5. Kapitel
Ich schaue in den Rückspiegel. Oma Strelow hängt schief auf ihrem Sitz und schläft schon wieder. Kein Wunder, das war ja auch ein aufregender Tag für eine alte Dame. Da kann man schon mal müde werden. Wenn sie mich nicht so in die Pfanne gehauen hätte, könnte ich sie jetzt fast niedlich finden, wie sie da mit verwuschelten grauen Löckchen sitzt und schnarcht, und zwar gar nicht so leise. Ich sehe wieder auf die Fahrbahn und schüttele über mich selbst den Kopf. Die und niedlich, ha! Faustdick hinter den Ohren hat sie es! Schließlich werde ich wegen Oma Strelow polizeilich gesucht. Außerdem werde ich wegen der ganzen Sache einen Riesenstress mit Alex bekommen, und das so kurz vor unseren Flitterwochen! Unwillkürlich muss ich laut schnauben.
Jan schaut mich erstaunt an. »Ist irgendwas? Geht’s dir nicht gut?«
»Mir geht’s super, danke der Nachfrage. Könnte gar nicht bessergehen.«
»Dann ist ja gut.« Er wirkt erleichtert.
Meine Ironie scheint hier völlig fehl am Platz zu sein. Schweigend zuckeln wir mit unserem neuen alten Golf über die Landstraße. Spritzig ist nicht gerade der Zweitname dieser Karre, aber immerhin hat sie ein gültiges Kfz-Kennzeichen, und Herr Sultani war so gütig, sie uns sofort zu überlassen. Hat deswegen auch nur dreitausend Euro gekostet, ein echter Schnapper also. Ich schätze, der Vorbesitzer des Wagens ist Frittenkoch gewesen, denn der Kofferraum stinkt so nach ranzigem Fett, dass ich mein Brautkleid neben Oma Strelow gelegt habe. Gepflegt hat er sein Autochen auch nicht – ich hoffe, wir kommen mit der Gurke überhaupt noch bis Polen.
Wir fahren schon seit längerer Zeit durch ein menschenleeres Dorf nach dem anderem. Die Häuser sind fast alle in einem flotten Grau gestrichen, viele Gebäude sehen aus, als könnten sie mal wieder renoviert werden. Von wem, ist allerdings unklar, denn sie scheinen unbewohnt zu sein. Keine Frage, die haben hier ein echtes Nachwuchsproblem.
»Wie weit ist es denn noch bis zur Grenze?«, frage ich, um irgendeine Art von Gespräch in Gang zu bringen.
»Keine Ahnung.« Jan zuckt ratlos mit den Schultern. »Vielleicht so sechzig, siebzig Kilometer?«
Na, dann haben wir’s ja bald geschafft. Noch während ich das denke, gibt der Golf auf einmal komische Geräusche von sich. Er keucht und sprotzt, und aus der Kühlerhaube quillt weißlicher Rauch.
»Was ist das denn jetzt?« Ich stöhne genervt und lasse den Wagen langsam ausrollen.
Jan zuckt wieder mit den Schultern, macht aber keine Anstalten, auszusteigen und nachzusehen.
»Willst du nicht mal gucken, was da los ist?«
»Nö. Wie ich schon sagte: Ich bin Dozent für Germanistik. Also kein Kfz-Mechaniker.«
Ach, so ist das also. Der Herr Dozent will sich nicht die Finger schmutzig machen! Wütend steige ich aus und reiße die Motorhaube auf. Der heiße Qualm schießt mir ins Gesicht, meine Augen tränen, und ich muss husten. Während ich den Rauch wegwedele und mit dem Erstickungstod ringe, sehe ich, wie Jan beherzt auf das nächstbeste Haus zutrabt und klingelt. Kein Schwein öffnet, aber ich sehe, dass sich eine Gardine bewegt. Erst beim fünften Haus hat er Erfolg. Die Tür öffnet sich, und ein Mann mit einem gewaltigen Bierbauch mustert ihn misstrauisch von oben bis unten. Die beiden unterhalten sich, Jan macht große Gesten und deutet auf unser Auto. Der Mann schüttelt den Kopf, zeigt in die andere Richtung und knallt die Tür wieder zu.
»Und?«, frage ich hoffnungsvoll, als Jan zurückkommt.
»Vorletztes Haus vorm Ortsschild, da wohnt ein Schrauber. Wenn wir Glück haben, ist der sogar zu Hause. Los, komm!«
»Aber wir können Oma Strelow doch nicht einfach hier im Wagen allein lassen!«
»Ach was, wenn die schläft, dann schläft sie. Das kenn ich schon.«
»Und das ganze Geld?«
»Willst du hier etwa mit einer Plastiktüte voller Scheine durchs Dorf marschieren? Auffälliger geht’s wohl kaum. Das legen wir jetzt einfach in den Kofferraum.«
Wo er recht hat, hat er recht. Während sich Jan eine Zigarette anzündet, schließe ich den Wagen sorgfältig ab, dann laufen wir los. Das vorletzte Haus ist ein halbverfallener Hof. Überall auf dem Grundstück sind alte Autoreifen übereinandergestapelt, aus einer Scheune ist Hämmern und Bohren zu hören.
»Halloho«, ruft Jan. »Jemand zu Hause?«
Hinter einem Reifenberg schießt ein räudiger Schäferhund hervor und bellt wie verrückt. Zum Glück liegt er an der Kette, so dass er seinen Angriff einen knappen Meter vor uns unfreiwillig abbrechen muss.
»Nett hier«, murmele ich. »Freundliche Menschen, freundliche Tiere.«
Vorsichtshalber stelle ich mich hinter Jan – vielleicht kennt der Herr Dozent sich ja wenigstens mit Hunden aus. Aus der Scheune schlendert uns ein junger Kerl in einem dreckigen Blaumann entgegen. »Na, was kann ich für euch tun?«, fragt er gar nicht unnett und streichelt seiner Bestie beruhigend über den Kopf. Jan erklärt ihm umständlich, dass unser Auto liegen geblieben ist und ein Nachbar uns zu ihm geschickt hat.
»Sie müssen uns helfen«, unterbreche ich seine weitschweifige Rede. »Wir müssen heute noch nach Polen. Dringende Familienangelegenheit.«
»Na, dann wollen wir mal gucken, was wir da machen können. Ich bin übrigens Kevin«, sagt der Kfz-Mechaniker unseres Vertrauens und streckt uns seine ölverschmierte Pranke entgegen.
Als wir wieder beim Wagen ankommen, schläft Oma Strelow tatsächlich noch tief und fest. Ich werfe unauffällig einen Blick in den Kofferraum. Das Geld ist auch noch da.
»Ohauahauaha«, sagt Kevin, über den Motor gebeugt. Er ruckelt hier ein bisschen, zerrt dort ein wenig und hält plötzlich einen verrotteten Schlauch in der Hand. »Da haben wir den Übeltäter. Der Kühlerschlauch ist gerissen. Mann, Mann, Mann, dass die Kiste überhaupt noch fährt! Habt ihr den Wagen schon lange?«
»Gerade erst gekauft«, antwortet Jan nicht ohne Stolz.
»Na, da haben sie euch aber echt über den Tisch gezogen. Da ist nicht nur der Kühler kaputt, die ganze Karre sieht total schrottig aus.«
»Kannst du das reparieren?«, will ich von ihm wissen.
»Klar, reparieren kann man alles. Aber das dauert ein bisschen. Muss ja auch erst mal die Teile besorgen.«
»Wie lange?«
»Hmmm …« Kevin streicht sich nachdenklich über seinen nicht vorhandenen Bart. »Bis morgen Vormittag müsste ich das eigentlich hinkriegen.«
Morgen Vormittag? Der spinnt wohl! Da wollte ich längst auf dem Rückweg nach Lübeck sein. Ich kämpfe mit den Tränen – jetzt bloß nicht wieder heulen! Wenn wir heute nicht mehr nach Polen kommen, dann wird das hier aber langsam ein ganz knappes Höschen! Nach Polen fahren, Opa Heinzi verstreuen, nach Lübeck zurückfahren, Oma zur Polizei schleifen, mit Alex vertragen UND meine Sachen packen – wie soll ich das denn alles noch rechtzeitig schaffen? Ich bekomme Ohrenrauschen, und zwar kräftiges!
»Alles in Ordnung?« Jan und Kevin mustern mich besorgt.
»Ja«, piepse ich kläglich. »Warum?«
»Na, du zitterst ja richtig. Nicht dass du mir hier noch zusammenklappst. Ich meine, ich werde mich echt bemühen, die Karre wieder flottzukriegen, aber Wunder kann ich auch nicht vollbringen. Tut mir leid!« Kevin hebt bedauernd die Hände, und Jan zuckt wieder einmal mit den Schultern, das scheint eine polnische Sitte zu sein.
»Nützt ja nichts«, sagt er dann. »Gibt es hier irgendwo ein Hotel, in dem wir übernachten können?«
»Ein Hotel?« Kevin sieht ihn an, als hätte Jan ihn gefragt, ob das nicht das Kaff ist, in dem George Clooney wohnt. »Nee, natürlich nicht. Aber ein paar Kilometer weiter ist, äh, so eine Art, äh, Pension. Die vermieten auch Zimmer an Monteure. Ich kann euch hinbringen, wenn ihr wollt.«
Da uns nichts anderes übrigbleibt, nehmen wir sein Angebot dankend an. Kevin schleppt unseren Eins-a-Gebrauchtwagen mit einem riesigen amerikanischen Pick-up auf seinen Hof. Vom Kläffen seines Wachhundes wird auch endlich Oma Strelow wach. Verwirrt schaut sie sich um.
»Sind wir schon da? Mein Gott, hat sich das hier verändert. Ich erkenn gar nichts wieder …«
»Wir sind noch nicht da«, erklärt Jan und hilft ihr ganz behutsam aus dem Auto. »Wir haben eine Panne. Aber das macht nichts. Es gibt in der Nähe eine ganz zauberhafte Pension, in der wir für diese Nacht bestimmt ein Zimmer bekommen.«
Die ganz zauberhafte Pension liegt einsam mitten im Wald und trägt den ebenso malerischen wie originellen Namen Waldschlösschen. An der Vorderseite des heruntergekommenen Fachwerkhauses prangt eine leuchtende Neonreklame: Tabledance blinkt es uns verheißungsvoll in Grün und Rot entgegen. An der fest verschlossenen Tür klebt ein Zettel: Wenn von Baustelle, Schuhe aus!
Kevin brüllt noch: »Tschüss, bis morgen!«, dann braust er davon und überlässt uns unserem ungewissen Schicksal. Ich rüttele an der Tür und klopfe, Jan brüllt: »Huhu!«, Oma Strelow steht etwas verschüchtert unter einer riesigen Tanne. Wirklich vertrauenerweckend sieht das Etablissement ja nicht gerade aus. Die Tür fliegt auf, und eine leicht verlebte Mittvierzigerin in einem schreiend pinkfarbenen Frottee-Bademantel mit dazu passenden Puschen schaut uns verschlafen an. »Wat jibbet denn?«, gähnt sie. Offenbar haben wir sie aus ihrem Schönheitsschlaf gerissen.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung«, sagt Jan formvollendet. »Wir sind auf der Durchreise mit unserem Auto liegen geblieben, und nun brauchen wir eine Übernachtungsmöglichkeit. Haben Sie zufällig noch zwei Zimmer frei?«
»Drei Zimmer«, falle ich ihm ins Wort. Ich werde weder mit einem wildfremden Mann noch mit einer durchgedrehten Seniorin zusammen in einem Raum schlafen. So weit kommt das noch!
»Ach so, Sie brauchen ein Zimmer.« Die Dame des Hauses wirkt erleichtert. »Ich dachte schon, Sie wären die Neue …« Sie zeigt auf mich.
Die Neue? Die neue was?
»Da hab ich aber grade einen Schreck gekriegt. Sie sind ja schon viel zu alt für den Job. Ich hab nämlich dem Gerd extra gesagt: Schick mir nicht wieder son Auslaufmodell, mit denen haste nur Probleme. Lieber wat Blutjunges, auch ohne Erfahrung. Die zicken wenigstens nicht rum.«
Gerd? Auslaufmodell? Blutjung? Wo sind wir denn hier gelandet? Aber bevor ich noch Gelegenheit habe nachzufragen, redet die Frau einfach weiter.
»Zimmer hab ich ohne Ende, kein Problem. Kommse mal mit.«
Wir folgen ihr ins Innere des Hauses, das ziemlich muffig und feucht riecht. Unsere Gastgeberin watschelt eine knarzende Holztreppe hoch und öffnet mit großer Geste drei Türen.
»Bitte schön! Is jetzt nicht das Ritz, aber sauber und ordentlich. Klo und Dusche sind den Flur runter, hinten links. Ein Zimmer kostet zwanzig Euro pro Nacht, ohne Frühstück. n Kaffee kann ich Ihnen aber morgen früh machen.«
Mein Magen knurrt laut und deutlich. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal was gegessen? Ach ja, heute Morgen. Und jetzt wird es draußen schon langsam dunkel.
»Gibt es hier irgendwo ein Restaurant, das wir zu Fuß erreichen können?«, frage ich vorwitzig.
»Ein Restaurant? Hier?« Die Frau lacht schallend. Anscheinend habe ich einen guten Witz gemacht.
»Nä, ’n Restaurang ham wa nich. Aber ich mach Ihnen ma ’n paar Würstchen aus der Büchse heiß. Senf is auch noch da.« Damit wackelt sie davon.
Oma Strelow, Jan und ich inspizieren unsere Zimmer. Die sind so weit tatsächlich ganz in Ordnung, jedenfalls kann ich nirgendwo Kakerlaken oder sonstiges Ungeziefer entdecken, auch nicht unter meinem Bett, das laut quietscht, als ich mich draufsetze. Jan ist mit unserer Unterkunft ebenfalls zufrieden.
»Für eine Nacht wird das schon gehen«, sagt er zuversichtlich.
Nur Oma Strelow macht keinen guten Eindruck. Sie zittert ein bisschen und blickt ängstlich hin und her. Jetzt gerade tut sie mir ein bisschen leid.
»Was hat sie denn?«, flüstere ich Jan zu.
Das obligatorische Schulterzucken. »Weiß nicht. Vielleicht ist sie unterzuckert oder braucht etwas zu trinken. Wir sollten uns schleunigst auf die Suche nach unseren Würstchen machen.«
Das finde ich auch, und so haken wir Oma unter und irren etwas orientierungslos durch das große Haus. Von irgendwoher hören wir Musik, na ja, es sind mehr wummernde Bässe, aber immerhin ein Zeichen von Leben. Wir tapsen im Erdgeschoss durch einen stockdunklen Flur, die Bässe werden lauter und lauter, und plötzlich stehen wir in einem großen, schummrig rot beleuchteten Raum.
Links ist eine Bühne, auf der sich eine halbnackte, falsche Blondine gelangweilt um eine Stange wickelt. Vor ihr sitzt an einem der wenigen Tische ein einsamer Mann, der von der künstlerischen Darbietung so fasziniert zu sein scheint, dass er uns überhaupt nicht bemerkt. Rechts befindet sich eine Bar, hinter der unsere Wirtin steht. Die hat sich inzwischen umgezogen und trägt eine knallrote Korsage nebst schwarzen Strapsen, vermutlich ihre Arbeitskleidung. Sie winkt uns zu und bedeutet uns, an einem der Tische Platz zu nehmen. Dann bringt sie uns einen großen Teller mit heißen Würstchen und knallt noch ein Glas Senf auf den Tisch. »Lassense sich’s schmecken. Noch wat zu trinken?«
Jan bestellt, ohne mich zu fragen, drei Bier und eine Flasche Wasser. Mir soll’s recht sein, ich habe einen Mordshunger und im Moment eh nur Augen für die Würstchen. Auch Oma Strelow hat einen gesegneten Appetit. Schweigend mümmeln wir vor uns hin – die Musik ist so laut, dass sich eine Unterhaltung erübrigt – und beobachten die Darbietung auf der Bühne. Nur Jan schaut angestrengt in die Gegenrichtung.
»Das arme Kind«, ruft Oma Strelow unvermittelt. »Sie friert doch bestimmt. Wir haben ja erst April.«
Nach den Würstchen und zwei weiteren Bieren bin ich hundemüde.
»Wir sollten schlafen gehen«, entscheide ich. »Morgen wird bestimmt auch ein langer Tag.«
Jan nickt, so richtig fit sieht er auch nicht mehr aus.
Also verlassen wir die Bar, die sich inzwischen etwas gefüllt hat, und bringen Oma ins Bett, der es nach dem Essen wieder sichtlich bessergeht. Jan zieht ihr fürsorglich die Schuhe aus und deckt sie zu.
»Was es nicht alles gibt«, murmelt sie und krallt sich beim Einschlafen fest an ihre Plastiktüte, in der mittlerweile auch die kleine Urne gelandet ist. »Was es nicht alles gibt. Wenn das mein Heinzi wüsste …«
Als wir die Tür hinter uns geschlossen haben, stehen Jan und ich uns im Flur etwas unbeholfen gegenüber.
»Gute Nacht«, sage ich kurz entschlossen. »Schlaf schön.« Und bevor er antworten kann, schlüpfe ich in mein Zimmer. Keine fünf Minuten später schmeiße ich mich in Unterwäsche aufs Bett. Ein Vermögen würde ich jetzt für eine Zahnbürste geben. Und für Zahnpasta. Und Seife. Und meine Gesichtscreme. Ein Deo wäre auch nicht schlecht.
In diesem Moment vermisse ich Alex ganz schrecklich. Vielleicht rufe ich ihn doch mal an. Auch wenn er vorhin so doof reagiert hat. Aber bestimmt stand er unter Schock und wusste gar nicht, was er sagt. Ist ja auch nicht schön, wenn die eigene Frau plötzlich zur Fahndung ausgeschrieben ist. Der Ärmste! Es wäre sicher nicht schlecht, ihn schon mal behutsam darauf vorzubereiten, dass sich der Beginn unserer Flitterwochen unter Umständen geringfügig verzögern wird. Vielleicht sollte Alex sicherheitshalber schon mal nach einem anderen Flug Ausschau halten? Ich würde jetzt so gerne seine Stimme hören, traue mich aber nicht, mein Handy einzuschalten, weil das Waldschlösschen dann bestimmt heute Nacht von einem Sondereinsatzkommando umstellt wird und ich von vermummten Gestalten aus dem Bett gezerrt und auf den Boden geworfen werde, und das fehlte gerade noch.
Während ich das grün-rote Blinken an der schäbigen Tapete beobachte – mein Zimmer liegt direkt über der Leuchtreklame – und noch denke, dass ich bei diesem Licht garantiert nicht schlafen kann, bin ich auch schon eingeschlummert.
»Gerda ist weg!«
Krachend knallt meine Zimmertür gegen die Wand, und Jan stürzt herein.
Eben noch hatte ich geträumt, wie ich Hand in Hand mit Alex einen schneeweißen Strand entlanglaufe und das türkisfarbene Meer unsere Füße umspielt, jetzt sitze ich kerzengerade im Bett. Hallo wach!
»Wer um Himmels willen ist Gerda?«
»Mensch, Oma Strelow! Die heißt mit Vornamen Gerda«, keucht Jan völlig außer Atem.
»Und was heißt weg?«
»In ihrem Zimmer ist sie nicht, und ich hab schon das ganze Haus nach ihr abgesucht. Die ist weg, einfach weg!« Jan macht einen ziemlich verzweifelten Eindruck, er scheint sich wirklich Sorgen zu machen. Tatsächlich wäre es nicht gut, wenn Oma weg ist, überlege ich. Keine Oma, kein Alibi.
»Gib mir fünf Minuten.« Ich springe aus dem Bett und vergesse in der Aufregung, dass ich weiter nichts anhabe. Hupsa, plötzlich stehe ich in Schlüpfer und Hemdchen vor Jan. Der läuft prompt rot an und betrachtet interessiert die Decke.
»Ich, äh, warte draußen, äh, auf dich«, stammelt er, wendet sich zum Gehen und stolpert auf dem kurzen Weg zur Tür über seine eigenen Füße. Unwillkürlich muss ich kichern. Wahrscheinlich ist er katholisch.
Zusammen laufen Jan und ich durch die sperrangelweit offen stehende Haustür nach draußen. Sieht tatsächlich aus, als hätte Oma das Weite gesucht.
»O Gott, wenn die sich im Wald verirrt«, ruft Jan und stürzt mit einem »Du links, ich rechts« davon.
Also gehe ich nach links und hüpfe dabei ein wenig auf und ab, es ist nämlich saukalt. Ich schaue auf meine Uhr – sechs Uhr dreißig. Ich finde das viel zu früh für eine konzertierte Suchaktion.
Glück muss der Mensch haben, denke ich, als ich nach etwa hundert Metern Oma Strelow entdecke. Sie sitzt vergnügt auf einem Baumstumpf und wippt mit den Beinen. »Frau Strelow, was machen Sie denn hier?«
»Pssst«, flüstert sie und zeigt nach vorne auf eine Lichtung. Dort äsen friedlich vier Rehe. »Ist das nicht schön?«, fragt sie mich. »Früher auf unserem Gutshof hatten wir jeden Morgen Besuch – Rehe, Hasen, Eichhörnchen, Fasane. Und jeden Morgen haben mein Heinzi und ich auf unserer Bank gesessen und so den Tag begrüßt. Was war das schön!«
Bevor sie noch weiter in andere Welten abtauchen kann, nehme ich sie sanft am Arm. »Nun kommen Sie mal mit. Es ist noch ganz schön frisch. Nicht dass Sie sich was wegholen!« Anstandslos lässt sie sich von dem Baumstumpf helfen und folgt mir.
Jan stößt einen Freudenschrei aus, als wir ihm entgegenkommen. »Gerda, was machst du denn für Sachen?«
»Wieso? Ich war doch nur ein wenig spazieren. So ein herrlicher Morgen! Da muss man an die frische Luft.«
»Du hättest dich verlaufen können.«
»Verlaufen? Ich?« Oma Strelow gibt ein entrüstetes Schnauben von sich. »Ein echter Pommer verläuft sich nicht. Der findet sich überall zurecht.«
Ich beschließe, dass wir uns jetzt alle erst mal einen anständigen Kaffee verdient haben. Im Haus ist es mucksmäuschenstill. Falls es außer uns noch andere Bewohner gibt, schlafen sie noch. Auch unsere Wirtin ist nirgendwo zu sehen. Entschlossen entern wir die Küche, finden nach einigem Suchen alles, was wir brauchen, und machen uns unseren Kaffee selbst.
Als wir nach dieser kleinen Kaffeepause mit unseren Siebensachen samt Urne aus dem Haus kommen, steht Kevins Pick-up schon auf dem Parkplatz.
»Da seid ihr ja endlich!«
»Und?« Jan schaut ihn fragend an. »Alles wieder heil?«
Kevin macht ein betrübtes Gesicht. »Es ist schlimmer, als ich dachte. Der ganze Kühler ist im Arsch, nicht nur der Schlauch. Da brauche ich eine spezielle Dichtungsmasse für, und die krieg ich nicht so schnell. Am besten wär sowieso ein ganz neuer Kühler.«
»Und wie lange brauchst du dafür?«, frage ich ungeduldig.
»Da ich die Sachen nicht einfach über den Großhandel bestellen kann, sondern zu einem Kumpel fahren und gucken muss, ob er die Sachen dahat … und dann so kurz vor Ostern … also, selbst wenn ich ganz schnell bin – einen Tag müsst ihr mindestens noch rechnen.«
Ich bekomme gleich einen Schreikrampf. Das kann doch wohl alles nicht wahr sein! Sitzen wir jetzt hier fest, mitten in der Pampa, oder was? Wahrscheinlich werde ich nie wieder nach Hause kommen, und heiraten werde ich schon gar nicht.
Kevin mustert mich besorgt, wahrscheinlich hyperventiliere ich bereits. »Alles gut bei dir?«
»Nichts ist gut«, brülle ich ihn an. »Wir müssen nach Polen. Heute noch! Jetzt! Sofort!«
»Genau«, sagt Oma Strelow und nickt. Jan sagt lieber nichts. Wahrscheinlich hat er Angst, mich noch weiter zu reizen.
»Lass mal überlegen …«, sagt Kevin und krault sein Kinn. »Mir kommt da gerade eine Idee …«
»Jaaa?«, fragen Jan und ich unisono.
»Also, der Cousin meines Schwagers hat einen Trabbi-Verleih. Läuft nicht mehr so gut, will ja keiner mehr haben, die alten Dinger. Den könnt ich mal fragen, ob er euch bis morgen einen Wagen gibt. Sollte eigentlich kein Problem sein. Und in der Zeit schau ich mal, dass ich eure Karre zumindest so hinkriege, dass ihr damit dann wieder nach Hause kommt.«
»O ja, ja, mach! Frag deinen Schwager oder Cousin oder was auch immer, bitte, bitte«, bettele ich.
Kevin zückt sein Handy, entfernt sich ein paar Schritte und telefoniert kurz. Als er zurückkommt, grinst er.
»Sag ich doch. Kein Problem. Eure Karre lasst ihr einfach bei mir in der Scheune stehen. Vielleicht krieg ich die wirklich flott, bis ihr wieder da seid.«
»Super«, sage ich höchst erfreut. »Ich müsste nur noch was aus dem Auto holen, bevor wir zu diesem Cousin fahren.« Mein Hochzeitskleid lasse ich nämlich lieber nicht hier in der Scheune.
»Na klar«, sagt Kevin. »Kein Problem.«
Da die Gastgeberin aus dem Waldschlösschen nicht aufzutreiben ist, greife ich in Omas Wundertüte und lege hundert Euro in die Küche. Soll mir keiner nachsagen, dass ich die Zeche prelle. Ich bin schließlich eine anständige Bankräuberin.
Dann bringt Kevin uns zu seinem Verwandten, der zwei Dörfer weiter wohnt und bereits voller Vorfreude auf uns wartet. Das Geschäft scheint wirklich schlecht zu laufen.
»Eine gute Wahl, sich für einen Trabant zu entscheiden«, schwadroniert er. »Der Trabant an sich wird ja oft unterschätzt. Dabei ist er ein ganz zuverlässiges Auto, ganz zuverlässig. Der fährt und fährt. Wie lange, sagten Sie, möchten Sie den Wagen leihen?«
»Einen Tag«, antworte ich.
»Besser zwei«, wirft Jan ein, und bevor ich Einspruch erheben kann, fragt unser Retter: »Der Herr fährt?«
»Die Dame fährt«, erklärt Jan.
»Ah, eine Frau am Steuer! Macht nichts, ich hab da weiter keine Vorurteile. Wenn Sie mir kurz Ihre Ausweispapiere und Ihren Führerschein zeigen könnten …«
Au Backe, meine Papiere! Die zeige ich ihm besser nicht. Vielleicht läuft im Fernsehen schon ein Fahndungsaufruf, oder es steht irgendwas über mich in der Zeitung. Wenn der mich erkennt, ruft er bestimmt sofort die Polizei.
»Äh, da gibt es ein kleines Problem. Ich habe meine Papiere zu Hause vergessen. In der ganzen Eile …«, schwindele ich.
»So ist es. Wir mussten ganz spontan und plötzlich aufbrechen. Dringende Familienangelegenheit«, bekräftigt Jan, und Oma Strelow nickt eifrig. Der Autoverleiher guckt ein bisschen komisch, dann nimmt er Kevin beiseite und flüstert mit ihm.
»Na ja«, sagt er dann gedehnt, »damit bringen Sie mich aber in Teufels Küche. Ich kann nicht so einfach, Sie verstehen …«
»Wenn wir Ihnen vielleicht finanziell ein wenig entgegenkommen?«, fragt Jan. Oma nickt und nickt.
»Na ja«, der Mann streicht sich über den Bauch, »Sie sehen nun wirklich nicht aus wie Verbrecher. Und Kevin sagt auch, dass man Ihnen vertrauen kann. Ich denke mal, da kommen wir irgendwie zusammen …«
Na also, her mit der Wundertüte!
Nachdem Jan unserem Retter finanziell erheblich entgegengekommen ist, verabschieden wir uns von Kevin und bedanken uns überschwenglich für seine Hilfe. Dann folgen wir dem Autoverleiher zu unserem neuen Fluchtwagen. Voller Stolz präsentiert er uns sein Prachtstück – einen knall-lila-metallic-farbenen Trabbi. Wir quetschen uns in die Blechbüchse und rattern los. Mit rasanten siebzig Stundenkilometern ruckeln und zuckeln wir Richtung Polen. Und überall, wo Menschen auf der Straße sind, bleiben sie stehen und schauen unserem leuchtenden Knattergefährt hinterher. Unauffällig geht irgendwie anders.