beiseite und sprang auf, um sich zu waschen und anzukleiden. Madeline war unsagbar wütend auf sich, weil sie sich in Rayne verliebt hatte. Und sie war entschlossen, die schmerzliche Mischung aus Verlangen und Sehnsucht umgehend zu überwinden.
Doch während sie die Unterwäsche zusammenklaubte, die Rayne ihr letzte Nacht so verführerisch ausgezogen hatte, empfand sie eine erdrückende Einsamkeit. Nach dem magischen Liebesakt fiel es ihr schwerer denn je, ihren sehnsüchtigen Wunsch zu leugnen, nicht allein zu sein, jemandem etwas zu bedeuten.
»Aber dieser Jemand wird nicht Rayne sein«, erinnerte Madeline sich streng.
Sie wand ihr Haar zu dem üblichen Knoten, als ihr Raynes Vorschlag einfiel, es weniger streng zu tragen und so ihre Gesichtszüge weicher wirken zu lassen. Prompt holte sie ihr Elend wieder ein – wie auch ihr Unglück über ihr wenig anziehendes Äußeres.
Andererseits war es sinnlos, über ihre mangelnden Reize zu jammern, wenn ohnedies kein Ehemann hier war, dem sie gefallen musste. Außerdem hatte sie ihr Schicksal noch nie beklagt.
Nein, sie beabsichtigte, gute Miene zu machen und sich über den Tag zu beschäftigen. Gleich nach dem Frühstück würde sie noch einmal an ihren Bruder schreiben. Über dem Duell und ihrer kurzfristigen Vermählung hatte sie fast vergessen, in welcher Gefahr Gerard sich befand, und sie wollte dringend von ihm hören.
Danach würde sie Bramsley bitten, sie durchs Haus zu führen und mit den Bediensteten bekanntzumachen.
Und nachmittags wollte sie zur Akademie fahren, auch wenn Jane und Arabella nicht erwarteten, dass sie heute Unterricht gab.
Sie musste sich mit anderem befassen, sonst würde sie nur endlos darüber nachdenken, zu welcher Katastrophe sie ihr Leben gemacht hatte, indem sie Rayne heiratete.
Anfangs verlief Madelines Tag exakt wie geplant. Sie aß allein im Frühstückssalon, und hinterher stellte Bramsley ihr die vielen Bediensteten vor, die in Riverwood arbeiteten, und führte sie ausgiebig durch ihr neues Zuhause.
Entgegen Madelines Erwartungen, verhielt Bramsley sich ihr gegenüber ausnahmslos respektvoll. Da war nicht einmal Mitleid in seinen Blicken, weil sie so kurz nach der Trauung von ihrem Gemahl verlassen worden war. Stattdessen benahm er sich, als wäre die Abwesenheit seiner Lordschaft ganz und gar nicht ungewöhnlich.
Was allerdings sehr wohl ungewöhnlich war, war von ihm mit »Mylady« angesprochen zu werden. Beim ersten Mal, als er Madeline morgens unten begrüßte, war sie buchstäblich zusammengezuckt. Aber natürlich war sie nun Lady Haviland, also rang sie sich ein Lächeln ab und antwortete: »Ihnen auch einen guten Morgen, Bramsley.«
»Ich bitte um Verzeihung, Mylady«, sagte er ernst. »Ich hätte Ihnen eine Zofe hinaufgeschickt, doch ich wusste nicht, dass Sie so früh aufstehen.«
Da war kein Anflug von Kritik in seinem Tonfall.
»Ehrlich gesagt, bin ich es gar nicht gewohnt, eine Zofe zu haben. Folglich fiel mir deren Fehlen nicht auf.«
Erleichtert wie Bramsley war, reagierte er umso enthusiastischer, als sie ihn bat, ihr nach dem Frühstück das Haus zu zeigen. »Gewiss, Mylady. Lord Haviland trug mir auf, für Ihr Wohlbefinden zu sorgen, und es ist mir eine Freude, Ihnen bestmöglich zu dienen.«
Madeline wäre glücklicher, hätte Rayne selbst es übernommen, schalt sich jedoch sogleich für diesen Gedanken.
Die Führung nahm einen Großteil des Vormittags in Anspruch. Riverwood war erheblich größer als das Anwesen, auf dem Madeline die letzten fünf Jahre in Stellung gewesen war, und es waren viele, sehr viele Zimmer anzusehen.
Ihr Lieblingsraum befand sich im ersten Stock.
»Dies ist das Badezimmer, Mylady«, erklärte Bramsley. »Lord Haviland hat es selbst entworfen und den Einbau überwacht. Das heiße Wasser wird aus einem Boiler im darunterliegenden Raum in die Wanne geleitet und läuft auf demselben Wege wieder ab, so dass keine Krüge aus der Küche herbeigetragen werden müssen.«
»Wie eindrucksvoll«, sagte Madeline und bestaunte die große Kupferwanne mit der Vielzahl von Rohren dahinter. Was für ein königlicher Luxus, warmes Badewasser zu bekommen, wann immer man wollte. »Hat Lord Haviland noch mehr im Haus entworfen?«
»Ja, Mylady. Die Küche und die Kamine wurden ebenfalls modernisiert. Die Möblierung überließ seine Lordschaft mir. Er kaufte das Anwesen im letzten Jahr von einem älteren Gentleman, der zu seinem Sohn zog, und die meisten Räume mussten dringend neu gestaltet werden.«
Madeline vermutete, dass Rayne Riverwood erwarb, nachdem er seinen neuen Titel erbte. Allerdings fragte sie sich, warum er sich einen Landsitz kaufte, wenn die Familie schon einen in Kent besaß.
»Sie haben einen hervorragenden Geschmack, Bramsley«, murmelte Madeline.
»Ich danke Ihnen, Mylady.«
Das Mobiliar ähnelte dem in Raynes Londoner Stadthaus: elegant und bequem. Madeline könnte sich hier wohlfühlen.
Der maskulinste Raum im Haus war Raynes Studierzimmer. Hier sorgten polierte Wandverkleidungen und wuchtige Ledersessel und Sofas sowie ein riesiger Schreibtisch für eine strenge Eleganz.
»Seine Lordschaft verbringt die meiste Zeit in diesem Zimmer, wenn er in Riverwood ist«, beantwortete Bramsley Madelines unausgesprochene Frage.
Madeline vermutete, dass sie in dieser männlichen Bastion nicht willkommen war, was sie indes nicht erproben wollte. Sie würde ihre Korrespondenz an dem hübschen Sekretär im Salon erledigen.
Nach der Führung bestätigte Bramsley ihr abermals, dass er sie als neue Herrin akzeptierte. »Gewiss möchten Sie noch die eine oder andere Änderung vornehmen, Mylady, und ich werde mein Bestes tun, damit alles zu Ihrer Zufriedenheit ist.«
Lächelnd schüttelte Madeline den Kopf. »Vorerst möchte ich nichts verändern. Sie haben bisher glänzende Arbeit bei der Einrichtung geleistet, Bramsley, und mir wäre es sehr lieb, würden Sie sich dieser Dinge auch weiterhin annehmen.«
Der Majordomus erwiderte ihr Lächeln sogar und fragte, wie er ihr sonst zu Diensten sein könnte. Kurz darauf schickte er eine Zofe nach oben, die Madeline half, ihre schlichte Garderobe auszupacken und ihr Kleid zu wechseln, wie es für eine Countess üblich war. Und Bramsley hatte einen Diener bereitstehen, als sie wieder nach unten kam, der Madeline zur Akademie fahren würde.
Jane Caruthers war überrascht, sie zu sehen, nickte aber verständnisvoll, als Madeline ihr erklärte, dass Haviland geschäftlich in London wäre. Und ihre Schülerinnen freuten sich über ihren Besuch. Besonders faszinierte sie alle, dass Madeline über Nacht zur Countess geworden war.
Madeline selbst erlebte bei ihrer Rückkehr nach Riverwood eine Überraschung, denn Bramsley teilte ihr mit, dass Raynes Großmutter, die verwitwete Countess Haviland, im Salon auf sie wartete.
Rasch legte Madeline ihren Hut, die Pelisse und die Handschuhe ab und begab sich zum Salon. Als sie hereinkam, saß die grauhaarige Adlige in einem Lehnsessel am Kamin.
Lady Haviland, die ihre Reisekleidung noch nicht abgelegt hatte, war älter als Madeline gedacht hätte, wirkte jedoch nicht gebrechlich. Vielmehr hielt sie sich steif vor Wut, als sie sich umdrehte und Madeline kritisch musterte.
Sie blieb stocksteif sitzen und fragte eisig: »Was höre ich da, dass mein Enkel Sie gestern geheiratet hat, Miss Ellis?«
Madeline trat weiter ins Zimmer. Offenbar hatte ihre Ladyschaft ein Rückgrat aus Eisen, passend zu ihrem Hochmut, doch als Raynes Verwandte verdiente sie Respekt.
Bevor Madeline sich auch nur höflich vorstellen konnte, schüttelte sich Lady Haviland angewidert. »Meine Freundin, Lady Perry, die hier in der Nähe lebt, warnte mich vor, aber ich wollte die empörende Neuigkeit nicht glauben, ganz gleich wie verlässlich die Quelle war. Nun sagt mir Bramsley, dass es stimmt.«
Madeline wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Bei ihrer mürrischen Arbeitgeberin war Humor stets das beste Mittel gewesen. Nur schien Lady Haviland nicht in der Stimmung, sich mittels Humor ablenken zu lassen.
»Ja, es ist wahr«, bestätigte Madeline ruhig. »Ich bedaure, dass Sie durch Dritte von unserer Vermählung erfahren mussten, Lady Haviland, und ich vermutete bereits, dass es Sie wenig erfreut.«
»Erfreut? Nein, das bin ich wahrhaftig nicht! Es ist mehr als abstoßend, dass Haviland einen mittellosen Niemand heiratet, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen!«
»Möglicherweise wartete er deshalb, ehe er es Ihnen sagte – weil er ahnte, dass Sie nicht zustimmen würden.«
»Es ist unverzeihlich!«, zischte die Lady. »Ich war bei einer Hausgesellschaft in Brighton, kam aber umgehend her, als ich es hörte. In meinem Alter und bei der schwachen Konstitution meines Herzens kann eine solch eilige Reise sehr leicht den Tod bedeuten. Und ich stelle fest, dass sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet haben.«
Madeline war bereit, der Witwe ihre Unhöflichkeit nachzusehen. Es war nur natürlich, dass sie schockiert, sogar entsetzt war. Falls sie ihrem Enkel zugeneigt war, wünschte sie sich das Beste für ihn. Gewiss wollte sie den Namen und den Titel der Familie verteidigen. Und Rayne hatte eine Braut gewählt, die gänzlich anders war als all die Debütantinnen, von denen seine Großmutter eine für ihn vorgesehen haben dürfte.
»Diese Heirat ist nicht hinnehmbar«, sagte die Witwe. »Sie sind nichts weiter als eine niedere Bedienstete. «
»Ich bin die Tochter eines Gentlemans, Mylady.«
Lady Haviland sah sie verächtlich an. »Ihr Vater war ein gemeiner Soldat.«
»Mein Vater war ein Offizier im Dienst des Duke of Wellington.«
»Pah, es ist wohl kaum eine Qualifikation für die Countess of Haviland, Armeegesindel zu entstammen! «
Unwillkürlich ballte Madeline die Hände zu Fäusten. Sie könnte darauf hinweisen, welche Opfer ihr heroischer Vater für sein Land gebracht hatte, welchen Gefahren er sich stellte. Aber vermutlich würde nichts die niedrige Meinung der Witwe ändern.
»Ihre Abstammung ist noch in anderer Hinsicht fragwürdig«, fuhr ihre Ladyschaft angewidert fort. »Ihre Mutter war Französin.« Es klang wie ein Schimpfwort.
Damit war Madelines Toleranzschwelle erreicht, und sie entgegnete betont süßlich: »Ja, meine Mutter war Französin, Lady Haviland. Und ihre Vorfahren beiderseits waren schon vor den Zeiten der normannischen Eroberungskriege adlig, als die Ihrigen noch als Bauern auf dem Feld gearbeitet haben dürften. «
»Impertinentes Mädchen! Hüten Sie Ihre freche Zunge.«
Ihre Zunge hatte Madeline schon manches Mal in Schwierigkeiten gebracht, und so schwer es ihr fiel, angesichts der Beleidigungen Ruhe zu bewahren, wollte sie Raynes Großmutter nicht vollends vergällen.
Also bemühte sie sich um ein höfliches Lächeln. »Sie halten mich eindeutig für unwürdig, Ihren Titel zu tragen, Lady Haviland, aber ich wurde nicht arm oder als Bedienstete geboren, und Ihr Enkel erachtete meine Abstammung offenbar für angemessen.«
Die Witwe musterte sie nochmals finster. »Es ist nicht nur Ihre Abstammung, die ein Problem darstellt. Sehen Sie sich an. Sie sind praktisch in Lumpen gekleidet!«
Madeline trug ein schlichtes Tageskleid, das offen gesagt bessere Tage gesehen hatte.
»Schlimmer noch, Sie sind ein derbes Landmädchen. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, welche Erwartungen mit Havilands Rang einhergehen? Welche Eleganz von jemandem in seiner Stellung gefordert wird?«
»Haviland selbst scheint keine Einwände gegen meine Erscheinung zu haben. Wie können Sie es dann, Mylady?«
Raynes Großmutter stand auf. »Offensichtlich ist es sinnlos, diese Unterhaltung fortzusetzen, da Sie sich eindeutig gegen mich stellen wollen. Sie sollten allerdings wissen, dass Sie ohne meine Unterstützung von der feinen Gesellschaft geschnitten werden. «
»Welch fürchterliche Strafe«, murmelte Madeline.
Die Witwe sah zornig aus. »Mir ist schleierhaft, welche Listen Sie einsetzten, um einen Gentleman so weit über Ihrem Stand einzuwickeln, aber Sie haben Haviland zweifellos blind für alles gemacht, was er unserem guten Namen schuldig ist. Besitzen Sie keinerlei Schamgefühl, Mädchen?«
»Ich bin kein Mädchen mehr.«
»Fürwahr. Sie sind eine jungferliche Vermögensjägerin. Nun, ich habe eine Neuigkeit für Sie, Miss Ellis. Sie werden niemals auch nur einen Penny von meinem Vermögen sehen. Mein Enkel sollte meine beträchtlichen Besitztümer erben, doch ich beabsichtige, ihm nichts zu geben, ehe er nicht zur Vernunft kommt.«
Die Drohung machte Madeline Angst. Sie wollte nicht, dass Rayne sein rechtmäßiges Erbe verlor, weil er sich herabließ, sie zu heiraten.
Lady Haviland kam jeder Erwiderung mit einer Frage zuvor. »Wurde Ihre Vermählung schon in den Zeitungen bekanntgegeben?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Die Witwe wirkte erleichtert. »Dann ist es noch nicht zu spät.«
»Zu spät wofür?«
»Eine Annullierung selbstverständlich!«
Madeline erschrak. Könnte Raynes Großmutter gelingen, was ihr nicht gelungen war? Sie selbst hatte Rayne wiederholt darauf hingewiesen, dass sie nicht die angemessene Wahl für ihn wäre. Würde er womöglich auf seine geliebte Verwandte hören? Falls Rayne jetzt eine Annullierung verlangte …
Nein, sie weigerte sich, an solch eine schreckliche Möglichkeit zu denken. Stattdessen reckte Madeline trotzig das Kinn. »Falls Sie so sehr gegen unsere Verbindung eingenommen sind, Lady Haviland, schlage ich vor, dass Sie die Angelegenheit mit Ihrem Enkel besprechen.«
»Das habe ich vor!«
Madeline ging zum Klingelband an der Tür. »Nachdem Sie mich auf jede nur erdenkliche Weise beleidigt haben, bitte ich Bramsley, Sie zu Ihrer Kutsche zu bringen.«
Bebend vor Zorn sah Lady Haviland sie an wie ein besonders scheußliches Insekt und schritt grußlos nach draußen.
Rayne wäre nicht froh, dass sie so offen mit seiner Großmutter gestritten hatte. Aber hatte sie eine andere Wahl gehabt?
Sie versuchte sich zu beruhigen, konnte jedoch nicht umhin, über das nachzudenken, was Lady Haviland gesagt hatte.
Unglücklich blickte sie an ihrem Kleid hinab, das ihre adlige Besucherin so abstoßend gefunden hatte. Zugegeben, es verletzte ihren Stolz zu hören, sie wäre in Lumpen gekleidet. Und falls sie ihren Platz als Raynes Gemahlin behaupten wollte, müsste sie sich entsprechend kleiden. Rayne spottete gern über die feine Gesellschaft und deren Regeln, doch Madeline hatte auch ohne die zu schlichte Kleidung schon zu viele Mängel vorzuweisen.
Madeline ging zum Sekretär und wollte eine Nachricht an Arabella schreiben. Ihr war nicht wohl dabei, ihre Nachbarin einen Tag nach der Heirat um Rat zu bitten, denn sie gestand höchst ungern, dass ihr Ehemann sie während der Hochzeitsnacht verlassen hatte.
Andererseits wünschte Rayne, dass sie sich von Arabella bei der Auswahl ihrer Garderobe helfen ließ – zweifellos weil er fürchtete, Madeline hätte nicht den passenden Geschmack oder würde sich weigern, modische Kleidung schneidern zu lassen, weil sie es als »Almosen« empfand.
Aber Madeline war stolz genug, um sich angemessen kleiden zu wollen, auf dass sie seiner Großmutter oder deren Verbündeten nächstes Mal hocherhobenen Hauptes entgegentreten konnte. Zu diesem Zweck würde sie sich ein oder zwei neue Kleider von Arabellas Schneiderin fertigen lassen.
Sie mochte aus Vernunft geheiratet haben, dachte Madeline, während sie im Sekretär nach Briefpapier und Feder suchte, aber das hatten zahllose andere Frauen auch. Und sie würde das Beste aus ihrer Situation machen.
»Mich wundert nicht, dass du diese Aufgabe annahmst«, sagte Will Stokes grinsend. »Ich wusste immer, dass dir ein Leben des Müßiggangs nie gefallen würde. Und du könntest nicht tatenlos zusehen, wenn ein Leben auf dem Spiel steht – nicht einmal wenn es sich um das unseres erbärmlichen Regenten handelt.«
»Dem widerspreche ich nicht«, antwortete Rayne. Das letzte Jahr als reicher Erbe ohne Betätigung war entsetzlich langweilig gewesen. Und was Prinny anging, hatte Stokes gleichfalls Recht: Er gab einen miserablen Regenten ab, der seine Untertanen gegen sich aufbrachte, indem er gewaltige Summen für sein Privatvergnügen verschleuderte. Nur verdiente er deshalb nicht gleich, hinterhältig ermordet zu werden.
Rayne hatte den Tag vornehmlich mit der Einleitung seiner Ermittlungen zugebracht. Gegenwärtig saß er in dem kleinen Salon in Wills Heim, wo sie die letzten Details ihrer Operation besprachen und einen exzellenten Portwein tranken. Will hatte ihn zur Beförderung bei den Bow Street Runners geschenkt bekommen.
Ihre Vorgehensweise heute hatte sich nicht sonderlich von der bei früheren Aufträgen unterschieden, ausgenommen, dass sie hier im eigenen Land spionierten. Sie beide hatten so viele Jahre zusammengearbeitet, dass sie beinahe die Gedanken des jeweils anderen lesen konnten. Will war besonders gut, wenn es um Verkleidungen ging, während Raynes Größe es schwer für ihn machte, in einer Menge unterzutauchen. Deshalb war er meist der Planer und Stratege, der im Hintergrund agierte.
Spionage drehte sich um Intrigen und Lügen, und Rayne hatte sich bei diesem Spiel als äußerst talentiert erwiesen. Im diplomatischen Dienst stieg er schnell auf, bis er nur noch die wichtigsten Aufgaben zugeteilt bekam. Dann, vor fünf Jahren, hatte er auf Veranlassung des Außenministers Viscount Castlereagh einen Elitekader von Agenten zusammengestellt, die seinem Kommando unterstellt waren.
Er leitete die Einsätze selbst, dirigierte mehrere Männer und drei Frauen, die französische Geheimnisse ausspionierten, einen großen Informantenstab aufbauten, für die Bestechungsmittel sorgten, Nachrichten aus verschiedenen Sprachen übersetzten, Kuriere abfingen und die feindlichen Spione verfolgten.
Nun sollte er also eine mögliche Verschwörung gegen den Prinzregenten aufdecken. Vor annähernd neun Monaten war der erste Anschlag auf Prinny verübt worden, bei dem zwei Kugeln durch sein Kutschenfenster flogen, als er auf dem Rückweg von der Parlamentseröffnung war. Den Schützen hatte man nie gefasst. Ardens Informationen zufolge hatte sich ein politischer Geheimbund in den South Midlands formiert, der die britische Monarchie stürzen wollte. Zwei Männer, Brüder, galten als Anführer der Revolutionäre und verbreiteten seit neuestem auch in London Unfrieden.
Von Raynes früheren Mitarbeitern gingen viele inzwischen anderen Beschäftigungen nach, wie Will. Letzterer hatte sich vorübergehend von der Bow Street freistellen lassen, und neben ihm hatte Rayne einige andere Männer verpflichten können, denen er vertraute. Die nächsten zwei Wochen wollten sie die Verdächtigen beobachten und nach Gelegenheiten Ausschau halten, ihre Organisation zu infiltrieren.
»Und, wie gefällt dir die Ehe?«, wechselte Will das Thema. »Ich gestehe, dass ich perplex war, als du plötzlich beschlossen hast, zu heiraten.«
Rayne zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte er schon früher mit einer solchen Frage gerechnet. »Ganz gut«, antwortete er. »Aber es ist zu früh, etwas zu sagen, denn ich bin ja noch nicht einmal einen ganzen Tag verheiratet.«
»Ich hätte gedacht, dass du nach einer anderen Art Frau suchst. Deine neue Lady scheint mir kaum eine fügsame Gemahlin.«
Rayne musste lachen. »Nein, fügsam ist sie nicht.«
»Warum hast du sie dann geheiratet? Weil deine Großmutter will, dass du eine Kinderstube einrichtest? «
»Das und weil ich es Madelines Vater schuldig bin, für sie zu sorgen. Du kanntest David Ellis. Sie ist seine Tochter.«
»Ah«, sagte Will verständnisvoll, denn er wusste von Rayne und Captain Ellis und hatte entsprechend keine Mühe, Raynes Entschluss nachzuvollziehen.
Dann nippte Will an seinem Port und blickte Rayne fragend an. »Solltest du nicht bei deiner neuen Braut sein? Als Sal und ich frisch vermählt waren, verbrachten wir unsere ganze erste Woche im Bett. Neun Monate später war unser kleiner Harry da.«
Rayne täte nichts lieber, als nach Riverwood zurückzufahren und die nächste Woche mit Madeline im Bett zu verbringen, aber das erlaubte er sich nicht. »Ich will eine Weile hier in London bleiben und abwarten, ob wir irgendwelche Fortschritte machen.«
Will schüttelte grinsend den Kopf. »Du hast die Pflicht schon immer über das Vergnügen gestellt.«
Vergnügen wäre auch der Ausdruck, der Rayne in den Sinn kam, wenn er an sein Ehebett dachte, zumal ihn nun Erinnerungen an die letzte Nacht einholten.
Seine Reaktion auf ihren Liebesakt war unerwartet heftig ausgefallen, und genau deshalb war es klug, seiner jungen Braut vorerst fernzubleiben.
»Sie muss sehr anders sein als Mademoiselle Juzet, dass du riskiert hast, sie zu ehelichen«, bemerkte Will.
Unweigerlich biss Rayne die Zähne zusammen. Will war einer der wenigen, die von seiner schmerzlichen Erfahrung wussten.
Dabei verstand Rayne, warum Camille damals tat, was sie tat. Sie hatte ihre Familie über alles geliebt, und ihre treue Ergebenheit hatte alle Gefühle überschattet, die sie für Rayne entwickelt haben mochte. Als ihr Vater bei Fouchés tödlicher Geheimpolizei in Ungnade fiel und die ganze Familie in Lebensgefahr geriet, hatte Camille daher keine Skrupel gehabt, Rayne zu verführen, damit er sie sicher nach England brachte. Nur hätte Rayne ihre Familie auch gerettet, hätte Camille ihm einfach die Wahrheit gesagt. Stattdessen hatte sie ihn dazu gebracht, sich in sie zu verlieben.
Er hatte Camille nie wiedergesehen, obgleich er wusste, dass sie und ihre Familie nach Kriegsende nach Frankreich zurückgekehrt waren. Das damalige Erlebnis veränderte ihn grundlegend. Auch wenn er nicht mehr verbittert war oder zynisch über die Liebe dachte, blieb er vorsichtig.
Natürlich konnte er nicht umhin, seine erste Liebe mit seiner neuen Gemahlin zu vergleichen. Camille hatte ihn wegen seiner Beziehungen und seines Reichtums begehrt, was ein Hauptgrund war, weshalb Madeline ihn so sehr angezogen hatte. In diesem Punkt wie auch in vielen anderen war sie das Gegenteil von Camille.
Vor allem aber war Madeline keine Verführerin wie Camille. Rayne bezweifelte, dass sie sich jemals hinter seinem Rücken einen Liebhaber nehmen würde, zumal ihr Äußeres zu unscheinbar war, was Rayne sehr beruhigend fand.
Will unterbrach Raynes Gedanken, indem er sein Glas erhob. »Ich hoffe, du wirst genau solch ein Eheglück genießen wie ich, mein Freund.«
Rayne leerte seinen Portwein. Glück in der Ehe zu genießen, hatte er nicht geplant.
Als er in sein Stadthaus zurückkam, fand Rayne eine Nachricht von seiner Großmutter, er solle umgehend zum Haviland-Herrenhaus am Berkeley Square kommen. Er grinste über die harschen Worte in dem kurzen Schreiben. Es überraschte ihn nicht weiter, dass Lady Haviland wieder in der Stadt war, denn ihr Netzwerk an Gesellschaftsspionen war nicht minder effizient als es sein eigenes internationales gewesen war.
Da er ihre Einwände gegen seine Heirat vorausahnte, hatte er es dennoch nicht eilig, ihrem Ruf zu folgen. Zuerst zog er sich in aller Ruhe um, weil er nach dem Besuch bei seiner Großmutter im Brooks Club zu dinieren gedachte.
Am Berkeley Square musste er eine geschlagene Viertelstunde warten, ehe man ihn nach oben in Lady Havilands Schlafgemach bat.
Dort lag sie im Bett, die Augen geschlossen und einen kalten Wickel auf der Stirn. Ihre Gesichtsfarbe war allerdings entschieden zu rosig für jemanden, der sich unpässlich fühlte. Und Rayne wusste mittlerweile, dass das Herz seiner Großmutter immer dann angeblich zu versagen drohte, wenn sie ein Druckmittel gegen ihn brauchte.
Schließlich ließ sie sich herab, die Augen zu öffnen, und Rayne begrüßte sie mit einem Handkuss. »Ich bedaure, dass du dich unwohl fühlst, Großmutter«, murmelte er.
Sie betrachtete ihn streng. »Du weißt sehr wohl, dass du der Grund für meine Herzbeschwerden bist, mein Junge.«
»Wenn du unter Herzbeschwerden leidest, meine Gute, hättest du nicht allein von Brighton herreisen dürfen. Ich hatte geplant, dich am Wochenende abzuholen und nach Haviland Court zu bringen. «
»Ich konnte doch nicht bis zum Ende der Woche warten, ehe ich die entsetzliche Wahrheit bestätigt finde! Wie konntest du, Rayne? Wie konntest du dieses nichtssagende Ding heiraten, das es nur auf dein Vermögen abgesehen hat? Mein Ansehen ist auf immer ruiniert!«
»Ich bezweifle, dass meine Ehe dein hohes Ansehen beeinträchtigt, Großmutter.«
Sie entriss ihm ihre Hand. »Du weißt nichts! Aber die Erniedrigung, der ich fortan ausgesetzt sein werde, ist nur teils Grund, weshalb ich so verzweifelt bin. Wie ich heute Nachmittag feststellte, ist Miss Ellis noch schlimmer, als ich es mir ausmalte!«
»Du warst in Riverwood?«
»Gewiss war ich! Ich musste mich doch selbst überzeugen. Und Miss Ellis war unverzeihlich dreist und impertinent.«
Rayne musste sich ein Grinsen verkneifen. Das Treffen hätte er zu gern miterlebt, auch wenn er Madeline die Konfrontation lieber erspart hätte. Doch er war sicher, dass sie sich gegen die Anwürfe seiner Großmutter zu wehren wusste.
»Warum hast du ausgerechnet dieses Weibsbild gewählt? «, fragte Lady Haviland.
»Weil ich zu dem Schluss kam, dass all die Damen, die ich bisher kennenlernte, mich binnen einer Woche Ehe in den Wahnsinn treiben würden.«
»Du begingst eindeutig einen schwerwiegenden Fehler, Rayne. Wie gut kennst du diese Frau überhaupt? «
»Gut genug. Ihr Vater war ein enger Freund von mir.«
Er würde nicht erwähnen, wie sehr er David Ellis verpflichtet war. Seine Großmutter sollte lieber denken, dass er Madeline um ihrer selbst willen ausgewählt hatte.
»Madeline ist eine gute Partie für mich, Großmutter. Ich bin stolz, sie meine Gemahlin zu nennen, und ich gehe davon aus, dass du es eines Tages gleichfalls sein wirst. Aber falls nicht, vertraue ich darauf, dass du sie dennoch in der Familie willkommen heißt.«
Lady Haviland hob eine Hand und drückte das Tuch fester auf ihre Stirn. »Das kann ich unmöglich, Rayne. Und ich werde dir wohl nie vergeben können. Das Einzige, worum ich dich jemals bat, war, anständig zu heiraten, und nun hast du alles ruiniert.«
»Ich stimmte zu, eine vornehme junge Dame zu heiraten, damit ich einen Erben zeugen kann, und genau das tat ich. Ich habe mein Versprechen dir gegenüber erfüllt, meine Gute.«
»Du hast nichts dergleichen getan!«
Rayne ließ sich nicht von ihrem zornigen Blick einschüchtern. »Hast du vergessen, warum du mich verheiratet sehen wolltest? Deine Sorge war, dass der Haviland-Titel mitsamt Vermögen an meinen Onkel Clarence gehen könnte.«
»Selbstverständlich war das meine Sorge. Clarence ist ein Spieler und Tunichtgut, der den Titel nicht verdient. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich mir wünschte, dass du heiratest. Ich sorgte mich um deine Zukunft, Rayne. Und nun sorge ich mich um die deiner Kinder. Dir mag unser vornehmer Stammbaum nicht viel bedeuten, aber ich wünsche nicht, dass meine Urenkel von französischem Blut befleckt sind.«
»Ich habe deinen Einwand zur Kenntnis genommen, Großmutter, und ich möchte ihn nie wieder hören. «
»Kümmert dich denn gar nicht, was ich denke?«
»Doch, tut es, und wie du dich gewiss entsinnst, führten wir dieses Gespräch bereits. Ich willigte ein, deinen Wünschen bis zu einem bestimmten Grad zu entsprechen, aber ich lasse dich nicht über mein Leben entscheiden oder mir von dir vorschreiben, wen ich heirate.«
Ihre Miene verhärtete sich. »Ich vermute, dass ich mit einem solchen Eklat hätte rechnen müssen. Du warst immer schon ein sturköpfiger Rebell. Und ich war so glücklich, als du versprachst, deine wilden Abenteuer aufzugeben!«
Rayne hatte nicht die Absicht, ihr zu erzählen, dass er nach wie vor Abenteuern nachjagte. Ebenso wenig würde er sie drängen, Madeline zu akzeptieren. Seine Großmutter brauchte Zeit, um sich mit den Tatsachen zu arrangieren, und die wollte Rayne ihr geben.
Lady Haviland indes war noch nicht bereit aufzugeben. Sie setzte sich übertrieben mühsam im Bett auf und ergriff Raynes Arm. »Es ist noch nicht zu spät, die Ehe annullieren zu lassen, Rayne. Wir können sagen, dass du ein wenig verspätet zur Vernunft kamst und deinen Fehler erkanntest.«
Rayne sah sie prüfend an und fragte sich, ob sie seiner Braut den Krieg erklären wollte.
»Es wird keine Annullierung geben, Großmutter«, erwiderte er. »Du musst dich mit meiner Wahl abfinden. «
Das Blitzen in ihren Augen war unmissverständlich. »Das werde ich nie!«
»Also bleiben wir auf immer zerstritten.«
Lady Haviland starrte ihn empört an, bevor sie ihre Hand zurückzog. »In diesem Moment erst erkenne ich, wie herzlos du bist, Rayne. Die Klatschbasen schärfen bereits ihre üblen Zungen, aber ich werde ihr Gift abbekommen, nicht du.«
»Du solltest sie ignorieren.«
»Als könnte ich! Das Mindeste, was du tun kannst, ist die Heirat nicht offiziell in der Morning Post oder dem Chronicle bekanntzugeben. Ich möchte nicht Schwarz auf Weiß der Lächerlichkeit preisgegeben werden.«
Dem könnte er zustimmen, denn er wollte Madeline nicht sofort der gnadenlosen Begutachtung aussetzen. Sie sollte sich erst als seine Countess eingewöhnen. »Nun gut, ich werde keine Ankündigung an die Zeitungen geben.«
Seine Großmutter seufzte. »Natürlich hat sich die Heirat längst herumgesprochen. Einen Skandal dieser Größenordnung kann man nicht lange geheimhalten. «
»Es ist wohl kaum ein Skandal.«
»Aber gewiss ist es einer! Und er wird mein Tod sein.«
Er verneigte sich. »Das wäre äußerst unglücklich, meine Gute. Allerdings hege ich große Hoffnung, dass du all deine Enkelkinder überlebst. Und deshalb werde ich deine Ärzte herbeirufen, damit sie sich umgehend deiner annehmen.«
Sie zögerte, ehe sie abwinkte. »Das ist unnötig. Ich leide im Stillen, wie ich es immer tue. Und jetzt geh, wo du doch so entschlossen bist, nicht auf mich zu hören.«
Rayne hatte sie provoziert, denn er wusste, wie sehr sie es hasste, von Ärzten untersucht zu werden. »Wie du wünschst, Großmutter.«