Erstes Kapitel

Wie sehr wünschte ich, du wärst noch bei mir und könntest mir Rat erteilen, Maman. Du hast mich nie davor gewarnt, wie erregend der Kuss eines Mannes sein kann oder dass eine schlichte Umarmung einer Dame alle Sinne zu erschüttern vermag. Welch schockierende Erfahrung!

September 1817, unweit von London

 

»Zieht denn ein Unglück das nächste nach sich?«, murmelte Madeline Ellis, als sie aus dem Gästezimmerfenster des Gasthofs hinab in den schwach beleuchteten Stallhof sah. »Erst die Kutsche, und nun Lord Ackerby.«

Ihre sich stetig verschlimmernde Lage ließ ihr den Mut schwinden. War es nicht bereits ärgerlich genug, dass die Postkutsche, die sie nach London bringen sollte, mitten in einem Gewitter ein Rad verlor, so dass Madeline eine Stunde vom Ziel entfernt in einem Gasthof gestrandet war? Genügte es nicht, dass ihre ohnedies dürftigen Mittel die zusätzlichen Ausgaben für das Zimmer kaum verkrafteten? Musste der abscheuliche Baron Ackerby zu allem Verdruss auch noch ihre Fährte aufgenommen haben?

Madeline hatte sich eben ins Bett zurückgezogen, als sie von dem Lärm aufgeschreckt wurde, der mit der Ankunft des Barons im Hof des »Drake« einherging. Im Lampenschein unten konnte sie die elegant gewandete Gestalt seiner Lordschaft erkennen und hören, wie er schroff befahl, man solle seine Pferde wechseln, während er sich im Gasthof erkundigte.

Als sein Blick zu den Fenstern hinaufwanderte, duckte Madeline sich eilig hinter den Vorhang.

»Wie überaus ärgerlich«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Mehrere Jahre hatte Lord Ackerby sein Verlangen, sie zu seiner Mätresse zu machen, lediglich angedeutet, doch in jüngster Zeit wurden seine unerwünschten Avancen abstoßend unverhohlen, und jede Begegnung mit ihm meiden zu wollen, schien ein sinnloses Unterfangen.

Bei dem Gedanken, der Lüstling könnte sie hier entdecken, verzog Madeline angewidert das Gesicht. Sie wollte nicht glauben, dass Ackerby so verschlagen wäre, sie sich mittels roher Gewalt gefügig zu machen, dennoch war sie in ihrem Nachthemd und barfuß entschieden zu wehrlos. Leider hatte sie keinen Morgenrock bei sich, denn ihre Reisetruhe war noch hinten auf der Postkutsche. Und ihr Umhang war zu nass und schmutzig, nachdem sie wegen des Kutschenunglücks durch den strömenden Regen bis zum Gasthof gegangen war. Wahrscheinlich blieb ihr nicht einmal mehr Zeit, ihre schlammbesudelten Halbstiefel anzuziehen. Zweifellos würde der Baron sich bei den Wirtsleuten erkundigen, ob eine Dame ihres Aussehens – mittelbraunes Haar, mittelgroß, schlicht gekleidet – heute hier gewesen war. Sodann würde man ihn zu ihrem Zimmer nach oben schicken, wo der lachhaft schmale Türriegel kaum ein Hindernis darstellen dürfte. Gott bewahre!

Entschlossen machte Madeline die Schultern gerade. Nach dem Tod ihrer Arbeitgeberin und der überstürzten Abreise ihres Bruders war sie vollkommen auf sich gestellt. Also kannst du ebenso gut zur Tat schreiten, anstatt wie ein einfältiges Geschöpft hilflos dazustehen, schalt sie sich im Geiste. Sie war die Tochter eines Soldaten, die gelernt hatte, stark und eigenständig zu sein.

»Er hält mich für schutzlos, Maman, doch er wird feststellen, dass er irrt«, murmelte Madeline, während sie in der Dunkelheit nach ihrem Handbeutel suchte.

Zugegeben, sie besaß die zweifelhafte Angewohnheit, mit ihrer verstorbenen französischen Mutter zu sprechen, gleichsam deren stummen Rat zu suchen. Jacqueline Ellis war, sehr zum Kummer ihres Ehegatten und der zwei Kinder, schon lange zur letzten Ruhe gebettet. Ein schweres Wechselfieber hatte sie in jenem Winter dahingerafft, als Madeline dreizehn Jahre alt wurde. Für Madeline war es der traurigste Tag ihres Lebens gewesen. Doch die imaginären Gespräche mit ihrer geliebten Mutter gaben ihr das Gefühl, Maman wäre immer noch bei ihr.

Madelines Unglück mehrte sich, als ihr Vater vor fünf Jahren im Krieg getötet wurde. Und nun hatte der einzige nahe Verwandte, der ihr noch geblieben war, ihr jüngerer Bruder Gerard, sie in dieser Woche verlassen, um mit seiner Liebe aus Kindertagen nach Schottland durchzubrennen.

Madeline fühlte sich ein wenig besser, als sie die kleine Pistole in ihrem Beutel fand. Trotzdem behagte es ihr nicht, hilflos zu warten, bis der Unhold hier war.

»Und, Soldatentochter oder nicht, es ist keineswegs schändlich, sich zurückzuziehen, wenn die Lage es erfordert«, sagte Madeline zu sich. Papa hätte ihr beigepflichtet, dass es nicht feige wäre, unter solchen Umständen zu fliehen – vielmehr wäre es weise.

Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Pistole geladen war, öffnete sie ihre Zimmertür und lugte hinaus auf den Flur. Es war niemand dort, wie sie im matten Schein der Wandfackel sehen konnte.

Sie schlüpfte aus dem Zimmer, schloss leise die Tür und schlich den Korridor hinunter zum hinteren Teil des Gasthofes. Aus dem Schankraum unten hörte sie Gelächter und grölende Männerstimmen. Derweil bog sie um eine Ecke, hinter der sie auf ein Versteck hoffte.

Erleichterung überkam sie, als sie eine offene Tür entdeckte, die in einen kleinen Salon führte, kein weiteres Schlafgemach. Ein Feuer knisterte im Kamin, und eine Lampe erhellte die vordere Hälfte des Raumes.

Kaum vernahm sie unheimliche Schritte von der Treppe, huschte Madeline in den Salon und stellte sich hinter der Tür auf Verteidigungsposten.

Baron Ackerbys Avancen wurden während der letzten drei Wochen beständig dreister, seit Madeline ihre langjährige Stellung als Gesellschafterin bei einer reizbaren, aber dennoch liebenswerten älteren Adligen mit deren Ableben verlor. Nun war Madeline auf dem Weg nach London, wo sie sich bei einer Agentur um eine neue Stelle bewerben wollte, musste sie doch dringender denn je für ihren eigenen Unterhalt sorgen. Ihre feste Überzeugung, dass wahre Liebe etwas höchst Kostbares war, hatte sie dazu bewogen, ihrem Bruder zu helfen und ihm ihre sämtlichen Ersparnisse für die Fahrt nach Schottland zu geben.

Madeline verabscheute es, in solch einer prekären Lage zu sein, buchstäblich verarmt und der Gnade eines mächtigen, vermögenden Herrn ausgeliefert, der glaubte, über alles und jeden in Chelmsford, Essex, zu herrschen. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass Baron Ackerby sie vor allem deshalb begehrte, weil sie sich seinen Annäherungsversuchen stets widersetzt hatte. Warum sonst sollte er einer unscheinbaren jungen Frau nachstellen, die zudem für ihren wachen Verstand berüchtigt war, wenn nicht um des Reizes willen, sie zu besiegen und gesellschaftlich zu vernichten?

Offenbar nährte ihr Widerstand seine Entschlossenheit, sie zu seiner Mätresse zu machen. Gleichwohl war Madeline sprachlos gewesen, als Ackerby die Frechheit besaß, ihr dieses schamlose Angebot keine zwei Stunden nach dem Begräbnis ihrer Arbeitgeberin zu unterbreiten.

Betrüblicherweise war Madelines Herkunft überdies von Nachteil. Die französischen Emigranten in Essex waren größtenteils arm und hatten wenig Möglichkeiten, sich gegen die Launen des Landadels und der vermögenden Grundbesitzer zu wehren. Und auch wenn Madeline bloß zur Hälfte französisch war – ihr Vater war ein Captain der British Army und ein brillanter Spion unter General Lord Wellington gewesen – , konnte sie wenig gegen einen wollüstigen Adligen ausrichten, der sich in den Kopf gesetzt hatte, sie in seinen Privatbesitz einzugliedern.

Bibbernd in ihrer spärlichen Kleidung, stand Madeline in dem Salon und horchte. Sie hätte sich besser eine Bettdecke umgewickelt, die sie vor der Kälte abschirmte. Selbst mit der Pistole in der Hand fühlte sie sich verwundbar. Und sie hasste dieses Gefühl von Ohnmacht. Ihr Herz schlug viel zu schnell, während sie sich fragte, welchen Vorwand der Baron den Wirtsleuten präsentieren würde, weshalb er sie verfolgte …

In diesem Moment stellten sich ihre Nackenhaare auf. Sie hatte eindeutig geirrt, als sie den Salon für verlassen hielt, denn nun spürte sie eine bedrohliche Präsenz hinter sich.

Gleich darauf setzte ihr Herzschlag aus, als sich eine starke Männerhand plötzlich um ihr Handgelenk schloss wie eine Fessel. Mit einem stummen Schrei fuhr Madeline herum, doch da entriss er ihr auch schon ihre Pistole. Der Druck, mit dem seine Arme sie festhielten, verbot Madeline jede Bewegung.

Entsetzt blickte sie zu einem Fremden mit rabenschwarzem Haar auf. Er war groß, kräftig gebaut, und strahlte etwas Gefährliches aus. Doch es war seine maskuline Schönheit, die Madeline den Atem raubte: kantige Züge, geschwungene schwarze Brauen und leuchtend blaue Augen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern.

Sein Blick schien sie regelrecht zu bannen.

Gütiger Himmel, Maman … was tat ich? Die Antwort kannte sie bereits.

Alles deutete darauf hin, dass sie vom Regen in die Traufe geraten war.

 

Rayne Kenyon, Earl of Haviland, hatte während seiner illustren Laufbahn beim britischen Geheimdienst schon vieles gesehen, doch nicht einmal bei ihm kam es täglich vor, einer Dame zu begegnen, die nichts außer einem Nachthemd und einer Pistole trug.

Und dabei hatte er sich erst unlängst beklagt, wie langweilig sein Leben dieser Tage wäre!

Er nahm es nie gut auf, wenn er unbewaffnet mit einer Waffe bedroht wurde. Außerdem war die letzte Dame, die eine Pistole auf ihn richtete, eine französische Spionin gewesen, die ihn umbringen wollte. Deshalb hatten, als dieses dürftig verhüllte Geschöpf in den Salon gestürmt kam, in dem er einen Verwandten erwartete, seine über Jahre trainierten Reflexe das Kommando übernommen.

Nun, da er sie entwaffnet hatte, regten sich schnell andere Impulse in ihm. Es war verflucht närrisch, sich von einer Fremden angezogen zu fühlen, die einen tödlichen Anschlag im Schilde führen könnte, auch wenn ihm niemand einfiele, der ihm gegenwärtig nach dem Leben trachtete. Seine Tage als Meisterspion waren längst vorüber.

Und die junge Dame wirkte hinreichend erschrocken, dass Rayne bezweifelte, ihr Ziel zu sein.

»Ich b-bitte um Verzeihung«, stammelte sie mit zittriger, atemloser Stimme. »Ich w-wusste nicht, dass jemand hier drinnen ist.«

Rayne lockerte seinen Griff ein wenig, hielt sie allerdings weiter mit einem Arm um die Taille, solange er ihre Pistole musterte.

Als er sah, wie sehnsüchtig sie die Waffe betrachtete, nahm Rayne sie kopfschüttelnd herunter. »Die behalte ich, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Aber ich hätte sie doch niemals gegen Sie gerichtet!«

»Warum hatten Sie die Waffe dann bei sich?«

Sie wurde merklich unruhig, als Schritte auf dem Korridor zu hören waren. »Bitte«, flüsterte sie flehend und blickte sich zur Tür um. »Verraten Sie mich nicht!«

Es war nicht zu übersehen, dass sie sich vor demjenigen fürchtete, der dort auf dem Flur war.

»Ich hoffe, Sie werden mir vergeben«, fügte sie eilig hinzu, »aber ich muss Sie bitten, mich zu küssen.« Mit diesen Worten schlang sie ihre Arme um seinen Hals, streckte sich nach oben und presste ihren Mund auf seinen.

Ein Dutzend Jahre hatte Rayne für die Krone gearbeitet, und in all der Zeit war er nur sehr selten von etwas überrascht worden. Doch ihre Lippen auf seinen zu fühlen, kam ebenso unerwartet wie die Flut purer Wonne, die ihn dabei überrollte.

Ihr Mund war weich und wohlgerundet, was auch für ihren Leib galt, und so handelte Rayne abermals instinktiv und erwiderte den Kuss mit einer ihn selbst verblüffenden Inbrunst.

Sie schmeckte erregend und erstaunlich süß. Ohne nachzudenken, steigerte Rayne das Vergnügen, indem er ihre Lippen mit seiner Zunge öffnete.

Zuerst versteifte sich die Fremde, als würde sie erschrecken, doch sie sträubte sich nicht – vielleicht weil sie zu verblüfft war.

Er hätte sie noch eine ganze Weile weiter küssen können, wäre der intime Moment nicht durch eine barsche männliche Stimme gestört worden.

»Was zum Teufel hat das zu bedeuten!«

Zu Raynes Bedauern fuhr die Frau in seinen Armen zusammen und löste den Kuss. Ihre Wangen waren gerötet, und sie zitterte, als sie sich zu dem Neuankömmling umwandte. Gemessen an den Umständen war ihre Haltung dennoch bewundernswert, als sie kühl antwortete: »Lord Ackerby, was führt Sie her?«

Offensichtlich kannte sie den hochgewachsenen Gentleman mit dem kastanienroten Haar, der sie mit bohrendem Blick anschaute.

»Nun, Sie natürlich, Madeline. Ich hörte, dass Sie Chelmsford verließen, um nach einer Stellung zu suchen, und wollte Sie persönlich nach London eskortieren. «

»Sehr freundlich von Ihnen, Mylord, aber ich benötige Ihre Hilfe nicht.«

»Gewiss tun Sie das. Sie verfügen derzeit über kein Einkommen und kein Transportmittel.«

Trotzig reckte sie ihr Kinn. »Ich komme sehr wohl ohne Hilfe aus. Und wie Sie sehen, bin ich momentan beschäftigt. Ich würde meinen, selbst Ihnen ist bekannt, dass es sich nicht ziemt, ein Schäferstündchen zu unterbrechen.«

Der Adlige schien im ersten Augenblick entsetzt, dann wurde er misstrauisch. »Wollen Sie mich glauben machen, Sie wären hier, um Ihren Geliebten zu treffen?«

»Glauben Sie, was immer Sie mögen, Mylord«, entgegnete sie süßlich.

Rayne begriff recht schnell, dass sie vorgab, eine Liaison mit ihm zu haben, um ihren Verfolger abzuschrecken. Und er beschloss, ihre Scharade für eine Weile mitzuspielen. Also legte er seinen Arm fester um ihre Taille und zog sie dicht an sich.

»Ackerby, nicht wahr? Sie sollten sich dem Wunsch der Dame fügen, die offenbar kein Verlangen nach Ihrer Gesellschaft hat.«

Die Miene des Adligen verfinsterte sich, als er zu Rayne sah. »Und wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin Haviland.«

»Der Earl of Haviland?«, fragte der Mann, dem der Name selbstverständlich etwas sagte.

»Ebender.«

Raynes Titel schüchterte Ackerby sichtlich ein. Kein Wunder, war es doch eine Sache, einer schutzlosen jungen Dame nachzustellen, eine gänzlich andere aber, es mit einem wohlhabenden Earl aufzunehmen, der sowohl sich selbst zur Wehr setzen als auch die betreffende Dame zu schützen vermochte.

»Diese Angelegenheit geht Sie nichts an, Sir«, konterte Ackerby schließlich.

»Das tut sie sehr wohl«, widersprach Madeline gelassen. »Sie sind es, der keinerlei Anspruch auf mich erheben darf, Mylord.«

Ackerbys Ton wurde merklich versöhnlicher. »Ich bin Ihretwegen weit gereist, Madeline. Ich sorge mich um Ihr Wohlergehen.«

»Ach ja? Ich glaube kaum, dass Ihnen mein Wohl am Herzen liegt. Und wie ich Ihnen bereits mehrfach mitteilte, interessiert mich Ihr Angebot nicht. Vielleicht verstehen Sie nun den Grund. Ich habe schon einen Gönner.«

Sie hielt sich wahrlich tapfer, wie Rayne feststellte; trotzdem war es an der Zeit, dass er etwas sagte. »Ich schlage vor, dass Sie gehen, Ackerby, bevor ich mich gezwungen sehe, Ihnen nach draußen zu helfen.«

Der Adlige konnte eindeutig nicht fassen, dass er des Zimmers verwiesen wurde – und es machte ihn wütend. Er bedachte erst Rayne, dann die junge Dame mit einem vernichtenden Blick.

»Sie werden noch von mir hören«, warnte Ackerby sie, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte und hinausging.

Sie hatte die Luft angehalten, bis sie nach einer ganzen Weile vor Erleichterung erschauderte.

»Danke, dass Sie mich nicht verraten haben«, murmelte sie und sah zu Rayne auf. »Ich wollte Ihnen wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Nicht der Rede wert«, entgegnete er gelassen. »Ich gestehe, dass es meiner Eitelkeit schmeichelte, Ihren Liebhaber zu spielen.«

Ihre Wangen färbten sich entzückend rosa. »Für gewöhnlich küsse ich keine Fremden – oder überhaupt jemanden.« Sogleich wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Waffe zu, die Rayne nach wie vor in der Hand hielt. »Darf ich bitte meine Pistole zurückhaben? «

»Das würde ich davon abhängig machen, zu welchem Zweck Sie sie zurück möchten. Sie werden verstehen, dass es mich ein wenig beunruhigte, als Sie plötzlich mit gezückter Waffe hereinkamen.«

Ihr Mundwinkel zuckte. »Von mir drohte Ihnen zu keinem Zeitpunkt Gefahr. Ich bewaffnete mich lediglich für den Fall, dass Baron Ackerby mir zu nahe treten sollte. Seine … Absichten bezüglich meiner Person sind wenig ehrenhaft.«

»Ja, so viel dachte ich mir«, sagte Rayne. »Hätten Sie ihn erschossen?«

»Ich denke nicht. Doch ich hielt es für angebracht, vorbereitet zu sein.«

»Ich vermute, dass er Ihnen eine fragwürdige Stellung anbot, die Sie ablehnten?«

Sie rümpfte die Nase. »Gewiss lehnte ich ab. Ich werde keines Mannes Mätresse, insbesondere nicht die von einem, dessen arrogantes Benehmen mich in den Wahnsinn treibt. Sein Dünkel verbietet ihm, mein Nein zu akzeptieren. Dennoch habe ich ihn augenscheinlich unterschätzt. Ich hätte nicht erwartet, dass er mir nach London folgen würde.« Sie blickte wieder zur Tür. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern noch ein wenig hier warten, ehe ich in mein Zimmer zurückkehre.«

»Nicht im Geringsten. Ich hätte hingegen angenommen, dass es Ihnen missfällt, mit einem Fremden allein zu sein.«

Hierauf betrachtete sie ihn nachdenklich. »Bei Ihnen gehe ich das Wagnis ein. Sie kommen mir wie ein wahrer Gentleman vor.«

Rayne erwiderte ihren Blick, während er seine eigenen Schlüsse bezüglich ihrer Person zog. Sie drückte sich wie eine Dame aus, und auch ihr Gebaren sprach dafür, dass sie aus gutem Hause war.

Rayne verstand, warum der Baron sie in sein Bett bekommen wollte. Zwar war sie keine eigentliche Schönheit, eher unscheinbar sogar, mit etwas zu harten Zügen und einem blässlichen Teint. Ihr Haar war von einem undefinierbaren Mausbraun, und sie trug es zu einem schlichten, praktischen Zopf geflochten. Ihr Körper indes war alles andere als schlicht oder unscheinbar. Rayne hatte die Kurven unter dem einfachen, wenig schmeichelhaften Nachthemd deutlich fühlen können.

Sie im Arm zu halten, fühlte sich jedenfalls ausgesprochen reizvoll an …

»Sie dürfen mich jetzt loslassen«, sagte sie leicht atemlos, womit sie Raynes lüsterne Gedanken unterbrach und ihn daran erinnerte, dass sein Arm immer noch um ihre Taille geschlungen war.

Zu seiner eigenen Verwunderung gab er sie nur höchst ungern frei. »Verraten Sie mir Ihren Namen? «, fragte er, und als sie zögerte, ergänzte er: »Ich möchte wissen, wen ich gerettet habe.«

Sie schmunzelte. »Genau genommen, haben Sie mich nicht gerettet. Das tat ich wohl eher selbst.«

»Aha. Nachdem die Gefahr überstanden ist, zeigen Sie sich undankbar?«

Ihre grauen Augen funkelten amüsiert, und Rayne stellte erstaunt fest, dass er fasziniert von dieser jungen Dame war. Seit Napoleons Niederlage vor zwei Jahren in Waterloo waren Raynes Tage von Abenteuer und Gefahr vorbei, was er sehr bedauerte. Es bedurfte keiner Spione mehr, die einen französischen Tyrannen daran hinderten, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Und obgleich Rayne seine Tätigkeit so lange wie möglich beibehielt, war er im letzten Jahr gezwungen gewesen, nach England zurückzukehren, als er den Titel von seinem verstorbenen Vater erbte. Zudem hatten die Siegermächte mit dem Wiener Kongress Napoleons eroberte Gebiete und ganz Europa neu unter sich aufgeteilt.

Sein gegenwärtiges Leben und vor allem die Notwendigkeit, eine Braut zu finden, langweilten Rayne maßlos. Die letzte, unendlich lange Woche hatte er bei einer Hausgesellschaft in Brighton verbracht, was er nur tat, um seiner Großmutter, der verwitweten Countess Haviland, gefällig zu sein. Er hatte Lady Haviland nach Brighton begleitet und hätte sie auch wieder nach London eskortiert, wäre nicht eine verzweifelte Nachricht von seinem entfernten Cousin, Freddie Lunsford gekommen – sehr zur Freude Raynes. Er hatte hier auf Freddie gewartet, als diese besondere junge Dame ihm eine unerwartete Abwechslung bescherte.

Er hatte allerdings keinen Grund, ihr die Waffe nicht wiederzugeben. Als er sie ihr reichte, trat sie einen Schritt zurück. »Ich danke Ihnen. Nun werde ich Sie nicht mehr belästigen, Lord Haviland.«

»Sie müssen noch nicht gehen«, erwiderte Rayne, der eine Hand auf ihren Arm legte, weil sie sich bereits abwandte. »Ackerby lauert Ihnen womöglich auf.«

»Er dürfte den Gasthof inzwischen verlassen haben … Hoffe ich.« Überzeugt klang sie nicht. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor ihrem Oberkörper.

»Ihnen ist kalt«, bemerkte er. »Kommen Sie näher ans Feuer.«

Wie es aussah, fand sie seinen Vorschlag vernünftig, denn nach kurzem Zögern nickte sie.

Rayne fasste ihren Ellbogen und führte sie zum Kamin. Auf dem Weg griff er nach seinem Übermantel, den er über die eine Sofalehne gehängt hatte, und drapierte ihn um ihre Schultern.

»Danke«, murmelte Madeline nochmals und schmiegte sich in den schweren Wollstoff. Dann streckte sie die Hände zum wärmenden Feuer aus.

Als der Mantel herunterzurutschen drohte, fing Rayne ihn ab und stellte sich vor Madeline, um die Knöpfe vorn über ihrem Busen zu schließen. Kaum aber sah sie zu ihm auf, verharrte er mitten in der uneigennützigen Geste.

Der Feuerschein verlieh ihrer Haut einen goldenen Schimmer, und erstmals bemerkte Rayne die hellen Strähnen in ihrem Haar. Doch ihr Mund war es, der seine Aufmerksamkeit vollkommen fesselte.

Rayne rührte sich nicht. Er kannte die Empfindungen, die sich in ihm regten: Besitzgier, Verlangen, Lust. Auf einmal war ein eindeutiges Knistern zwischen ihnen.

Das Madeline gleichfalls spürte, so wie sich ihr Körper anspannte. Ja, er fühlte die Spannung in ihr.

Madeline erschauderte wieder, doch diesmal nicht vor Kälte, vermutete Rayne. Als ihre Lippen sich ein wenig öffneten und sie nach Luft rang, konnte Rayne trotz seiner Versicherung, er wäre ein Gentleman, nicht widerstehen.

Er neigte den Kopf, um sich einen zweiten Kuss von ihr zu nehmen.

Bei der ersten Berührung ihrer Lippen hielt Madeline hörbar den Atem an, wohingegen Haviland angesichts ihres verlockenden Aromas und ihrer wundervollen Formen schneller atmete. Ihre Lippen zitterten unter seinen … weich, nachgiebig, seidig, auch wenn Madeline zu perplex schien, um sich an der Verführung zu beteiligen.

Deshalb änderte Rayne den Winkel seines Kopfes, um ihren Mund besser einnehmen zu können, denn nun wollte er sie unbedingt verlocken, sich ihm zu ergeben.

Entsprechend empfand er einen kleinen Triumph, als ihre Zunge ihm diesmal beinahe bereitwillig entgegenkam. Mit einer Hand umfing er ihr Kinn seitlich, auf dass er den Kuss noch weiter vertiefen konnte.

Ein leiser Seufzer stieg in ihrer Kehle auf, sowie sich ihre Zungen zum Tanz begegneten. Es war wie ein süßes Versprechen, welches das Verlangen und die Hitze in Rayne zusätzlich entfachte. Natürlich wurde die Verlockung um nichts geringer durch das Wissen, dass sie unter dem dünnen Nachthemd nackt war. Je länger der Kuss andauerte, umso erregter wurde Rayne. Er fühlte sich mehr als bereit, ihr das Nachthemd auszuziehen und die reifen Wölbungen ihres wunderbar weiblichen Körpers zu erkunden.

Eine mahnende Stimme in seinem Kopf verhinderte, dass er dem Drang nachgab, sie dichter an sich zu ziehen. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass seine Hand zu Madelines Hals wanderte und die zarte Haut über dem hohen Kragen des Nachthemds streichelte. Er sehnte sich danach, ihre vollen Brüste zu umfangen und ihre Wonne zu steigern, aber so weit durfte er nicht gehen.

Er malte sich aus, wie er ihre üppigen Brüste entblößte, wie er sie liebkoste und die Spitzen mit den Lippen umfing. Gleichzeitig würde er die vollen Rundungen ihres Pos mit beiden Händen einfangen, das Nachthemd nach oben ziehen und die Finger zwischen ihre gespreizten Schenkel tauchen.

Eine primitive Gier packte ihn, als er sich vorstellte, wie er Madeline hochhob und in ihre einladende Hitze eindrang, ihre Beine um seine Hüften geschlungen.

Stattdessen begnügte er sich damit, sie in den Armen zu halten, während er ihren Mund eroberte, und all seine Sinne einzig auf sie zu konzentrieren. Wie er, hatte auch sie sich in der Sinnlichkeit des Moments verloren.

Dann aber begriff er, wie wenig fehlte, dass er endgültig die Beherrschung verlor, und Rayne zwang sich, aufzuhören. Er löste die leidenschaftliche Umarmung und hob den Kopf. Madelines Augen waren geschlossen, und als Rayne einen Schritt zurücktrat, schwankte sie leicht.

Er hielt ihre Schultern, um sie zu stützen. Erst jetzt öffneten sich ihre Lider flatternd.

Verwundert blickte sie zu ihm auf, wobei sie die Finger auf ihre Lippen legte. »W-warum haben Sie mich noch einmal geküsst?«, flüsterte sie sehr leise.

Rayne war verzückt von dem Bild, das sie ihm bot: ihre Wangen gerötet, ihre lieblichen Augen weit aufgerissen und die halb geöffneten Lippen.

Die Spannung in seinen Lenden wurde beinahe schmerzlich. Er entsann sich nicht, wann ihn das letzte Mal ein simpler Kuss dergestalt aus der Fassung gebracht hatte.

Ihre Frage konnte er nicht beantworten. Warum hatte er sie geküsst? Es passte überhaupt nicht zu ihm, die unglückliche Lage einer wehrlosen Dame auszunutzen, doch leider war ihm sein Ehrgefühl kurzfristig abhandengekommen.

»Wie wäre es damit, dass ich mich von der Rolle als Ihr Liebhaber hinreißen ließ?«, fragte er. Seine Stimme klang belegter, als ihm lieb war.

Sie blinzelte und hatte sichtlich Mühe, seinen Worten zu folgen. Dann beäugte sie ihn skeptisch. »Aber Sie sind nicht mein Liebhaber.«

Offenbar erwachte sie aus ihrer Benommenheit, stellte Rayne unbehaglich fest, als sie die Schultern gerade machte und ihre Hand fester um die Pistole schloss, wenn auch ohne sie auf ihn zu richten.

Unweigerlich musste Rayne schmunzeln. Es geschähe ihm ganz recht, sollte sie beschließen abzudrücken, denn mit seinem ungezügelten Verhalten hatte er sich als mindestens so rücksichtslos erwiesen wie ihr Baron.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, sagte er bemüht aufmunternd. »Ich rühre Sie nicht wieder an. Sollte ich es doch tun, steht es Ihnen frei, mich zu erschießen. «

Er meinte es ernst. Und er hielt es für klüger, den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, weshalb er sich zum Sofa zurückzog, wo er sich hinsetzte und die Beine überkreuzte, um die Wölbung seiner Pantalons zu verbergen.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Rayne Kenyon, Earl of Haviland.«

Sie erschrak. »Kenyon?«, wiederholte sie.

»Kennen wir uns?«

»Nein … aber ich glaube, Sie kannten meinen Vater, Captain Ellis.«

Nun war es an Rayne zu erschrecken. »Sie sind seine Tochter Madeline?«

»Ja.«

Rayne starrte sie entgeistert an. Hiermit rückte alles in eine gänzlich neue Perspektive, denn Captain David Ellis war der Freund und Mitspion, der einst Raynes Leben gerettet hatte.

Was bedeutete, dass er Madeline niemals hätte küssen dürfen.