24. Kapitel

It’s my party and I’ll cry if I want to! Lesley Gore. Ein echt doofes Lied und ihr einziger Hit, aber mir geht es gerade nicht mehr aus dem Kopf. Genauso fühle ich mich nämlich. Zum Heulen.

Ich feiere meine Einweihungsparty, und alle, die ich eingeladen habe, sind auch gekommen. Trotzdem fühle ich mich schlecht. Unglücklich. Von mir aus auch einsam. Wobei das unter schätzungsweise sechzig Gästen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gar nicht so einfach ist. Es ist nämlich ziemlich eng. Und ziemlich laut. Und außer mir sind alle ziemlich gut gelaunt. Mist. Wieso feiere ich ein Fest, wenn ich doch am liebsten allein wäre?

Mit einem Bier in der Hand verziehe ich mich auf den Balkon. Hier habe ich wenigstens meine Ruhe, auch wenn ich mich damit als grauenhafte Gastgeberin oute. Ich nehme einen kräftigen Schluck und starre in die einsetzende Dämmerung. Erstaunlich, wie lange es im Mai hell bleibt.

»Alles in Ordnung bei dir?«

Vor Schreck fahre ich zusammen – ich dachte, ich sei allein. Tatsächlich aber sitzt mein Kollege Albert auf einem Stuhl neben der Balkontür und raucht eine Zigarette.

»Klar. Alles in Ordnung. Ist doch meine Party.«

»Na, dann ist ja gut. Du sahst nur eben so traurig aus. Und jetzt stehst du hier allein – da dachte ich, ich frag mal nach.«

»Nee, alles gut bei mir. Mir war nur so warm da drinnen.«

»Tja, ist ja auch ganz schön voll. Nett von dir, dass du alle Kollegen eingeladen hast. Selbst den Alten – sehr lustig! Ich glaube, der hat schon einen Kleinen genommen. Ist auf einmal total locker, wo er doch sonst immer ’nen Stock im Arsch hat.«

»Pfui, Albert!« Ich muss kichern.

»So gefällst du mir schon besser.« Albert drückt seine Zigarette aus und nimmt die Bierflasche vom Boden. Wir prosten uns zu.

»Darf ich dich mal was fragen?«

»Klar.«

»Ist der Typ, den du heiraten wolltest, eigentlich auch da?«

Ich muss schlucken. »Nein. Ist er nicht.«

»Das war ja schon eine … äh … wilde Geschichte. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Also, nicht böse sein – ich meine das positiv. Irgendwie ganz schön coole Aktion.«

Super. Wenn es auch für sonst nix gut war: Immerhin hält mich Albert jetzt für eine coole Socke. Das tröstet mich ein bisschen. Schließlich haben die letzten Wochen sonst wenig Erfreuliches gebracht – wenn man von der neuen Wohnung mal absieht.

Immerhin: Mein endgültiger Auszug bei Alexander ist friedlich verlaufen. Es gab auch nicht vieles, um das man sich hätte streiten können – fast alles in der Wohnung gehört ihm, einschließlich der Wohnung selbst. Er hat mir geholfen, meine Kartons in den VW-Bus zu laden, den ich mir von Sveas Eltern geliehen hatte, dann ein kurzer Kuss auf die Wange, und damit war das Kapitel »Alexander Weltenstein« beendet. Das war der Abschied von dem Mann, den ich noch vor drei Monaten unbedingt heiraten wollte.

Von dem Mann, mit dem der ganze Schlamassel zusammenhängt, habe ich nichts mehr gehört. Als mir Oma Jans Adresse gegeben hatte, habe ich ihm gleich geschrieben. Auf diesen Brief hat er sich aber leider nicht gemeldet. Heißt wohl, dass er die Geschichte so sieht, wie man sie vielleicht auch sehen muss: als Ferienflirt. Wobei es natürlich eigentlich gar keine Ferien waren – aber so was in der Art.

Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, wie es wäre, einfach ins Auto zu steigen und nach Kolberg zu fahren. Aber wenn ich dort ohne Jan aufkreuze, werden sich natürlich alle wundern. Jan wird sicher ein paar Monate verstreichen lassen, bis er mit der Nachricht von unserer überraschenden Trennung um die Ecke kommt. Jetzt, wo seine Mutter auch in Kolberg wohnt, dürfte sein fröhliches Singleleben in Stettin ja nicht weiter auffallen.

Der Gedanke, dass Jan ebendieses Leben führt, versetzt mir einen Stich. Mist. Wenn Albert mich nicht auf Alexander angesprochen hätte, hätte ich vielleicht nicht angefangen, wieder an Jan zu denken. Nun fühle ich mich noch einsamer. Falls das überhaupt möglich ist. Sozusagen einsamererer.

Albert räuspert sich. »Du, ich geh dann mal wieder rein.«

Klar, gibt wahrscheinlich Besseres, als hier von der Gastgeberin angeschwiegen zu werden. Sehr unhöflich von mir, aber zu Smalltalk kann ich mich momentan einfach nicht aufraffen. Wie bin ich bloß auf die Idee gekommen, in dieser Verfassung eine Party zu feiern?

Kaum ist Albert wieder nach drinnen gegangen, gesellt sich Svea zu mir.

»Komm, Süße, ich hab dir noch was zu trinken mitgebracht. Du siehst leider aus, als würdest du es brauchen.«

Tatsächlich habe ich meine Flasche schon ausgetrunken. Wer Sorgen hat, hat auch Likör. Oder eben Jever. Ich nehme Svea die neue Flasche ab.

»Tut mir leid. Warum muss ich gerade heute so schlecht drauf sein? Ist mir total peinlich vor meinen Gästen.«

»Ach, keine Sorge. Die meisten merken das doch gar nicht. Jetzt trinkst du einfach noch drei bis fünfzehn Bier, dann geht es dir bestimmt besser.«

»Alkohol ist keine Lösung.«

»Wasser aber auch nicht.«

Wir prosten uns zu und setzen uns auf die beiden Stühle.

»Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Da kommt wohl auch nichts mehr. Ist ja schon sechs Wochen her, dass ich ihm geschrieben habe.«

»Hm. Was genau hast du denn geschrieben?«

»Na, dass die Woche in Polen mit ihm sehr schön war.«

»Und dass du ihn vermisst, oder?«

»Na ja, das bedeutet es doch.«

Svea verzieht den Mund. »Hallo? Der Typ ist ein Mann! Mit der Metaebene kommst du da nicht weit. Soll das heißen, du hast ihm gar nicht geschrieben, dass du ihn wiedersehen willst?«

»Na ja, nicht so direkt.«

»Himmel – warum denn nicht?«

»Wenn er mich auch so vermisst wie ich ihn, dann kann er da doch von allein draufkommen.«

»Ja, oder er denkt, du wolltest ihm einen netten Abschiedsbrief schreiben. Und dass du dich von Alex getrennt hast – weiß er das denn jetzt?«

»Das fand ich nun zu platt. Das kann ich doch nicht einfach so schreiben. Dann denkt der doch, ich will was von ihm.«

»Ah, Tine!!!« Mit einem Schrei springt Svea auf. »Du willst ja auch was von ihm! Das darfst du ruhig zugeben, auch wenn du eine Frau bist, du dumme Nuss!«

»Aber ich …«

»Kein Aber! Wahrscheinlich sitzt Jan ganz traurig in Polen. Und dann schreibst du ihm – aber nur, dass die Woche schön war. Nicht mehr. Also denkt er natürlich nach wie vor, dass du mit Alexander zusammen bist. Wie soll der arme Mann denn da wissen, was du von ihm willst?«

Schulterzucken meinerseits.

»Du schreibst ihm jetzt sofort noch mal! Warte, ich hole Papier von drinnen. Und dann bringe ich den Brief zum nächsten Briefkasten.«

Sie stürmt vom Balkon und kehrt nach ungefähr dreißig Sekunden mit einem Zettel und einem Stift wieder.

»So, bitte sehr. Und jetzt schreibst du Folgendes: Lieber Jan, ich vermisse Dich wahnsinnig. Von Alexander habe ich mich getrennt. Bitte melde Dich bei mir. Alles Liebe, Deine Tine.«

»Das kann ich nicht, das ist so direkt!«, beschwere ich mich.

»Ich wiederhole mich: Du schreibst an einen Mann. Bitte keine Botschaften, die man nur zwischen den Zeilen findet. Los. Schreib!«

Ich seufze, dann fange ich tatsächlich an zu schreiben. Als ich fertig bin, reißt mir Svea den Brief regelrecht aus den Händen.

»Hast du einen Umschlag und Briefmarken?«

»Keine Ahnung, irgendwo bestimmt. Das kann ich aber auch noch morgen erledigen.«

»Nee, das machen wir jetzt. Sonst wird das doch wieder nichts. Also, hol mal den Umschlag.«

Wenn Svea so ist, ist sie durch nichts zu bremsen. Ich gehe also rein und mache mich auf die Suche. Auf meinem Schreibtisch werde ich schneller fündig als erwartet. Hätte ich nicht schon drei Bier getrunken, würde ich mich auf diese Geschichte niemals einlassen. Aber so stecke ich brav den Brief in den Umschlag und adressiere ihn. Die Adresse von Jan kann ich auswendig, so oft habe ich sie mir angeschaut, bevor ich den letzten Brief abgeschickt habe.

»Sehr schön.« Svea lächelt zufrieden. »Den nehme ich mit und stecke ihn auf dem Rückweg gleich in den Briefkasten. Und dann werden wir ja sehen, ob der Herr wirklich nicht interessiert ist.«

Ich nicke ergeben. Zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage. Direktor Schubert steuert auf mich zu, offensichtlich schon im Gehen begriffen.

»Liebe Frau Samstag, danke noch einmal für die nette Einladung! Ich muss leider morgen früh raus, mein Sohn hat ein Fußballspiel in Norderstedt. Also, Ihnen noch einen schönen Abend.« Er schüttelt mir die Hand. »Ach, das hätte ich jetzt fast vergessen – das war heute noch in der Schulpost für Sie. Sie waren schon weg, aber es sah so ungewöhnlich aus, dass ich es Ihnen mitgebracht habe.«

Er greift in seine Manteltasche, zieht einen kleinen braunen Umschlag heraus und gibt ihn mir. Ich drehe ihn hin und her – es scheint etwas Kleines, Hartes darin zu stecken. Dann fällt mein Blick auf den Absender. Jan Majewski. Meine Hand zuckt, als ob ich einen Stromschlag erhalten hätte, und der Brief fällt zu Boden. Schubert, ganz Gentleman, bückt sich und hebt ihn für mich auf.

»Bitte sehr! So, ich werde dann mal. Ihnen noch viel Spaß!« Er winkt in die Runde und geht. Svea steht sofort neben mir.

»Von wem ist der?« Scheinheilige Else – sie hat den Absender doch längst gesehen, solche Stielaugen hat sie gemacht. »Los, mach auf!«

Ich schüttle den Kopf. »Jetzt nicht. Ich will mir das in Ruhe ansehen.«

Svea stöhnt. »Du willst doch nicht etwa warten, bis die Gäste gegangen sind! Das kannst du mir jetzt nicht antun. Ich meine, ich laber hier rum, von wegen Männer verstehen keine Metaebene und so – dabei hat der Typ längst geschrieben! Ich MUSS wissen, was in dem Brief steht!«

Ich lächle. »Keine Sorge, das erfährst du schon rechtzeitig. Aber ich will allein sein, wenn ich das lese. Falls es wirklich ein Brief ist. Da ist etwas Hartes in dem Umschlag.«

 

Ich halte die nächsten zwei Stunden tatsächlich durch. Als letzten Gast schiebe ich Svea durch die Tür, die nicht den Eindruck macht, als würde sie irgendwann freiwillig gehen.

»Aber du musst mich gleich anrufen, wenn es Neuigkeiten gibt! Sonst schicke ich deinen Brief ab!«

Oha. Eine finstere Drohung.

»Ja. Mach ich.«

Als sie weg ist, setze ich mich zwischen lauter leeren Bier- und Weinflaschen vor mein Sofa auf den Fußboden und öffne den Umschlag. Heraus fallen ein Blatt Papier und ein kleines Vorhängeschloss. Ich nehme den Zettel und beginne, den kurzen Text zu lesen.

 

Liebe Tine!

 

Vielen Dank für Deinen Brief! Ich habe mich total gefreut, denn ich fand die Woche mit Dir auch wunderschön! Ich würde Dich unglaublich gern wiedersehen. Deswegen wäre es ganz praktisch gewesen, wenn Du schon Deine neue Adresse aufgeschrieben hättest. Mein erster Brief, den ich noch an Oma geschickt habe, kam zurück. Ich hoffe, dieser kommt an. Oma war sich nicht ganz sicher, an welcher Schule du arbeitest. Als Nächstes muss ich wohl an den Schulminister schreiben …

Ich habe übrigens eine Idee, was Du in Deinen nächsten Ferien machen könntest: Im Kulturhaus in Misdroy gibt es im Sommer einen Polnischkurs für Anfänger. Der ist vielleicht gar nicht schlecht, falls Deine Wahrsagerin doch recht hatte … Denn dann hättest du an Ostern ja Deinen Traummann geheiratet. Der ist zufälligerweise polnischer Muttersprachler. Ein ganz netter Kerl übrigens.

Und in Deiner Pause gehen wir zur Seebrücke. Ich habe dafür schon etwas besorgt.

Alles Liebe

Jan

Ich nehme das kleine Schloss in die Hand. Als ich es genauer betrachte, sehe ich, dass etwas eingraviert ist.

 

Tine & Jan

Flitterwochen
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