Zwölftes Kapitel
Ich beschloss, mein Schicksal in die Hand zu nehmen, Maman.
Ihren jüngsten Brief an Gerard brachte Madeline selbst nach Chiswick. Nach dem, was mit ihrer ersten Korrespondenz geschah, wollte sie nicht riskieren, dass Raynes Bedienstete ihm berichteten, sie hätte erneut ihrem Bruder geschrieben.
Als sie nach Riverwood zurückkehrte, wartete eine Nachricht von Arabella auf sie, die vorschlug, dass sie am nächsten Tag gemeinsam nach London fuhren und dort ihre Schneiderin sowie einige andere Geschäfte besuchten.
Im Sekretär im Salon war kein Briefpapier mehr, weil Madeline die letzten Bögen benutzt hatte, um Arabella und Gerard zu schreiben. Da sie Bramsley nicht bemühen wollte, beschloss Madeline, selbst welches zu suchen, womit sie am naheliegendsten Ort begann: in Raynes Studierzimmer.
Die meisten Schubladen seines Schreibtisches waren verschlossen, wie sie feststellte, aber die untere linke nicht. Dort drinnen fand sie einen schmalen Stapel Papiere, auf denen Namen in einer weit ausschwingenden Schrift aufgelistet waren. Sie vermutete, dass Rayne sie verfasst hatte.
Madeline wollte sie schon zurücklegen, als ihr ein unterstrichener Name ins Auge fiel: Roslyn Loring. Neugierig überflog sie die ganze Liste. Es handelte sich um insgesamt drei Dutzend Frauennamen, und Rayne hatte neben jedem Anmerkungen gemacht.
Anscheinend waren es die Kandidatinnen, die er für eine Ehe in Erwägung gezogen hatte.
Nun sah Madeline genauer hin. Rayne hatte drei Spalten neben den Namen eingezeichnet. Die erste war mit »Merkm.« überschrieben, und darunter waren äußere Merkmale aufgeführt, einschließlich der Haarfarbe – vielleicht damit er die Damen nicht verwechselte.
In den beiden anderen Spalten waren Beschreibungen der Intelligenz, der Persönlichkeit und des Charakters vermerkt. Unter »Intell.« hatte er jeder Dame Noten von 0 bis 9 gegeben, doch unter »Pers./Char.« standen Stichworte:
Lebhaft. Scheu. Charmant. Redet zu viel. Langweilig. Todlangweilig. Mindestens die Hälfte der Kandidatinnen wurden als »langweilig« oder mit Variationen von »öde« bewertet, aber es gab auch noch weniger schmeichelhafte Urteile wie etwa einfältig, unterwürfig, eitel und gierig.
Ein Anflug von Eifersucht regte sich in ihr, als sie sah, dass Roslyn Loring eine 9 in Intelligenz und »faszinierend« in punkto Persönlichkeit bekommen hatte – eindeutig die höchste Bewertung auf der ganzen Liste. Und doch fiel Madeline auf, dass das Attribut »schön« nirgends stand.
Wenn dies Raynes Übersicht über die Vorzüge und Nachteile seiner bisherigen Brautkandidatinnen war, durfte sie vielleicht Mut schöpfen, denn ihm schienen Geist und Esprit wichtiger als Schönheit.
»Kann ich Ihnen helfen, Mylady?«
Erschrocken blickte Madeline zu Bramsley auf, der in der Tür stand und sie stirnrunzelnd ansah.
»Ich war auf der Suche nach Schreibpapier«, erklärte sie hastig.
»Vergeben Sie mir, Mylady, dass ich es nicht früher erwähnte. Lord Haviland erlaubt niemandem, seinen Schreibtisch zu berühren. Genau genommen bin ich der einzige Bedienstete, der überhaupt dieses Zimmer betreten darf.«
Rasch steckte Madeline die Listen wieder in die Schublade und stand auf. »Ich muss um Verzeihung bitten. Ich ahnte nicht, dass mir hier der Zutritt verboten ist. Aber selbstverständlich werde ich den Wunsch seiner Lordschaft fortan respektieren.«
Es verwunderte sie nicht einmal, dass Rayne großen Wert auf seine Privatsphäre legte, bedachte man, dass seine Laufbahn auf Geheimnissen basierte.
»Ich bringe Ihnen gern das Schreibpapier, das Sie benötigen, Mylady«, sagte Bramsley.
»Ja, sehr freundlich«, entgegnete Madeline.
Sie ging vor ihm aus dem Zimmer, dessen Tür er sorgfältig hinter ihnen schloss. Um das unangenehme Thema zu wechseln, sagte Madeline: »Ich werde morgen mit Lady Danvers nach London fahren, um ihre Schneiderin aufzusuchen, also falls Sie etwas aus der Stadt brauchen, könnte ich es Ihnen mitbringen.«
Erst als Bramsley sie entgeistert anstarrte, begriff Madeline, dass sie einen Fauxpas begangen hatte.
Sie lächelte reumütig. »Ich schätze, ich bin meinen Gewohnheiten als frühere Gesellschafterin noch zu sehr verhaftet. Mein Angebot war vollkommen fehl am Platze, nicht wahr? Natürlich haben Sie hinreichend Bedienstete, die Ihre Besorgungen erledigen.«
Seine Miene wurde merklich nachgiebiger. »Ja, die haben wir, Mylady.«
»Zweifelsohne wird es noch einige Zeit dauern, ehe ich gelernt habe, was von mir erwartet wird, also hoffe ich, Sie sehen es mir nach.«
»Gewiss, Mylady«, sagte der Majordomus beinahe warmherzig. »Aber wenn Sie nach London wollen … Auch das hätte ich früher erwähnen müssen: Seine Lordschaft bat mich, Sie über die finanziellen Arrangements zu informieren, die er für Sie traf. Alle Rechnungen, die man Ihnen ausstellt, sollten an die Londoner Residenz geschickt werden. Darüber hinaus hat er Ihnen eine Summe für kleinere persönliche Anschaffungen zugeteilt. Was das Anwesen betrifft, führe ich die Bücher für Haushalt und Ländereien, aber seine Lordschaft möchte, dass ich sie Ihnen ebenfalls zugänglich mache. Falls Sie wünschen, Mylady, bringe ich sie Ihnen zusammen mit dem Schreibpapier zur Durchsicht.«
Madeline war geradezu absurd erfreut, weil Rayne sich erinnerte, dass sie auf der Farm ihrer Familie jahrelang alle Bücher geführt hatte. »Das ist mir sehr recht, Bramsley. Bringen Sie mir die Bücher und das Papier doch bitte in den Salon.«
»Wie Sie wünschen, Lady Haviland.«
Er verneigte sich und ging. Während Madeline sich langsam zum Salon zurück begab, waren die Bücher trotzdem nicht vorrangig in ihren Gedanken. Das war Raynes Liste.
Ihr Name war nicht aufgeführt gewesen, doch konnte sie nicht umhin sich zu fragen, wie er sie bewerten würde. Sie hatte befürchtet, nie mit all den Schönheiten mithalten zu können, die sich ihm zu Füßen warfen, doch vielleicht war ihre Unscheinbarkeit am Ende gar kein solch großer Nachteil.
Dennoch tat sie gut dran, ihre Erscheinung für ihn so anziehend wie möglich zu machen. Eine neue Garderobe würde helfen, auch wenn drastischere Maßnahmen als die eindeutig vonnöten waren.
Vor allem aber war Madeline es müde, in Selbstmitleid zu schwelgen. Sie mochte sich närrischerweise in Rayne verliebt haben, aber da sie nun einmal ihre Gefühle für ihn nicht ändern konnte, war die beste Lösung, dass sie versuchte, seine für sie zu ändern – oder sein Begehren wenigstens hinreichend zu wecken, dass er das Bett nicht nur zwecks Erfüllung der ehelichen Pflicht teilte.
Madeline überlegte. Eine wahre Soldatentochter würde ihre Verteidigung stärken und Verstärkung rufen; nur auf wen könnte sie zählen? Sie hatte weder Schwestern noch enge Freundinnen, mit denen sie weibliche Angelegenheiten bereden konnte. Entsprechend stand sie vollkommen allein gegen einen Ehemann, der sie lediglich der Kinder wegen wollte, die sie ihm gebären würde.
Andererseits … Arabella war bereit, ihr beim Aussuchen der Garderobe zu helfen. Könnte Madeline sie auch um Rat bitten, wie man einen Mann wie Rayne gewann? In seinen Augen wäre Madeline nie so liebreizend wie Roslyn Loring, aber vielleicht könnte sie verlockend genug werden, ihn etwas länger in ihrem Bett zu halten.
Und schließlich hatte sie den Vorteil, dass sie mit ihm verheiratet war. Selbst wenn sie seine Leidenschaft gegenwärtig nicht entfachen konnte, bekäme sie noch reichlich Gelegenheit, sein Verlangen zu erregen.
Madeline dachte lange über eine neue Strategie für ihre Ehe nach, so dass sie bis zu Arabellas Ankunft am nächsten Morgen beschlossen hatte, ihren Stolz beiseitezulassen und ihre Nachbarin um Hilfe auf einem intimeren Gebiet als Mode zu bitten.
Arabellas erste Worte jedoch machten Madeline hadern.
»Ich berate Sie natürlich mit Freuden beim Aussuchen neuer Kleider, aber meine Schwester Roslyn hat ein besseres Auge für Stile und Farben als ich. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich so frei war, sie einzuladen, uns zu begleiten.«
Madeline war nicht sonderlich froh. Arabella hatte sie mittlerweile ein wenig besser kennengelernt, doch Roslyn war quasi eine Fremde. Dennoch verbot sich jeder Einwand.
»Es ist mir unangenehm, Ihre Durchlaucht zu bemühen«, sagte sie.
»Nein, nein, es ist keine Mühe! Roslyn hilft Ihnen sehr gern. Und in gewisser Weise löst sie damit ihr Versprechen Haviland gegenüber ein. Wir hatten versucht, eine passende Braut für ihn zu finden, und nachdem er nun ganz allein die Richtige gefunden hat, ist es nur angemessen, dass wir helfen, Ihre Einführung in die Gesellschaft zu einem Erfolg zu machen.«
»Nun, wenn Sie sicher sind, dass es Ihrer Schwester keine Last ist …«
»Ich bin«, beteuerte Arabella. »Die feinen Kreise können es nicht erwarten, Havilands neue Countess zu sehen, und als eine Duchess kann Roslyn Ihnen den Weg weit besser ebnen als ich. Was mich betrifft«, fügte sie lächelnd hinzu, »habe ich ganz selbstsüchtige Gründe, Ihr Ansehen zu fördern. Ich bin nämlich äußerst dankbar, dass Sie planen, weiterhin an der Akademie zu unterrichten, Madeline. Nicht bloß ersparen Sie mir, nach einem Ersatz zu suchen, sondern die Schülerinnen beten Sie an und wären zutiefst betrübt, sollten Sie aufhören, nur weil Sie einen Adligen geheiratet haben.«
Bei dem Lob errötete Madeline. »Mir ist es ein Vergnügen, sie zu unterrichten.«
»Was es hoffentlich noch lange Zeit bleiben wird. Aber ich vermute, Sie würden lieber über unsere Einkäufe heute sprechen.« Arabella warf einen Blick auf Madelines sehr schlichte Pelisse. »Haben Sie eine bestimmte Summe im Sinn, die Sie für neue Garderobe ausgeben wollen?«
»Die Kosten scheinen nicht von Belang zu sein«, antwortete Madeline trocken.
Zusätzlich zu einem Konto für ihre Kleidung und andere größere Anschaffungen, hatte Rayne ihr eine schockierend großzügige Summe für kleinere Einkäufe überlassen. Momentan brannten sage und schreibe zweihundert Pfund ein Loch in ihren Handbeutel.
Ihre Kleider indes waren nicht ihre Hauptsorge. Madeline holte tief Luft und erzählte Arabella von ihrem Dilemma. Sie gestand ihr offen, dass sie eine Vernunftehe eingegangen war und nun nicht wusste, wie sie ihren Gemahl für sich erwärmen könnte.
Arabella nickte verständnisvoll und lachte leise. »Die Ehe ist stets etwas Beängstigendes, und ich wäre an Ihrer Stelle fraglos von derselben Furcht gepeinigt. Also, Sie möchten meinen Rat, wie man einen Gemahl für sich einnimmt?«
»Ja, aber noch mehr …« Madeline suchte nach den richtigen Worten. »Es ist so, Arabella, dass ich über wenig weibliche Reize verfüge, um einen Mann wie Haviland zufriedenzustellen. Vielleicht könnten Sie mir Ratschläge geben, wie ich es schaffe, dass er mich anders wahrnimmt. Wissen Sie, ich würde ihm gern eine wahrhaftige Ehefrau sein, und dafür muss ich wohl mehr verbessern als nur meine Garderobe. Lord Danvers ist so offensichtlich in Sie verliebt, deshalb fragte ich mich … ob Sie mir eventuell einige Ihrer Geheimnisse verraten könnten.«
Arabella schürzte nachdenklich die Lippen. »Natürlich will ich es gern, aber ich kenne eine Dame, die Ihnen diesbezüglich sehr viel besser Rat geben kann. Ihr Name ist Fanny Irwin. Allerdings zögere ich, Sie mit ihr bekanntzumachen, denn Sie könnten es als Affront auffassen.«
»Warum sollte ich?«
»Weil meine Freundin eine stadtbekannte Kurtisane ist. Fanny stammt aus vornehmem Hause, verließ ihre Familie jedoch mit sechzehn Jahren, um ihr Glück zu machen. Wir kennen uns schon seit frühester Kindheit, waren wir doch Nachbarn und beste Freundinnen in Hampshire.« Arabella rümpfte amüsiert die Nase. »Meine Schwestern und ich weigerten uns, ihr die Freundschaft aufzukündigen, sehr zum Verdruss der feinen Kreise, aber Sie möchten vielleicht nicht so gern mit ihr in Verbindung gebracht werden.«
Madeline war überrascht, dass die Schwestern mit einer berühmten Kurtisane Umgang pflegten, hatte jedoch keinerlei Bedenken. »Das macht mir nicht das Geringste aus. Ich bin dankbar für jede Hilfe, die sie mir geben kann.«
»Vertrauen Sie mir, Sie wird Ihnen sehr helfen können. Mir und meinen Schwestern hat sie unschätzbare Ratschläge gegeben, was das Verständnis von Männern und Ehemännern betrifft. Aber wir sollten Ihre Konsultation geheimhalten, denn wir wollen ja keinen Skandal heraufbeschwören.«
Prompt musste Madeline an Raynes Großmutter denken. »Nein, das wäre wohl unklug, bedenkt man Havilands illustre Verwandtschaft.«
»Sagten Sie nicht, er wäre geschäftlich fort?«, fragte Arabella. »Wie viel Zeit haben wir, bis er zurückkommt? «
»Ich bin nicht sicher«, gestand sie. »Das ist Teil meines Problems. Ich gehöre nicht richtig zu seinem Leben, deshalb hält er es nicht für nötig, mich über seine Pläne zu informieren.«
»Nun, das werden wir schnellstens ändern«, sagte ihre Nachbarin voller Überzeugung. »Aber wir sollten am besten den ganzen Tag in London verbringen. Während Madame Rousseau Ihre Maße nimmt, schicke ich eine Nachricht an Fanny und bitte sie, uns nachmittags zu empfangen, sofern sie Zeit hat. Und bis dahin werden wir einige Geschäfte besuchen. Nur Mut, Madeline. Roslyn und ich werden dafür sorgen, dass Sie eine tadellose Garderobe bekommen, und Fanny wird sich um den Rest kümmern. Zu dritt werden wir Sie in eine Braut verwandeln, die Haviland unmöglich übersehen kann.«
Madeline lächelte verhalten. Zum ersten Mal, seit sie ihr Ehegelübde sprach, fühlte sie sich wieder zuversichtlich. Und auf einmal war seine Abwesenheit sogar günstig, denn Madeline konnte sie nutzen, um sich von der Raupe in einen Schmetterling zu verwandeln – was zweifellos einige Zeit und Mühe kosten würde.
Sie holten Roslyn auf dem Weg zur Schneiderin ab, und Arabella erklärte ihrer Schwester während der kurzen Fahrt, was gebraucht wurde. Madeline erkannte bald, welches Glück sie hatte, dass die beiden Schwestern sie unter ihre Fittiche nahmen.
Ihr Versuch, eine modische Dame aus ihr zu machen, begann damit, unzählige Entscheidungen angesichts einer schier überwältigenden Auswahl zu treffen. Die Wahl, die beide Schwestern zusammen mit Madame Rousseau trafen, war exquisit: wunderschöne Kombinationen, die eindeutig Geschmack und Eleganz ausdrückten und überdies Madelines kurvenreichen Körper flacher und schlanker erscheinen ließen.
Das Ergebnis war ehrfurchtgebietend, und mehrmals musste Madeline schlucken, weil sie einen Kloß im Hals hatte. Noch nie hatte sie hübsche Kleider besessen – oder sich gestattet, nach welchen zu verlangen – , mithin war dieser plötzliche Überfluss, als bewegte sie sich in einem Märchen.
Der gesamte Vormittag war ausschließlich Kleidern und Überkleidern gewidmet. Nachdem sie bei der Modistin ein leichtes Mittagessen bekommen hatten, machten sich die Damen auf, andere Geschäfte aufzusuchen, wo sie alles kauften, was Madeline sonst noch brauchte. Da die Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Fanny um drei knapp wurde, schlug Arabella vor, dass sie später in der Woche nochmals nach London fahren sollten, um Hemden, Unterröcke und Korsetts, Seidenstrümpfe und Strumpfbänder, Handschuhe, Fächer und Schmuck zu kaufen.
Madelines Vertrauen in den Plan der beiden Schwestern wuchs im Laufe des Tages. Roslyns Zuvorkommenheit und Wärme waren besonders ansteckend. Sie war genauso offen und verständnisvoll wie Arabella, als sie aus vollem Herzen zustimmte, ihre berüchtigte Freundin Fanny Irwin zurate zu ziehen, und sie enthüllte sogar einige privateste Dinge, um Madelines Hoffnungen für ihre Ehe zu bestärken.
»In diesem Sommer«, gestand Roslyn, »suchte ich Fannys Rat, um einen Gentleman dazu zu bringen, sich in mich zu verlieben. Wenn Sie sich wünschen, dass Haviland Sie liebt, können Sie keine bessere Beraterin als Fanny finden.«
Wenn Sie wünschen, dass Haviland Sie liebt. Bei dem Satz stockte Madeline der Atem. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, dass Rayne sie begehrte, was ihr allein schon wie eine Herkulesaufgabe erschien. Nun jedoch fragte sie sich, ob es möglich wäre, sein Herz zu gewinnen.
Nein, du wärst eine Närrin, solch hochgesteckte Hoffnungen zu hegen, schalt Madeline sich. Es wäre ausreichend, wenn Rayne sie begehrte. Außerdem müsste diese Kurtisane, sollte sie das erreichen, schon wahre Wunder wirken.
Wenig später am Nachmittag war Madeline allerdings überzeugt, dass Fanny Irwin fürwahr Wunder wirken könnte.
Kurz nach ihrer Ankunft bei der Privatresidenz der Kurtisane in einer ruhigen, eleganten Straße nördlich des Hyde Parks überließen die Schwestern Madeline Fannys fähigen Händen, und Arabella versprach, sie in zwei Stunden abzuholen.
»Gebt uns drei Stunden«, korrigierte Fanny, die offenbar sofort erkannte, welche Aufgabe sie vor sich hatte.
Nachdem sie ihre Besucherin hinauf in den ersten Stock geführt hatte, ging Fanny voraus in ihr Schlafgemach und von dort in ein gut beleuchtetes Ankleidezimmer, wo sie Madeline sagte, sie solle ihre Pelisse, das Kleid und das Korsett ablegen.
Madeline war furchtbar unsicher, als sie sich bis auf ihr Hemd ausziehen sollte, wohingegen Fanny vollkommen ruhig und gelassen blieb. Sie umrundete Madeline einmal stirnrunzelnd und musterte sie.
»Ihre Augen sind eindeutig Ihr bestes Merkmal«, erklärte sie schließlich.
Dem konnte Madeline nicht widersprechen, waren ihre Augen doch das einzig Schöne an ihr.
»Aber Sie haben auch eine sehr angenehme Statur, üppig und kurvenreich. Die Art Körper, von der Männer träumen. Gewiss hat Ihr Gemahl es bemerkt. «
Als Madeline tiefrot wurde, lächelte Fanny abfällig. »Wenn ich Sie beraten soll, Lady Haviland, müssen Sie Ihre Schüchternheit überwinden, denn ich werde noch weit intimere Details ansprechen.«
Ihr Blick wanderte von Madelines großen Brüsten zurück zu ihrem Gesicht. »Ihre Lippen sind unmodisch voll, aber auch das ist ein Glück, denn Männer werden sie für besonders küssbar halten. Hat noch nie ein Herr versucht, Ihnen einen Kuss zu stehlen?«
»Ein oder zwei Mal«, gestand Madeline. Eigentlich hatte Baron Ackerby es sehr viel häufiger versucht, nur zählte ein arroganter Grobian wohl kaum als Gentleman, ganz gleich welchen Rang er bekleidete.
Fanny umrundete sie nochmals und setzte Madeline dann an einen Frisiertisch, wo sie ihre Aufmerksamkeit dem schlichten braunen Haar ihrer Klientin widmete.
»Die Farbe ist annehmbar, aber der Stil … Tragen Sie Ihr Haar stets so streng nach hinten gezurrt?«
»Ja.« Für gewöhnlich wickelte sie ihr Haar zu einem Knoten im Nacken oder flocht es zu einem strammen Zopf.
Fanny schüttelte den Kopf und zupfte alle Nadeln aus Madelines Haar. »Gewöhnlich schätzen Männer langes Haar, also werden wir an der Länge nichts ändern, aber wir müssen etwas tun, um Ihr Gesicht weicher zu machen … ein paar Locken auf der Stirn und an den Schläfen.«
Da Rayne ihr denselben Rat gegeben hatte, widersprach Madeline nicht.
»Ich lasse meine Friseuse Ihr Haar schneiden und frisieren, aber bis dahin … Ich denke, die größte Wirkung erzielen wir vorerst, indem wir Ihre Brauen zupfen. Sie sind viel zu stark für Ihr Gesicht und lassen Sie maskulin erscheinen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja«, antwortete Madeline, die ihre dunklen, kräftigen Brauen im Spiegel betrachtete, während Fanny ihre Inspektion fortsetzte.
»Ihre Haut ist gut, aber zu blass. Sie sollten Kosmetik verwenden. Ein wenig Rouge auf den Wangen und Kohlestift um die Augen können Ihre Züge sehr gewinnend betonen. Und ich kann Ihnen andere Listen zeigen, wie Sie Ihren Teint verschönern … Gerstenwasser, Zitronensaft, Milchbäder. Dennoch …«
Fanny runzelte die Stirn. »Sie können sich weit mehr Mühe geben, Ihre Erscheinung zu verbessern und Ihre körperlichen Attribute anziehender für Ihren Ehemann zu machen, aber wenn es darum geht, langfristig seine Zuneigung zu gewinnen, sind Ihr Betragen und Ihr Handeln entscheidend.«
Madeline sah sie überrascht an. Es kam ihr seltsam vor, dass eine Frau, die so umwerfend schön wie Fanny war, ihr sagte, Betragen wäre entscheidender als Schönheit. »Was genau meinen Sie mit Betragen und Handeln?«
»Warten Sie hier, Mylady.«
Hinter ihr wandte Fanny sich ab und verließ das Ankleidezimmer. Als sie wiederkam, hatte sie ein schmales, ledergebundenes Buch, das sie Madeline reichte.
Der Titel lautete Ratgeber für heiratswillige junge Damen , von einer anonymen Dame. Als Madeline aufschaute, schmunzelte Fanny verschwörerisch.
»Die wenigsten Leute wissen, dass ich es geschrieben habe«, sagte Fanny.
»Sie sind die anonyme Dame?«
»Ja. Tatsächlich war es mein erster Versuch, schriftstellerisch tätig zu werden. Gegenwärtig versuche ich mich an einem Schauerroman, weil dieses Genre doch zusehends beliebter wird. Ich würde der Halbwelt gern den Rücken kehren, damit ich einen achtbaren Gentleman heiraten kann, den ich bereits ins Auge gefasst habe. Und ich gehe davon aus, dass meine Chancen am besten stehen, wenn ich eine erfolgreiche Autorin werde.«
Madeline betrachtete die Kurtisane voller Bewunderung und Erleichterung.
»Ich würde liebend gern Ihre Geschichte hören, Miss Irwin«, sagte sie mit einem Anflug von Amüsement. »Zweifellos sind Sie einer der faszinierendsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin.«
Fanny lachte. »Ich erzähle Ihnen meine Geschichte mit Freuden, Mylady, aber vorerst gelten unsere Bemühungen Ihnen. Warum lesen Sie nicht einfach später mein Buch, und wir können es bei unserem nächsten Treffen besprechen?«
»Ja, das werde ich«, sagte Madeline, die schon einmal durch die Seiten blätterte.
»Darin stehen eine Menge allgemeine Hinweise über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, allerdings vermute ich, dass ich bei Ihnen expliziter werden sollte. Sie sind recht unerfahren in der Kunst der Verführung, habe ich Recht?«
Madeline lächelte unsicher. »Ich fürchte, ja.«
»Nun, das werden wir schnell ändern. Vielleicht erzählen Sie mir, wie es zur Heirat zwischen Ihnen und Lord Haviland kam.«
Und so geschah es, dass Madeline ihre tiefsten Geheimnisse enthüllte: Wie Rayne und sie sich erstmals begegnet waren, wie er sich ihr wegen ihres verstorbenen Vaters verpflichtet fühlte, wie er ihr einen Antrag machte und ihr dann nachstellte, bis sie zustimmte, und wie er sie Hals über Kopf in der Hochzeitsnacht verließ.
»Ich gestehe, das war furchtbar«, endete Madeline kleinlaut, »und schmerzlich enttäuschend.«
Fanny nickte verständnisvoll. »Sie haben eindeutig zu leicht nachgegeben, weil Sie seinen Antrag so bald annahmen. Glauben Sie mir, Männer wie Ihr Ehemann wollen eine Herausforderung, was uns zu einem anderen Punkt bringt. Sie dürfen ihn nicht entdecken lassen, dass Sie in ihn verliebt sind. Das Herz auf der Zunge zu tragen, ist beinahe der sicherste Weg, einen Mann in die Flucht zu schlagen.«
Madeline grinste. »Sie meinen, ich sollte nicht zeigen, dass ich meinen Gemahl für den wunderbarsten Mann halte, den ich kenne?«
»Nicht ganz«, sagte Fanny sehr ernst. »Einen Mann offen zu bewundern ist eine hervorragende Art, seine Begeisterung zu steigern. Ich meinte, dass Sie nicht so verliebt in ihn erscheinen dürfen, dass er sich im Vorteil wähnt. Sie müssen einen Rest Unsicherheit auf seiner Seite erhalten. Er sollte danach streben, Sie zu gewinnen. Offensichtlich denkt Haviland, sein Werben um Sie wäre vorbei, also müssen stattdessen Sie ihn umwerben.«
»Ihn umwerben?«
»Ja, aber sehr subtil, versteht sich. Sie dürfen ihn nicht wissen lassen, dass Sie ihm den Hof machen. Vielmehr werden Sie seine Verführerin, ohne dass er Ihre wahren Absichten errät.«
»Verführerin?«, wiederholte Madeline ein wenig piepsig.
»Keine Sorge, ich lehre Sie, wie Sie es anstellen.« Fanny zog überlegend die Brauen zusammen. »Was wissen Sie über die persönlichen Angelegenheiten Ihres Gemahls? Ich habe nie gehört, dass Haviland sich hier in London auf irgendwelche Affären einließ. Falls er eine Mätresse in der Stadt hat, muss er überaus diskret sein.«
Madeline erstarrte. Rayne hatte gesagt, dass er »geschäftlich« nach London fahren musste. Und sie hoffte, er hatte sie nicht belogen. Dass er eine Mätresse hatte, war ein zu deprimierender Gedanke. »Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Nun, das macht nichts. Falls er eine Inamorata hat, locken Sie ihn von ihr weg. Sie sorgen dafür, dass Sie die einzige Frau sind, die er sich in seinem Bett wünscht. Ich lehre Sie, ihn halb von Sinnen vor Verlangen nach Ihnen zu machen – und von der Leidenschaft sind es nur wenige Schritte hin zur innigen Liebe. Fangen wir also an. Ich läute nach meiner Zofe.«
Zwei Stunden später blickte Madeline ungläubig ihr Spiegelbild an. Sie sah vollkommen verändert aus. Die schmalen, gebogenen Brauen, der zarte Rosaschimmer auf ihren Wangenknochen, die zierlichen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, der Hauch Kohlestift, der ihre großen grauen Augen betonte, all das ließ sie wie eine andere Frau aussehen, die nichts mehr von dem schlichten, unscheinbaren Wesen hatte, das vorhin Fannys Haus betrat.
Sie war beinahe … Hübsch wäre ein zu zahmer Ausdruck. Und sie war auch nicht unbedingt schön. Verlockend vielleicht. Eindeutig reizvoll.
Ausschlaggebender indes als Madelines gänzlich verändertes Äußeres war, dass Fanny sie über eine Stunde sehr offen und explizit in der Kunst des Liebesspiels unterwies.
»Erstaunlich«, hauchte Madeline. »Wie kann ich Ihnen jemals danken, Fanny?«
Die Kurtisane lächelte. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Arabella, Roslyn und Lily haben mich all die vielen Jahre unterstützt, obgleich sie damit ihren guten Namen in Gefahr brachten. Es ist nur recht, dass ich ihnen ihre Loyalität vergelte, indem ich einer ihrer Freundinnen einen Gefallen erweise.«
»Dennoch, ich bin Ihnen unendlich dankbar für alles, was Sie getan haben.«
»Wir sind noch nicht fertig«, entgegnete Fanny. »Wir haben noch einiges zu besprechen, ehe Sie sich wohl dabei fühlen, die Verführerin zu spielen. Falls nötig, kann ich nach Chiswick kommen und Sie in Danvers Hall treffen. Schließlich möchten Sie Ihre Pläne vor Ihrem Gemahl geheimhalten. Alles in allem aber würde ich sagen, Sie sind auf dem richtigen Weg, zum Objekt von Havilands Träumen zu werden. «
»Ja, würde ich auch«, murmelte Madeline, die immer noch ihr neues Ich bestaunte. Ihr Spiegelbild zeigte ihr exakt die Dame, die imstande sein könnte, einen Mann wie Rayne zu verführen und zu halten.
Rayne schien Kühnheit zu mögen, also würde sie kühn sein. Und sie würde tun, was sie konnte, um ihre Verbindung zu einer Liebesehe zu machen.