Drittes Kapitel

Du weißt, dass ich mich selten über meine Umstände beklage, Maman, aber von Lord Havilands Suche nach einer Braut zu erfahren, weckt den Wunsch in mir, ich hätte ihm mehr zu bieten.

Am nächsten Morgen wollte Madeline am liebsten nicht aufwachen, denn sie hatte einen wunderschönen Traum gehabt. Wie überhaupt ihre Träume vom Zauber der gestrigen Küsse beherrscht gewesen waren.

Plötzlich zerplatzten die schönen Gefühle, als Madeline die Augen öffnete und ins kalte Tageslicht blickte.

Sie brauchte einen Moment, ehe sie begriff, wo sie war: in einem eleganten Gästezimmer von Danvers Hall. Lord Haviland hatte sie spät am gestrigen Abend einfach hiergelassen – sehr zu ihrem Verdruss. Aber offensichtlich hatte sie ihm längst vergeben, dass sie sich im Traum seinen sündigen Küssen hingab.

Verärgert, weil sie ihren unsinnigen Träumen nachhing, seufzte Madeline und schüttelte die Erinnerungen ab, während sie aufstand, um sich zu waschen und anzukleiden. Haviland hatte sie gestern Abend schlicht für ein leichtes Mädchen gehalten und war purer männlicher Lust gefolgt, als er ihre Verfügbarkeit dreist ausnutzte.

Und du benahmst dich schamlos, seine Umarmung mit solch verwerflicher Inbrunst zu erwidern!

Madeline errötete bei dem Gedanken an ihr unmögliches Betragen, konnte gleichzeitig aber nicht umhin, es zutiefst zu bedauern, dass sie nie wieder etwas derart Bezauberndes erleben würde. Schließlich hatte Haviland versprochen, dass es nie wieder vorkäme, und er war ein Mann, der zu seinem Wort stand … leider.

Murmelnd wies sie sich zurecht, zog ihre Unterkleider an und griff nach ihrem Kleid. Hätte sie doch nur etwas anderes anzuziehen als dieses hässliche schwarze Bombasin …

Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen.

»Ich weiß, Maman. Ich sollte mich nicht über meinen Mangel an hübschen Kleidern beklagen, wo es doch arme Seelen gibt, die in Lumpen gehen müssen. «

Und sie durfte auch nicht schlecht von Lord Haviland denken, selbst wenn seine bevormundende, dominante Art bisweilen höchst enervierend war. Vor allem aber war sie dankbar, dass er sie gestern rettete. Sie hatte wahrlich seine Hilfe gebraucht. Und dank ihm stellte sich nun auch noch ihre Zukunft rosiger dar.

Die Aussicht, künftig nicht mehr als Gesellschafterin sondern als Lehrerin an einer Akademie für junge Damen zu arbeiten, war sehr verlockend. Wie angenehm wäre es, nicht mehr den Launen und der Gnade launischer alter Frauen ausgeliefert zu sein, dachte Madeline.

Trotzdem wunderte sie, dass Haviland seine eigenen Angelegenheiten aufgeschoben hatte, um sie hierher zu begleiten. Aufgrund ihrer zugegebenermaßen begrenzten Erfahrung mit Adligen, hatte sie bislang keine sonderlich hohe Meinung von ihnen. Vielmehr hielt sie die Mitglieder des britischen Adels zumeist für faul und gleichgültig.

»Aber ich muss sagen, dass ich von Haviland beeindruckt bin, Maman. Er ist in jeder Hinsicht anders als Baron Ackerby.«

Nicht zu vergessen, dass er Madeline nicht von oben herab behandelt hatte, weil sie für ihren Unterhalt arbeiten musste.

So ungern sie sich ihm verpflichtet fühlen würde, musste sie dringend bald eine Stellung finden, wenn sie ihrem Bruder nicht zur Last fallen wollte. Gerard sollte sein Eheleben unbelastet von einer ledigen Schwester beginnen.

Bei dem Gedanken an ihren Bruder wurde Madeline ganz warm ums Herz. Seine große Liebe zu heiraten, war Gerards beste Chance, Glück zu finden, und Madeline musste sie ihm ermöglichen. Selbstverständlich fühlte sie sich auch verantwortlich für ihn. Da sie ohne Mutter – und größtenteils auch ohne Vater – aufgewachsen waren, hatten Gerard und sie nur einander.

Der frühe Tod ihrer Mutter war etwas, das Madeline bis heute schmerzlich bedauerte. Und die Trauer der Kinder wurde noch gesteigert, als sich Papa aus Kummer vollends in seine Arbeit vergrub.

Ihre Eltern hatten sich inniglich geliebt, und nun hatte Gerard seine große Liebe. Ein klein wenig beneidete Madeline ihn darum. Sie hatte sich stets jemanden gewünscht, den sie lieben könnte, einen Ehemann, den sie verehren und mit dem sie alt werden könnte, einen zärtlichen Liebhaber, der ihr die Kinder schenkte, nach denen sie sich sehnte.

In ihren kühnsten Träumen stellte sie sich vor, von Leidenschaft und Romantik mitgerissen zu werden. Dabei hatte sie bislang noch niemals einen Verehrer gehabt. Mit ihrem eher unscheinbaren Äußeren, ihrem Mangel an Mitgift und gänzlich eingenommen von ihrer sehr zurückgezogen lebenden Arbeitgeberin, hatte sie nie wünschenswerte Verehrer anziehen können. Leider war es ihr dennoch gelungen, die Aufmerksamkeit ihres widerwärtigen Nachbarn, Baron Ackerby, auf sich zu ziehen.

Trotz allem sehnte sie sich nach Liebe. Manchmal war das Gefühl so übermächtig, dass es einem körperlichen Schmerz gleichkam.

Aber es war sinnlos, über Dinge nachzudenken, die ihr fehlten, ermahnte Madeline sich und steckte sich ihr Haar zu einem strengen Knoten auf. Sie hatte wahrlich drängendere Sorgen. Der Butler von Danvers Hall und seine Frau, die Haushälterin Mrs Simpkin, waren ausgesprochen freundlich zu ihr gewesen; dennoch war Madeline unwohl dabei, sich in einem Herrenhaus aufzuhalten, dessen Besitzer nicht da waren.

Deshalb beabsichtigte sie, Lord Haviland aufzusuchen, sobald sie angekleidet war. Vielleicht war ihre Reisetruhe inzwischen eingetroffen, und sie sollte in etwas wechseln, das besser zu einer Lehrerin passte, ehe sie später mit Lady Danvers sprach.

»Sonst hält sie mich für eine alte Vogelscheuche, Maman, und ich muss doch einen guten Eindruck auf sie machen, wenn ich eine Stellung an ihrer Akademie will.«

Madeline betrachtete sich mürrisch im ovalen Spiegel der Frisierkommode. Wollte sie wirklich nur Lady Danvers beeindrucken?

Nein, auch Lord Haviland.

Was absurd war, denn ein Mann seines Ranges konnte kein romantisches Interesse an ihr haben.

Leider könnte sie sich allzu leicht in Haviland verlieben. Seine Freundlichkeit, sein scharfer Verstand, sein Humor und vor allem sein Ehrgefühl weckten ihre Bewunderung mindestens so sehr wie seine unbeschreiblichen Küsse sie verblüfften. Bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch.

Madeline atmete tief ein und rang nach Fassung. Wahrscheinlich war Lord Haviland im hellen Tageslicht nicht so überwältigend betörend wie gestern Abend.

Und selbst wenn doch, sollte sie besser gegen die Verlockung gefeit sein, nachdem sie Zeit gehabt hatte, ihr Gemüt wieder zu beruhigen und zur Vernunft zu kommen.

 

»Ich fürchte nach wie vor«, jammerte Freddie Lunsford, während er am Sideboard stand und Essen auf seinen Frühstücksteller häufte, »dass du die Dringlichkeit meines Problems unterschätzt, Rayne. Mir bleibt sehr wenig Zeit, Mrs Sauville zufriedenzustellen und zu verhindern, dass sie meinen Vater in meine Fehltritte einweiht.«

»Ich verstehe die Dringlichkeit sehr wohl«, erwiderte Rayne abwesend, weil er die Morgenzeitung las.

Freddie setzte sich neben ihn an den Frühstückstisch. »Wie willst du meine Briefe rechtzeitig zurückholen? «

Rayne blickte zu seinem ungeduldigen Cousin auf und beschloss, Freddies Ängste zu lindern, indem er ihm den Plan schilderte, den er bisher in groben Zügen entworfen hatte. Also faltete er die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Ich beabsichtige, am Dienstagabend zur Soiree in Witwe Sauvilles Londoner Haus zu gehen.«

»Aber bis Dienstag sind es noch vier Tage!«

»Und die Frist, die sie dir setzte, verstreicht am Mittwoch. Ich verspreche dir, dass du vorher deine Briefe wiederhast.«

»Wie willst du das anstellen?«, fragte Freddie, der sich ein weich gekochtes Ei in den Mund schaufelte, gefolgt von einem Stück Räucherfisch. Jedenfalls wirkte sich das drohende Desaster nicht nachteilig auf seinen Appetit aus.

»Du sagtest, Mrs Sauville behauptet, deine Briefe in ihrem Schmuckkasten aufzubewahren.«

»Ja, in ihrem Schlafgemach!«

»Dann sorge ich dafür, dass sie beschäftigt ist, solange ich ihr Gemach nach dem Schmuckkasten durchsuche.«

Freddie runzelte die Stirn. »Es wird nicht einfach, unbemerkt in ihr Boudoir zu marschieren und mit meinen Briefen wieder hinaus. Wie genau willst du das schaffen?«

»Warum überlässt du die Details nicht …«

Rayne brach abrupt ab, weil er bemerkte, dass sein Majordomus, Bramsley, in der Tür zum Frühstückssalon stand. Unmittelbar hinter dem distinguierten Diener war Miss Madeline Ellis.

Die Freude, die sich ob des Wiedersehens in ihm regte, verwunderte Rayne, und er war froh, dass er das Gefühl rasch unterdrücken konnte. Sodann fragte er sich, wie viel sie von ihrer Unterhaltung mitgehört haben mochte. Er erhob sich höflich, als Bramsley die Besucherin ankündigte.

Freddie sprang auf und schluckte hörbar, ehe er ausrief: »Miss Ellis, Teufel auch, was tun Sie hier?«

Rayne warf ihm einen tödlichen Blick zu. »Kommen Sie bitte herein, Miss Ellis.«

Sie zögerte an der Schwelle, denn sie musste bemerkt haben, dass sie ihr Gespräch unterbrach.

»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte Rayne.

»Nein, noch nicht«, antwortete sie. »Ich wollte die Bediensteten in Danvers Hall ungern nötigen, eigens für mich ein Mahl zu bereiten.«

»Möchten Sie dann mit uns speisen?«

Sie blickte von einem zum anderen und nickte verhalten. »Ja, danke, Lord Haviland. Ich denke, das möchte ich.«

»Bramsley, bitte servieren Sie Miss Ellis etwas«, sagte Rayne, der ihr den Stuhl zu seiner Linken, gegenüber von Freddie zuwies und sich wieder an die Spitze der Tafel setzte.

Eilig wischte sich der gebührend beschämte Freddie seinen Mund mit der Serviette, nahm seinen Platz wieder ein und sah Madeline mit ziemlich gerötetem Gesicht an. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Miss Ellis. Dies ist das zweite Mal, dass ich in Ihrer Gegenwart in ein Fettnäpfchen trat. Sie müssen mich für einen furchtbaren Tolpatsch halten.«

Sie lächelte freundlich. »Für einen charmanten Tolpatsch vielleicht. Um die Wahrheit zu sagen, Mr Lunsford, finde ich es erfrischend, einem Gentleman zu begegnen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Genau genommen erinnern Sie mich sehr an meinen jüngeren Bruder Gerard. Auch er scheint eine Vorliebe für Fettnäpfchen zu haben.«

Freddie grinste erleichtert. »Sind Sie den ganzen Weg von Danvers Hall gegangen?«, fragte er. Inzwischen schenkte der Majordomus ihr Kaffee ein und brachte ihr eine Auswahl an Köstlichkeiten vom Sideboard.

»So weit war es nicht – kaum eine halbe Meile. Ich gehe gern spazieren, und die Haushälterin in Danvers Hall beschrieb mir einen Weg zwischen den beiden Anwesen. Die Aussicht auf den Fluss mit den beginnenden Herbstfarben ist wunderschön.«

Dann wandte sie sich direkt an Rayne und senkte die Stimme, so dass Bramsley sie nicht hörte. »Ich habe ein ernstes Wort mit Ihnen zu reden, Mylord.«

Rayne schickte Bramsley hinaus, sowie er Miss Ellis serviert hatte. Bramsley war seit vielen Jahren in seinen Diensten und vollkommen vertrauenswürdig, aber das würde er ihr bei anderer Gelegenheit erklären.

Wie Rayne angenommen hatte, wartete sie, bis der Diener gegangen war, ehe sie ihrem Ärger Luft machte. »Mr Lunsford scheint talentiert darin, sich zu entschuldigen. Sie können von ihm lernen, Mylord.«

»Ach?«, bemerkte er über seine Kaffeetasse hinweg. »Schulde ich Ihnen denn eine Bitte um Vergebung, Miss Ellis?«

»Sie wissen sehr wohl, dass Sie es tun – dafür, dass Sie mich einfach in Danvers Hall ließen. Natürlich sagten Sie bereits, dass Ihre Manieren nicht die besten sind, doch selbst Sie sollten begreifen, dass es höchst unangemessen ist, sich ohne Vorwarnung Gastgebern aufzudrängen.«

Ihr Tonfall war unbeschwert, ihre Miene ziemlich freundlich, und doch riss Freddie Lunsford die Augen weit auf. Er war es nicht gewohnt, dass der Earl of Haviland gemaßregelt wurde.

Der Earl selbst auch nicht.

Rayne nippte an seinem Kaffee und antwortete gelassen: »Lady Danvers kennt mich gut genug, um mit wenig zivilisiertem Betragen meinerseits zu rechnen. Folglich dürfen Sie ganz allein mir die Schuld geben.«

Miss Ellis war nicht um eine Erwiderung verlegen. »Sie wird hingegen ein hohes Maß an angemessenem Verhalten von mir erwarten, wenn ich an ihrer Akademie unterrichten soll. Ich muss mich einer solchen Stellung würdig erweisen. Daher werden Sie verstehen, dass ich nicht mit Ihresgleichen in einen Topf geworfen werden möchte, bevor ich ihr überhaupt vorgestellt werde.«

»Ja, das verstehe ich. Dessen ungeachtet halten Sie mir hoffentlich zugute, dass ich versuchte, Ihre Reputation zu schützen.«

Sie lächelte süffisant. »Ohne Frage. Von einem brillanten Spion hätte ich indes mehr erwartet. Zumindest dass er klug genug ist, einen Ausweg aus meinem Zwiespalt zu ersinnen.«

»Zu meiner Verteidigung darf ich anführen, dass ich recht kurzfristig entscheiden musste.«

»Eine schwache Verteidigung, nicht wahr?«, entgegnete sie und fixierte ihn mit ihrem allzu offenen Blick. »Ich gestehe meine Enttäuschung, dass es Ihnen nicht gelang, Ihrem ausgezeichneten Ruf gerecht zu werden, Lord Haviland.«

Rayne fragte sich unweigerlich, ob Miss Ellis ihn absichtlich provozierte. Ihren leuchtenden Augen zufolge konnte er zumindest davon ausgehen, dass sie es genoss, ihn in die Defensive zu zwingen.

Und sie war noch nicht fertig. »Ich werde Ihnen vergeben, Mylord, konnte aber selbstverständlich heute Morgen nicht im Herrenhaus bleiben. Ich wäre Ihnen also verbunden, wenn Sie mich nach Lady Danvers‘ Rückkehr dorthin begleiten und mich ihr vorstellen. Bis es soweit ist, habe ich vor, mich an dem gütlich zu tun, was Ihr Haushalt anzubieten hat. Schließlich waren Sie es, der sagte, er wäre für mich verantwortlich.«

Rayne neigte den Kopf. »Ja, das sagte ich«, stimmte er ihr zunehmend amüsiert zu. »Sie sind herzlich eingeladen, hier Zuflucht zu suchen, solange Sie es wünschen.«

»Ich danke Ihnen.« Miss Ellis wandte sich wieder zu Freddie, während sie sich einen Scone butterte. »Ich glaube, diesmal bin ich es, die sich bei Ihnen entschuldigen muss, Mr Lunsford. Es war weder meine Absicht, gestern Abend Ihre Pläne zu stören noch heute Morgen Ihr Gespräch mit Lord Haviland. Bitte, fahren Sie fort. Ich glaube, Sie sprachen über einige Briefe, die im Boudoir einer bestimmten Dame zu suchen wären.«

Freddie verschluckte sich beinahe an seinem gekochten Ei, wohingegen Rayne seine liebe Not hatte, nicht laut loszulachen. Nunmehr war er sicher, dass Miss Ellis ihn provozieren wollte – womöglich aus Rache, weil er sie gestern Abend in der Diele von Danvers Hall stehen ließ.

Als Freddie sie nur unglücklich ansah, lächelte Miss Ellis mitleidig. »Es war bereits gestern Abend ersichtlich, dass Sie in einer misslichen Lage sind, Mr Lunsford.«

»Kann man wohl sagen«, antwortete er finster.

»Ich vermute, es handelt sich um eine Herzensangelegenheit? «

»Nun ja … nicht genau.«

»Aha. Was dann?«

Rayne mischte sich ein, ehe Freddie sich noch tiefer in die ihn allzeit begleitenden Fettnäpfchen versenkte. »Ich schlage vor, dass du den Mund hältst, mein Bester. Du neigtest schon immer dazu, dich um Kopf und Kragen zu reden.«

Miss Ellis aber ignorierte Raynes Vorschlag. »Ich möchte auf keinen Fall neugierig erscheinen, Mr Lunsford, aber kann ich in irgendeiner Weise helfen? Mir wäre sehr lieb, könnte ich mich erkenntlich zeigen für das Vorstellungsgespräch, das Lord Haviland für mich arrangierte, selbst wenn ich seine Methoden nicht gutheißen kann.«

»Nun«, antwortete Freddie, »die Sache ist die … diese gewisse Frau – von einer Dame kann ich nicht sprechen – ist im Besitz mehrerer Briefe, die ich ihr vor einigen Monaten schrieb. Und mein Vater wird meinen Kopf auf einem Silbertablett fordern, sollte ich sie nicht zurückbekommen. Er würde nie verstehen, dass ein Mann sich von einem hübschen Gesicht, zumal einem hübschen französischen Gesicht, verführen lassen kann – der alte Dorschkopp«, schloss er murmelnd.

Miss Ellis bedachte Freddie mit einem amüsiert tadelnden Lächeln. »›Dorschkopp‹? Gewiss wollen Sie Ihren Vater nicht ernstlich auf solch despektierliche Weise titulieren?«

Freddie runzelte die Stirn und sah sie skeptisch an. »Oh, nein, sagen Sie mir nicht, Sie sind eine von diesen ewig meckernden Frauen, Miss Ellis!«

Ein warmes Lachen erklang. »Mein Bruder würde meinen, die bin ich – vor allem weil es mir oblag, über viele Jahre unsere Angelegenheiten zu regeln. Falls es Ihnen ein Trost ist, ich verstehe Ihre Notlage, Mr Lunsford. Gerard bringt sich gleichfalls immerfort in derlei Bedrängnisse … und oft lag es an mir, ihn wieder herauszuholen.«

Freddie sah zu Rayne. »Teufel auch, ich mag Sie!«

»Ich mag Sie auch, Sir«, sagte Miss Ellis freundlich. »Und ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich irgend kann.«

Raynes Cousin strahlte. »Ich bin verzweifelt genug, jede Hilfe anzunehmen, die ich …«

Abermals mischte Rayne sich ein, der sie nicht in ihr Vorgehen gegen eine erpresserische französische Witwe verstricken wollte. »Ihre Hilfe wird nicht nötig sein, Miss Ellis.«

Bei seinem strengen Ton zog sie die Brauen hoch. »Wollen Sie mir sagen, ich solle meine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die mich nichts angehen? «

Rayne grinste. »Ihr Scharfsinn ist bewundernswert. «

»Nun gut, aber falls Sie Ihre Meinung ändern …«

Er würde seine Meinung nicht ändern, wie Rayne sehr wohl wusste, aber ihn überraschte Madeline Ellis‘ scharfer Verstand. Einige von Raynes besten weiblichen Spionen hatten ihre wache Beobachtungsgabe besessen. Es war ihr Beruf gewesen, wohingegen Miss Ellis einzig ihre Freundlichkeit veranlasste, ihre Hilfe anzubieten.

Freddie schien zu denken, dass sie eine solche energische Abfuhr nicht verdiente, denn er fügte eiligst hinzu: »Danke, Miss Ellis, aber Haviland hat sicher Recht. Er bekommt das alles prima allein hin. Ich hege großes Zutrauen in seine Fähigkeit, mich vor den Folgen meiner Narretei zu bewahren. Deshalb hatte ich mich ja gleich an ihn gewandt.«

Ihr lebhafter Blick schweifte zu Rayne ab. »Lord Haviland hat es sich offenbar zur Gewohnheit gemacht, andere zu retten. Ich vermute, es erklärt, weshalb er gestern Abend so entschlossen war, mir zu Hilfe zu kommen.«

»Aber ja!«, antwortete Freddie voller Inbrunst. »Er ist bekannt dafür, dass er alle möglichen Mädchen und Streuner rettet. Er kann gar nichts dagegen tun, dass er immerzu ein Held ist.«

»Ach ja?« Ihre leuchtend grauen Augen funkelten geradezu vor Amüsement. »Wie faszinierend.«

Es war unübersehbar, dass Madeline und Freddie Gefallen daran fanden, ihn zu necken.

»Und ob«, fuhr Freddie fort. »Ich hab schon immer gedacht, dass Rayne im falschen Jahrhundert geboren wurde. Er hätte einen großartigen Ritter der Tafelrunde abgegeben.«

»Ja, ich kann ihn mir auf einem weißen Schlachtross vorstellen«, pflichtete sie ihm bei.

Rayne konnte seinem Cousin nicht verdenken, dass er sich mit ihm im fortdauernden Wettstreit glaubte. Seit sie beide Jungen waren, hatte Rayne sich dem Richtigstellen von Ungerechtigkeiten, der Verteidigung der Schwachen und Verwundbaren verschrieben. Er ertrug es nicht, Ungerechtigkeit zu sehen und nichts gegen sie zu tun. Zweifellos war er deshalb in letzter Zeit so rastlos. Er suchte nach einer neuen Aufgabe in seinem Leben, aber bisher hatte er noch nichts gefunden, das auch nur entfernt seine Zeit oder seine Talente lohnte.

»Aber sein Wagemut ist nicht bloß vorgetäuscht«, erklärte Freddie, mehr als offensichtlich um Fairness bemüht. »Er hat unzählige Male sein Leben riskiert.«

Miss Ellis wurde sofort ernster und warf Rayne einen entschuldigenden Blick zu. »Ja, ich weiß. Ich sollte mich nicht über Sie lustig machen, Mylord.«

Ihm war es lieber, wenn sie über ihn lachte, als dass sie so zerknirscht aussah. »Ich bin wohl kaum ein Heiliger.«

»Nein, als solchen stellte ich Sie mir auch nie vor. Dennoch sollten Sie geachtet, nicht lächerlich gemacht werden.«

»Ah, erinnern Sie mich das nächste Mal daran, wenn Sie mich auf meinen Mangel an Manieren hinweisen! Und nun essen Sie Ihr Frühstück, Miss Ellis. Ihr Rührei wird kalt.«

Sein Befehlston war eine absichtliche Provokation, und sie erntete die erwünschte Reaktion. Ihre grauen Augen blitzten auf, ehe erneut das amüsierte Funkeln zu sehen war.

»Sehr wohl, Mylord«, murmelte sie brav – und tat überraschenderweise wie geheißen.

Ihre Unterwürfigkeit war reines Schauspiel, das ihr wahres Naturell verbarg, wie Rayne wusste, als er sich wieder seinem eigenen Frühstück widmete. Madeline Ellis war impertinent, scharfzüngig und furchtlos, wenn es darum ging, ihren Platz in der Hackordnung der feinen Gesellschaft zu erkennnen. Sie ordnete sich nicht unpragmatisch ganz unten ein. Nur musste er zugeben, dass ihr lebhafter Esprit ihn anzog.

Ja, er fand sogar eine Menge Dinge an Madeline sehr anziehend. Ihre Augen waren heute Morgen heller, klarer, tief und sinnlich. Und ihr Mund … Rayne ertappte sich dabei, wie er ihren sündhaften Mund beobachtete, als sie in ein Stück Teekuchen biss.

Er bereute, sie gestern Abend gekostet zu haben, keine Frage. Hätte er nicht gewusst, wie wundervoll sich ihre Küsse anfühlten, kämen ihm jetzt nicht solche unerwünschten, lüsternen Gedanken.

Seine Lust überraschte ihn. Hier war kein Feuerschein, und trotzdem malte er sich nach wie vor aus, mit Madeline ins Bett zu steigen. Für einen Moment verharrte sein Blick auf ihren vollen Brüsten. Er stellte sich vor, wie er ihr dieses hässliche schwarze Kleid auszog und ihren wundervollen Körper in etwas Weicheres, Verführerischeres hüllte, blassrosa Seide beispielsweise. Oder ein dunkler Lavendelton, der ihre ungewöhnlichen Augen …

Rayne spürte, wie seine Lenden sich dem Reiz ergeben wollten. Er musste sich und seine unerbetenen körperlichen Gelüste in Zukunft wahrlich gut unter Kontrolle behalten!

Gleichwohl war er froh, dass Madeline in sein Leben getreten war. Auch wenn er sie gestern Abend gerettet hatte, weil er sich ihrem Vater verpflichtet fühlte, war er von heute ab doch entschlossen, ihr um seinetwillen zu helfen – weil seine Langeweile auf magische Weise schwand, sowie Madeline erschien. Deshalb hatte er vor, seine besten Überzeugungstaktiken anzuwenden, um Arabella, Lady Danvers, zu bewegen, Madeline als Lehrerin einzustellen.

Er wollte, dass sie in der Nähe blieb, damit sie auch weiterhin seine langweilige Existenz belebte.

 

Da Madeline sehr gern als Lehrerin für die Akademie eingestellt werden würde, war ihre Nervosität nur natürlich, als sie später am Vormittag Gelegenheit zu einem Vorsprechen bekam. Zum Glück war ihre Reisetruhe in Riverwood eingetroffen, so dass sie sich ein passenderes Kleid aus dunkelblauer, feinerer Wolle anziehen konnte.

Auf Madelines Drängen hin schrieb Lord Haviland eine Nachricht an Lady Danvers, in der er um ein Gespräch bat. Dann fuhr er Madeline in seiner Kutsche nach Danvers Hall hinüber, was sehr viel förmlicher war als ein Fußmarsch durch die aneinandergrenzenden Parks.

Lady Danvers empfing beide im Salon und hieß nicht nur Madeline erstaunlich warmherzig willkommen, sondern winkte auch sofort jeden Dank für die Unterbringung letzte Nacht ab. Haviland hatte also wieder einmal Recht gehabt. Wie Lady Danvers sagte, suchte sie derzeit nach einer Lehrerin, und drückte ihre Freude aus, dass Madeline sich für eine Stellung interessierte.

Die Countess schien ungefähr im selben Alter wie Madeline, nur war sie eine Schönheit – groß und elegant mit ihrem hellen Haar, einem rosig-goldenen Teint, eine Lady durch und durch. Und dennoch sprach sie mit ungewöhnlicher Leidenschaft von der Freemantle-Akademie für junge Damen, als sie ihr alles beschrieb.

»Meine zwei jüngeren Schwestern und ich gründeten die Akademie vor einigen Jahren mit Hilfe unserer Gönnerin, Lady Freemantle«, erklärte Lady Danvers. »Wir sind allerdings mehr eine Vorbereitungsschule für die Privatinternate. Wir lehren die Töchter aus wohlhabenden Familien der arbeitenden Klasse, sich in die Salons und Ballsäle der feinen Kreise einzufügen.«

»Welche Fächer bieten Sie an?«, fragte Madeline neugierig.

»Zumeist wurden unsere Schülerinnen vorher von privaten Gouvernanten unterrichtet, so dass sie in den üblichen Fächern recht gut sind, nur fehlt es ihnen an der nötigen Eleganz und Gelassenheit, die man von einer jungen Dame erwartet. Daher bieten wir ihnen für die letzten Jahre vor ihrer Einführung in die Gesellschaft an, sie in Haltung, Benehmen, Sprache, Konversation und auch vornehmen Zerstreuungen wie Reiten, Tanzen, Bogenschießen und Musizieren zu unterweisen. Unser Ziel ist es, ihnen die Kultiviertheit und Eleganz beizubringen, die sie brauchen, um in den Adel einzuheiraten.«

Madeline musste ein Stirnrunzeln unterdrücken, war der Unterrichtsplan, den Lady Danvers ihr schilderte, doch so ganz anders als das, was sie erwartet hatte. Aber sie blieb stumm, während Lady Danvers fortfuhr.

»Früher haben meine Schwestern und ich mindestens ein Fach pro Tag unterrichtet, aber da wir alle in diesem Jahr heirateten, müssen wir unseren Lehrplan ändern. Zudem«, hier lächelte die Countess verhalten, »bin ich mit familiären Dingen befasst. Und wenn das Baby nächstes Frühjahr geboren ist, werde ich wohl noch weniger Zeit für die Akademie haben. Wir haben eine Direktorin, die sich um die tägliche Verwaltung der Schule kümmert. Und ich konnte unlängst eine andere Vollzeitlehrkraft verpflichten, die über die meisten Stunden wacht. Nicht zu vergessen, dass eine enge Freundin von mir oft an der Akademie unterrichtet. Aber bei siebenundzwanzig Schülerinnen können wir jemanden mit Ihren Qualifikationen gebrauchen, uns im Unterricht zu unterstützen, Miss Ellis.«

Madeline beschloss, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen. »Ich bin nicht sicher, ob meine Qualifikationen für Ihre Akademie ausreichen, Lady Danvers. Als ich aufwuchs, genoss ich das Privileg einer hervorragenden Gouvernante, folglich bin ich gut ausgebildet im Zeichnen, Sticken, in Geschichte, Geografie und sogar Grundlagen der Buchhaltung, da wir eine Farm besaßen und ich die Bücher führte. Aber ich bin nicht im Mindestens musikalisch, und meine Kenntnisse der Kultur und des gute Benehmens sind äußerst mangelhaft. Ich habe mich niemals in gehobenen Kreisen bewegt. Der feinen Gesellschaft kam ich bestenfalls entfernt nahe, indem ich meiner letzten Arbeitgeberin, Lady Talwin, diente, und das auch nur über ihre letzten Jahre, als ich sie im Krankenbett betreute.«

Lady Danvers lächelte. »Miss Ellis, ich glaube, Sie missverstehen meine eigene gesellschaftliche Qualifikation. Bis zum letzten Jahr lebten meine Schwestern und ich unter der dunklen Wolke eines Skandals, der uns gänzlich von den feinen Kreisen ausschloss. Und weil wir quasi mittellos waren, mussten wir für unseren Unterhalt arbeiten. Zu unserem Glück brachte die Akademie genügend ein, uns ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu sichern, so dass wir nicht gezwungen waren, uns gegen unseren Willen zu verheiraten. «

»Aha«, sagte Madeline. Das Geständnis der Countess überraschte und erleichterte sie sehr, denn auch Lady Danvers hatte anscheinend nach Unabhängigkeit gestrebt, und wie Madeline war sie ebenfalls nie bereit gewesen, zu heiraten, um zu überleben.

»Dem ersten Eindruck nach wissen Sie, sich auszudrücken, und wie ich höre, sind Ihre Manieren tadellos«, fügte Lady Danvers hinzu und warf dabei einen Blick zu Lord Haviland, der ihnen gegenüber in einem Sessel saß. Ihr stummes Zwiegespräch bestätigte, dass Haviland in seiner Nachricht darauf bestanden hatte, bei dem Vorstellungsgespräch die Etikette zu wahren. »Und wenn Sie Ihre vorherige Arbeitgeberin ertragen konnten, werden Sie auch mit unseren Schülerinnen umgehen können.«

»Was wären meine Zuständigkeiten? Was habe ich zu erwarten?«

»Haviland sagte mir, dass Sie fließend Französisch sprechen, also würde ich gern diese besondere Fähigkeit ausnutzen. Ihre Pflichten wären folglich, Französisch und Englisch zu unterrichten. Meiner Erfahrung nach verbessert das Erlernen einer Fremdsprache die Grammatik und Aussprache in der eigenen, was für unsere Schülerinnen entscheidend ist. Und als Lehrkraft gilt: Je vergnüglicher Sie das Lernen gestalten können, umso besser prägen die Schülerinnen sich das Gelernte ein. Ihr Fachgebiet verschafft Ihnen sogar einen Vorteil bei unseren Mädchen, Miss Ellis. Sie sind alle ganz begeistert von französischer Mode, falls Sie einige Magazine aus Paris beschaffen könnten – ähnlich unserem La Belle Ensemble –, werden Ihnen die Mädchen zu Füßen liegen.«

Der ernste Tonfall, in dem Lady Danvers sprach, entlockte Madeline nun endlich ein Lächeln. »Ich denke, das könnte ich, Lady Danvers, verfüge ich doch über zahlreiche Bekanntschaften unter den Émigrés, von denen viele vor der Revolution zum Adel gehörten.«

»Sehr schön«, sagte Lady Danvers. »Nun gut, dann möchte ich Ihnen gern eine Stelle als Lehrerin an unserer Akademie anbieten, Miss Ellis, zunächst für einen Kurs täglich. Ich kann Ihnen eine großzügige Bezahlung zusichern, allerdings wäre Ihre Anstellung vorerst zeitlich befristet. Zwar bürgt Haviland für Sie, doch da Sie keinerlei Referenzen von Ihrer letzten Stellung vorweisen können, verstehen Sie gewiss, dass es klug von mir wäre, mehr über Ihren bisherigen Werdegang in Erfahrung zu bringen. Es wäre hilfreich, wenn Sie mir eine Liste Ihrer früheren Nachbarn und anderer Bekanntschaften zusammenstellen können, denen ich dann umgehend schreibe. Wir ändern Ihre Anstellung in eine zeitlich unbegrenzte, sobald sich mein erster Eindruck von Ihnen bestätigt. Natürlich nur, sofern Ihnen das Unterrichten hinreichend Freude bereitet.«

Es war zweifellos klug, dachte Madeline, und fair. Schließlich trüge sie die Verantwortung für die Zukunft von über zwei Dutzend jungen Damen, und Lady Danvers hatte die Pflicht, für hoch qualifiziertes Lehrpersonal zu sorgen.

Madeline war zuversichtlich, dass sie sich zur Lehrerin eignete. Und nach vielen Jahren als Gesellschafterin war die Aussicht auf geistige Herausforderung und regen Austausch mit anderen sehr reizvoll. Was ihre Defizite hinsichtlich Unterwürfigkeit betraf, wären die in der neuen Stellung kein Hindernis. Vielmehr dürfte das Lehren von allen angemessenen Tätigkeiten, die für sie infrage kamen, noch am ehesten mit ihrem Charakter harmonieren.

»Ich danke Ihnen, Mylady«, sagte sie. »Und ich nehme Ihr freundliches Angebot sehr gern an.«

»Hervorragend! Aber, bitte, nennen Sie mich Arabella. Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich Sie morgen zur Akademie, damit Sie sich alles ansehen können. Samstags findet nur bis mittags Unterricht statt, daher wäre es eine gute Gelegenheit, Sie den anderen Lehrerinnen und den Schülerinnen vorzustellen. Ich würde es schon heute Nachmittag tun, aber ich gebe heute Abend einen Ball und habe noch einiges vorzubereiten. «

»Das ist mir sehr recht.« Madeline war überaus dankbar, dass ihre neue Arbeitgeberin sich die Zeit für dieses Gespräch genommen hatte, obgleich sie einen Ball planen musste.

»Ach, und Sie bleiben selbstverständlich in Danvers Hall, bis wir alle Details Ihrer Stellung besprochen und eine angemessene Unterkunft für Sie gefunden haben.«

Madeline wollte widersprechen, denn ihr war nicht wohl dabei, sich aufzudrängen, aber nun sagte erstmals seit mehreren Minuten Lord Haviland wieder etwas.

»Betrachten Sie Ihre Unterbringung hier als Teil Ihres Salärs, Miss Ellis«, erklärte er, als wüsste er genau, was ihr durch den Kopf ging. »Und Sie erweisen Ihrer Ladyschaft einen Gefallen, indem Sie Ihre Stellung so kurzfristig antreten können.«

»Das tun Sie fürwahr«, bestätigte die Countess.

Madeline wollte nicht undankbar erscheinen. »Sie sind überaus großzügig, Lady Danvers.«

»Arabella, bitte … und ich hoffe, ich darf Sie Madeline nennen.«

»Ja, selbstverständlich … Arabella.«

»Ach«, sagte Arabella plötzlich, »was ich schon früher hätte bedenken sollen, Sie müssen heute Abend auf den Ball kommen, Madeline. Dort können Sie unsere Direktorin und andere Lehrerinnen kennenlernen – ausgenommen meine jüngste Schwester Lily, die momentan die Mittelmeerländer bereist. Aber meine mittlere Schwester Roslyn ist unlängst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt und wird hier sein. Übrigens würde Sie sich gewiss freuen, Sie zu sehen, Lord Haviland.« Arabella sah ihn an, diesmal unmissverständlich amüsiert. »Die Brautwerbung kann etwas höchst Unangenehmes sein, nicht wahr, Mylord? «

»Fürwahr.«

Madeline, die nicht verstand, was die beiden meinten, wunderte sich, als Lord Haviland etwas unbehaglich seine Sitzposition wechselte. Ihm war das Thema eindeutig peinlich.

Der Grund, aus dem Madeline die Situation als unangenehm empfand, war ihr indes sehr wohl bekannt. Zwar war sie überfroh, eine Stellung zu haben, die Einladung zum Ball hingegen machte sie regelrecht unglücklich. Nicht dass sie sich vor der feinen Gesellschaft fürchtete, weil die sie als bessere Bedienstete betrachtete, sondern weil Madeline nichts besaß, was man zu einem Ball tragen konnte. Überdies hatte sie nie gelernt, richtig zu tanzen, und dieses Manko wollte sie ungern vor allen zur Schau stellen.

»Sie sind sehr freundlich, Arabella, aber ich fürchte, ich muss ablehnen. Ich bin noch nicht ganz bereit, mich in der Gesellschaft zu zeigen.«

»Wie Sie wünschen. Aber Sie kommen doch, Haviland? «, fragte die Countess.

Er zögerte. »Ich habe momentan einen Gast, Lady Danvers, und ich möchte Lunsford nicht sich selbst überlassen.«

»Mr Frederick Lunsford? Er ist ebenfalls herzlich eingeladen.«

»Dann nehme ich gern in seinem Namen an.« Haviland sah allerdings eher aus, als erwartete ihn eine verdrießliche Aufgabe. »Ich sollte mich vermutlich auf die Gelegenheit freuen.«

»Oh ja. Roslyn wird sie weidlich nutzen.« Arabella wandte sich zu Madeline, um sie einzuweihen. »Auf Havilands Bitte hin haben meine Schwestern und ich uns verbündet, eine passende Braut für ihn zu suchen, wobei Roslyn die meiste Arbeit leistet. Wir haben schon mehrere geeignete Kandidatinnen vorgeschlagen, aber bisher war noch keine unter ihnen, die Lord Haviland zusagte.«

Madeline rang sich ein mattes Lächeln ab. Warum in aller Welt sollte sie unglücklich sein, weil die Loring-Schwestern dem Earl of Haviland halfen, eine Braut zu finden?

Weil du selbst dich zu ihm hingezogen fühlst, was närrisch ist, lautete die unerwünschte Antwort, die ihr eine kleine Stimme zuflüsterte.

Natürlich hatte sie wenig Hoffnung, seine Zuneigung zu gewinnen, doch für einen flüchtigen Moment malte sie sich aus, wie wundervoll es wäre, könnte Haviland sie als seine künftige Braut sehen. Auf dem Ball heute Abend von ihm umworben zu werden. Von ihm geküsst zu werden und in seine leidenschaftliche Umarmung zu versinken …

Wäre sie eine Träumerin, könnte sie sich solch unmöglichen Fantasien hingeben. Aber zum Glück hatte Madeline keine Zeit, ihren unsinnigen Gedanken nachzuhängen, denn Arabella erhob sich.

»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich muss mich um die Ballvorbereitungen kümmern. Mein Ehemann hatte in London einiges zu regeln, was die bevorstehende Vermählung seiner Schwester Eleanor angeht, deshalb kehrten wir erst verspätet nach Danvers Hall zurück. Haviland, bitte, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, fügte sie hinzu, als er und Madeline ebenfalls aufstanden. »Wenn Sie soweit sind, Madeline, hilft Mrs Simpkin Ihnen, sich in Ihren Gemächern einzurichten. Und Sie sind herzlich auf dem Ball heute willkommen, sollten Sie Ihre Meinung ändern.«

Madeline wollte Arabella nochmals danken, aber Haviland kam ihr zuvor. »Ich werde mein Bestes tun, sie zu überreden.«

Als sie begriff, dass er nicht vorhatte, zu gehen, sah Madeline ihn unsicher an. Sie wollte nicht mit ihm allein sein, denn sie fürchtete, dass sie seiner »Überredung« nur schwer widerstehen könnte.

Und ihre Sorge war berechtigt. Kaum hatte Arabella den Salon verlassen, kam er zum Thema zurück. »Warum möchten Sie nicht zu dem Ball kommen?«

Madeline entschied sich für die Wahrheit. »Mir missfallen elegante Veranstaltungen, zumal wenn ich weiß, dass ich von Fremden beobachtet und beurteilt werde, die mich für ungenügend erachten. Und ich besitze außerdem kein Ballkleid.«

»Ich schätze, Lady Danvers würde Ihnen mit Freuden eines von ihren leihen.«

Madeline bedachte ihn mit einem verärgerten Blick. »Ausgeschlossen. Selbst wenn ich mich darauf einließe, wir haben nicht dieselbe Größe.«

Sie fühlte, wie er sie musterte. Sie war weder so groß noch so schmal wie Arabella und deutlich kurvenreicher. Was er dachte, konnte sie seiner Miene jedoch nicht entnehmen.

»Sie können sich jederzeit ein Kleid ändern lassen«, lautete sein Vorschlag.

»Nicht so kurzfristig.«

»Zum richtigen Preis schon.«

»Einem Preis, den ich mir nicht leisten kann.«

»Ich könnte Ihnen das Geld auslegen, und Sie zahlen es mir von Ihrem ersten Gehalt zurück.«

Madeline starrte ihn an. »Sie wissen, dass ich keine finanzielle Unterstützung von Ihnen annehme, Lord Haviland.«

»Ach ja, Ihr Stolz reckt mal wieder sein Haupt hervor. «

Sie verkniff sich eine Erwiderung. Möglicherweise war sie ein wenig überempfindlich in solchen Dingen, doch war es nicht ihr gutes Recht? Selbstverständlich würde ein Mann, der so vermögend und blaublütig war wie Haviland, nie verstehen, warum sie es beschämend fände, sich das Kleid einer anderen Dame zu leihen.

Dennoch bezweifelte sie, dass er es nur vorschlug, weil er gleichgültig und unsensibel war. Eher dürfte er sich keinen Begriff davon machen können, was gesellschaftliche Unterlegenheit bedeutete, denn er gab selbst so wenig auf die feinen Kreise.

»Es ist nicht bloß Stolz«, beharrte Madeline. »Ich leihe mir kein Kleid von meiner neuen Arbeitgeberin, das ich dann zerschneiden lasse.«

»Nun, ungeachtet dessen, wie Sie sich kleiden, würde ich mich sehr freuen, Sie heute Abend auf dem Ball zu sehen.«

Sein Tonfall war auf einmal merklich weicher, und als er ihr ein mattes Lächeln zuwarf, wurde ihr sehr warm, obwohl sie wusste, dass Haviland seinen Charme als Waffe einsetzte. Sie konnte nicht umhin, die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln zu bemerken, die im schwachen Licht gestern Abend nicht zu sehen gewesen waren.

»Ihre Wünsche sind in dieser Angelegenheit nicht von Belang, Mylord«, konterte sie spitzer, als er es verdiente.

»Ich weiß, doch Sie sollten um Ihrer selbst willen hingehen – um Ihre künftigen Kolleginnen und Ihre neuen Nachbarn kennenzulernen, wo Sie doch hier zu wohnen planen. Und ich würde es als einen Gefallen auffassen, brauche ich doch dringend eine Verbündete. «

»Eine Verbündete?«

»Ich hege eine tiefe Abneigung gegen Debütantinnen, von denen ich voraussichtlich belagert werde, da allgemein bekannt ist, dass ich mich nach einer Braut umsehe.«

Haviland wollte, dass sie ihn vor den jungen Damen im heiratsfähigen Alter schützte?

Zunächst war sie sprachlos. »Erwarten sie, in Bälde zu heiraten?«

»Ginge es nach meiner Großmutter, ja«, antwortete er schmunzelnd. »Sie fand sich mit meinem ›Taugenichtsdasein‹, wie sie es nannte, ab, solange mein Land mich brauchte. Nun aber setzt sie alles daran, die Familienlinie zu erhalten, und verlangt, dass ich einen Erben vorweise.«

Das bleierne Gefühl, das sich bei dieser Erklärung auf Madelines Brust legte, konnte sie selbst nicht richtig erklären.

Gewiss hätte er keinerlei Schwierigkeiten, sich eine Braut auszuwählen. Bei seiner faszinierenden Ausstrahlung dürften ihm die atemberaubendsten Schönheiten der feinen Gesellschaft nachstellen. Diese Aura von Gefahr, die ihn umgab, im Verein mit seinem freundlichen, verführerischen Lächeln dürfte die Frauenherzen im Sturm erobern. Er erfüllte die geheimsten Träume einer jeden Frau. Und wenn Havilands blaue Augen sie mit dieser Dringlichkeit ansahen, wollte sie dahinschmelzen.

Wie wagte sie es, auch nur daran zu denken, sie könnte sich in ihn verlieben? Auf keinen Fall würde sie sich einer närrischen Romantikerin gleich seinem Wunsch fügen!

Andererseits schuldete sie ihm Dank für seine Großzügigkeit ihr gegenüber.

»Also werden Sie doch zum Ball kommen, Miss Ellis? «

Ihre lavendelfarbene Abendrobe, das eleganteste Kleid, das sie besaß, müsste genügen.

»Ja«, stimmte sie zu und hoffte, dass sie es nicht bereuen würde.

»Wunderbar!«, sagte er, als hätte er von vornherein geahnt, wie sie sich entscheiden würde. Offenbar hatte er großes Vertrauen in seine Überredungskünste. »Ich freue mich, Sie heute Abend zu sehen. In der Zwischenzeit lasse ich Ihre Reisetruhe herbringen. Und schicken Sie mir Nachricht, sollten Sie sonst noch etwas benötigen.«

Mit einer kurzen Verbeugung ließ er Madeline stehen, die ihm nachblickte und dabei von einer schmerzlichen Enttäuschung überwältigt wurde. Haviland beabsichtigte, sehr bald zu heiraten, und sie zählte nicht zur Auswahl geeigneter Heiratskandidatinnen.

Ihre Dummheit war verblüffend. Wie konnten Hoffnungen in ihr zerstört werden, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatte? Sie hatte nicht das Geringste mit den Debütantinnen gemein, unter denen er sich seine Countess auswählte.

Madeline biss sich energisch auf die Lippe. Selten gestattete sie sich, ihr unscheinbares Äußeres zu bedauern. Stattdessen glaubte sie lieber fest daran, dass Verstand und Charakter wichtiger wären. Doch seit sie dem gut aussehenden, anziehenden Rayne Haviland begegnet war, wünschte sie plötzlich, sie wäre schön und elegant und kultiviert wie Lady Danvers. Eine beträchtliche Mitgift würde auch nicht schaden.

Madeline wandte sich zur Tür und bemühte sich, ihre albernen Gedanken zu vertreiben. Sie war keine Frau, die sich sinnlosen Träumereien hingab. Sie war pragmatisch, praktisch, vernünftig, kühl. Und sie hielt ihre Gefühle tief in ihrem Innern unter Verschluss, wo sie nicht schmerzen konnten.

Nichts war unsinniger, als sich nach etwas zu verzehren, was man nicht haben konnte. So wurde man bestenfalls verbittert.

Und Lord Haviland zu begehren, würde allemal in Bitterkeit enden, denn er war unerreichbar für sie.

Sie musste diese Sehnsucht im Keim ersticken, entschied Madeline, als sie den Salon verließ, um sich in ihren Gemächern einzurichten.