22. Kapitel
Taschentuch?«
Oma Gerda drückt mich auf die Küchenbank und reicht mir ein Tempo. Das Taschentuch nehme ich gern, den Schnaps lasse ich aber doch lieber stehen. Dafür ist es definitiv noch zu früh. Außerdem ist mein Magen zu leer, der sich jetzt mit einem unüberhörbaren Knurren zu Wort meldet.
»Ich glaube, ich schmier dir erst mal ein Brötchen. Bevor du mir hier noch von der Bank kippst …«
Ich nicke ergeben, mümmele dann aber nur halbherzig an meinem Frühstück herum. Jans Abschied hat mir ganz offensichtlich den Appetit verdorben.
»Kindchen, was ist denn los mit dir?«
»Ach Oma«, sage ich matt, »ich habe gerade das Gefühl, dass mein ganzes Leben den Bach runtergeht!«
Gerda greift nach meiner Hand und guckt mich auffordernd an. »Wieso das denn? Du bist wieder zu Hause, die Sache mit der Geiselnahme ist vom Tisch, und mit deinem Alexander renkt sich schon alles wieder ein. So klang das jedenfalls … Es müsste also alles in allerbester Ordnung sein. Oder?«
»Na ja, nicht ganz …« Und dann erzähle ich Oma alles. Dass sich mit Alexander mitnichten alles wieder einrenkt, sondern dass mein Verlobter und ich uns gerade nicht so gut verstehen. Besser gesagt: Wir verstehen uns gar nicht. Überhaupt gar nicht. Zwischen uns ist die Luft raus. Der Funke erloschen. Rien ne va plus, wie der Franzose sagt. Denn: Wir passen nicht zusammen. Und wir haben nie zusammengepasst. Das mit Alexander und mir war ein großer Irrtum. »Der Fehler meines Lebens«, sage ich abschließend und muss schon wieder heulen.
Oma wiegt bedächtig den Kopf hin und her. »Ach Kindchen, auch wenn du das jetzt vielleicht nicht hören willst: Dann hatte unsere Reise nach Kolberg auch für dich einen Sinn. Ich weiß ja nicht, ob du an den lieben Gott glaubst oder an höhere Mächte. Aber ich glaube, da hatte jemand seine Finger im Spiel. Es war kein Zufall, dass wir uns begegnet sind, es war Schicksal.«
»Wie meinst du das?«
»Stell dir vor, du hättest in der Bank nicht hinter mir in der Schlange gestanden, dann wärst du jetzt mit Alexander verheiratet …«
»Genau! Und glücklich!«
»Kindchen, Kindchen, das stimmt doch nicht. Und wenn du mal ehrlich bist, weißt du das auch. Vielleicht wäre es ein paar Jahre gutgegangen mit euch beiden. Aber glücklich wärst du nicht geworden. Du und Alexander, das klingt eher nach Feuer und Wasser. Jetzt guck mich nicht so an, das hast du doch eben selbst gesagt. Und deshalb hat das Schicksal dich nach Kolberg geführt. Um das zu erkennen.«
Ich schnaube geräuschvoll in mein Taschentuch, damit ich nichts sagen muss. Aber wirklich unrecht hat Oma Gerda nicht. Ohne ihr komisches Schicksal wäre ich jetzt zwar Frau Weltenstein … aber in ein paar Jahren wäre ich wahrscheinlich die geschiedene Frau Weltenstein. Wie hätte das auch gut gehen sollen mit Alexander und mir? Der erfolgreiche Banker mit seinem Jetset-Leben und die kleine Lehrerin, die mit ihren bescheidenen Hobbys von seinen reichen Freunden und der snobistischen Familie belächelt wird. Ich trompete noch einmal herzhaft in das mittlerweile recht zerfledderte Tempo und nicke genauso bedächtig wie Gerda. Aber Oma ist noch längst nicht fertig mit mir.
»Was ist denn nun eigentlich mit Jan, Kindchen?«
»Wieso? Was soll mit Jan sein?«
»Wann seht ihr euch denn wieder?«
»Wir sehen uns nicht wieder. Dafür gibt es ja auch gar keinen Grund.«
»Sooo?« Oma zieht die Augenbrauen bis zum Anschlag hoch und guckt jetzt ziemlich streng. Ich versuche mich mit einem erneuten Trompetenstoß zu retten, aber so leicht macht sie es mir nicht: »Tine, ich habe zwar manchmal meine Aussetzer, bin aber sonst noch ziemlich klar im Kopf. Vor allem funktionieren meine Augen noch ganz ausgezeichnet. Und die haben da etwas anderes beobachtet!«
»Was denn?«
»Jetzt tu mal nicht so. Das muss dir doch nicht peinlich sein! Du hast dich in Jan verliebt, so einfach ist das.«
»Ach, Oma«, seufze ich. »Selbst wenn du recht hast, dann mag das ja vieles sein, aber einfach ist es nun wirklich nicht! Wie soll das denn funktionieren mit Jan und mir? Ich lebe in Lübeck, er in Stettin. Und ich spreche kein Wort Polnisch.«
»Na und? Sprachen kann man doch lernen. Du tust gerade so, als käme Jan aus den unwirtlichen Gegenden des Himalaya.«
»Trotzdem, nur weil wir uns mal eine Woche ganz gut verstanden haben, heißt das doch noch lange nicht, dass wir auch im stinknormalen Alltag miteinander klarkommen. Im Grunde genommen kenne ich Jan doch überhaupt nicht. Vielleicht haben wir uns auch nur so gut verstanden, weil wir in einer Extremsituation waren. So ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom, weißt du? Wo sich die Geisel in den Entführer verliebt?« Wobei mir nicht ganz klar ist, wer hier die Geisel ist und wer der Entführer.
»Meine Güte!« Oma Gerda haut so resolut auf den Tisch, dass mein angeknabbertes Brötchen einen erschreckten Hopser macht. »So einen ausgemachten Unsinn habe ich lange nicht mehr gehört! Stockholm-Syndrom! Du hast dich in Jan verliebt. Und er sich in dich. Punkt. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Und wenn da nicht wahre Gefühle zwischen euch gewesen wären, dann hätte Jans Familie euch die Geschichte mit der Hochzeit doch gar nicht abgenommen. Das sah nicht nur echt aus, das fühlte sich auch echt an. Ich bin mir ganz sicher.«
»Wirklich? Jan ist verliebt in mich?« Jetzt macht mein Herz einen kleinen Hopser.
»Natürlich, Kindchen. Das war ja nun wirklich nicht zu übersehen. Regelrecht angehimmelt hat er dich. Und du ihn!«
»Oh …« Dass das so offensichtlich war, ist mir nun doch ein wenig unangenehm.
»Tine, hör auf dein Herz. Schau mal, es ist doch ganz einfach: Jedes Töpfchen hat sein Deckelchen. Und dein Deckelchen scheint Jan zu sein.«
»Wie war das eigentlich damals bei dir und Heinzi? Wann wusstest du denn, dass er der Richtige für dich ist?«
»Das wusste ich sofort! In dem Moment, als er den Hof meiner Eltern betreten hat, war mir klar: Das ist mein Mann, mit dem werde ich durchs Leben gehen!«
»Ehrlich? Aber wie konntest du dir da so sicher sein?«
»Ganz einfach, Kindchen: Ich habe auf mein Herz gehört. Und wie sich dann herausgestellt hat, habe ich mich ja auch nicht geirrt.«
»Und Heinzi? Hat der sich auch Hals über Kopf in dich verliebt?«
»Tja, da musste ich ein wenig nachhelfen.« Oma schmunzelt. »Heinzi war sehr schüchtern. Ich wusste schon, dass er mich mag. Das habe ich an seinen Blicken gesehen. Aber er hat sich nicht so recht getraut. Deshalb habe ich ihn unter einem Vorwand nachts zum Kirschbaum gelockt und dort verführt.«
»Oma!«
»Ach, weißt du, Tine, manchmal muss man als Frau auch einfach die Initiative ergreifen …« Oma kichert und wird ein wenig rot.
»Wart ihr denn immer glücklich? Habt ihr euch nie gestritten?«
»Ach, natürlich haben wir uns auch gestritten! Immer glücklich sein, das geht ja gar nicht. Und darauf kommt es ja auch nicht an.«
»Worauf denn dann?«
»Dass man den anderen achtet und respektiert. Dass man ihn so sein lässt, wie er ist – mit seinen ganzen Macken und Fehlern. Und dass man ihm vertraut, zur Seite steht und bei Problemen nicht sofort ausbüxt. Aber das funktioniert eben nur, wenn das Deckelchen auch wirklich aufs Töpfchen passt.«
»Wie lange wart ihr eigentlich verheiratet?«
»Vierundsechzig Jahre.«
»Wow, das ist echt lange!«
»Ja, und ich möchte keinen einzigen Tag davon missen. Auch wenn wir wirklich schwere Zeiten miteinander durchlebt haben – der Krieg, die Flucht, der Neuanfang. Aber im Nachhinein ist es ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man alles gemeinsam gemeistert hat. Dass man all dies mit einem anderen Menschen geteilt hat. Auch wenn einer von uns dann seinen letzten Weg erst einmal alleine antreten musste …«
Verstohlen wische ich mir eine Träne aus den Augenwinkeln. Das hätte ich auch gern! Jemanden, der an meiner Seite steht und mit mir durchs Leben geht, egal, was kommt. Ob ich so etwas auch noch erleben darf – so eine große, wahre Liebe?
Als könnte sie Gedanken lesen, sagt Oma noch einmal: »Kindchen, hör einfach auf dein Herz.«
»Kann ich ja mal versuchen. Zumindest werde ich darüber nachdenken«, antworte ich und stehe auf. »Aber vorher muss ich noch etwas erledigen …«
»Was genau liebst du an mir?«
Alexander schaut mich erstaunt an. Die Frage überrascht ihn offenbar. »Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage: Was ist es, das du an mir liebst? Oder von mir aus auch: in das du dich zuerst verliebt hast?«
»Wie kommst du auf diese Frage?«
»Ganz einfach: Du hast gesagt, deine Familie denkt, ich liebe vor allem dein Geld, und da wollte ich …«
»Nein«, unterbricht Alexander mich, »das habe ich so nicht gesagt. Und falls es so rübergekommen ist, tut es mir leid, weil das natürlich Unsinn ist. Bitte lege nicht jedes Wort, das ich in den letzten Tagen gesagt habe, auf die Goldwaage. Für mich war das alles auch nicht leicht.«
Ich nicke. »Das glaube ich dir. Trotzdem habe ich mich gefragt, was genau es eigentlich ist, was wir aneinander lieben. Was verbindet uns als Paar? Und reicht das eigentlich aus, um die nächsten vierzig, fünfzig Jahre miteinander zu verbringen?«
Alexander starrt mich erstaunt an. »Vierzig, fünfzig Jahre? Mein Gott, Tine, in was für Dimensionen denkst du denn? Wäre es nicht ausreichend, wenn man erst einmal versucht, die nächsten fünf Jahre gut über die Bühne zu bringen?«
Ich merke schon: Alexander und ich denken tatsächlich in unterschiedlichen Dimensionen. Think big trifft Geht’s auch ’ne Nummer kleiner? Auweia, da kommen wir schon mal nicht zusammen. Aber wir müssen hier jetzt ein paar grundsätzliche Fragen klären. Deshalb bin ich von Oma aus auch schnurstracks nach Hause gefahren, um mit Alexander zu sprechen. Und gerade finde ich, dass er mir irgendwie ausweicht. So nicht, mein Lieber!
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Welche Frage noch mal?«
»Was genau du eigentlich an mir liebst! Oder ist das für dich so schwer zu beantworten?«
»Natürlich nicht!« Alexander schnaubt empört und holt tief Luft, so als würde er zu einem längeren Vortrag ansetzen. »Also, du siehst gut aus …«, beginnt er und sieht mich erwartungsvoll an.
Na toll. Ich sehe gut aus. Was sucht der eigentlich – ein Model oder eine Ehefrau? Und war’s das etwa schon?
»Alex, äh, danke für das Kompliment. Aber ich meinte jetzt auch irgendwie innere Werte. Was verbindet dich mit mir?«
»Du bist Akademikerin. Okay, nur Grundschullehrerin, aber immerhin. Uni ist Uni.«
»Bitte?«
»Also, ich finde, das Bildungsniveau muss schon irgendwie stimmen. Sonst kann man sich ja nicht unterhalten, und das würde auf Dauer langweilig werden. Außerdem kann ein Mann in meiner Position sich gar keine dumme Frau leisten.«
»Aha.«
»Genau!« Triumphierend hebt Alexander jetzt seinen Zeigefinger. »Und du kommst aus einem guten Elternhaus und weißt dich zu benehmen. Das finde ich auch sehr, sehr wichtig. Stell dir mal vor, wir sind zu einem Geschäftsessen eingeladen, und du kannst die Hummerzange nicht vom Buttermesser unterscheiden …«
Stimmt, das wäre ein echtes Drama! Ich schüttele den Kopf. »Alex, ich habe das Gefühl, du verstehst überhaupt nicht, was ich meine.«
»Was willst du eigentlich von mir, Tine? Du verschwindest einen Tag vor unserer Hochzeit, lässt mich hier hängen und außerdem auch noch in dem Glauben, du hättest eine Bank überfallen. Dann tauchst du urplötzlich wieder auf, nur um sofort erneut zu verschwinden und die Nacht bei irgendeiner Freundin zu verbringen. Und jetzt stehst du hier und brichst eine absurde Grundsatzdiskussion vom Zaun! Entschuldige bitte, wenn ich dir da nicht ganz folgen kann!«
»Ich will doch nur wissen, warum du mich eigentlich liebst. Also, warum gerade mich? Und ob ich dein Deckelchen bin und du mein Töpfchen?«, sage ich leise und wohl sehr kläglich. Denn nun kommt Alexander auf mich zu und nimmt mich in den Arm.
»Deckelchen, Töpfchen, was für ein Unfug! Schatz, ich liebe dich. Warum, ist doch völlig egal. Das muss doch auch so reichen – ohne großartige Begründung. Gefühle kann man halt nicht immer erklären.«
Vorsichtig löse ich mich wieder aus seinen Armen. »Alexander, es tut mir wirklich leid. Aber ich glaube, das reicht mir nicht.«
»Wie meinst du das jetzt?«
Auf einmal sieht der Arme ganz verwirrt aus. Kein Wunder! Alexander ist wohl davon ausgegangen, dass er mir einmal ordentlich die Leviten liest und wir dann wieder zum Tagesgeschäft übergehen, als wäre nichts gewesen. Stattdessen steckt er hier im allerschönsten Problemgespräch.
»Alex, wir wollten heiraten! Unser Leben miteinander verbringen! Und ich weiß noch nicht einmal, ob du mal eine Familie gründen willst, ob du Kinder magst?«
»Solange es nicht die eigenen sind«, versucht er einen müden Scherz.
»Haha, sehr witzig. Mal im Ernst: Du spielst Golf, ich gehe im Park joggen. Du segelst, ich werde auf einem Boot sofort seekrank. Du agierst als Global Player auf internationalem Parkett, ich schlage mich damit herum, dass die kleine Luisa schon wieder ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.«
»Ach, Tine, du kennst doch den Spruch: Gegensätze ziehen sich an. Ich finde es gut, dass du auch noch deine eigenen Interessen hast.«
»Alex, es geht hier doch nicht nur um unterschiedliche Hobbys. Kennst du den Spruch: Gleich und Gleich gesellt sich gern?«
»Was willst du damit sagen?« Alexander sieht nun etwas blässlich um die Nase aus. Und natürlich tut er mir sofort leid. Aber es nützt nichts, da muss er jetzt durch. Und ich auch.
»Alex, sei mir nicht böse. Wir passen einfach nicht zueinander. Die Zeit mit dir war wirklich schön. Und ich war auch wirklich verliebt in dich. Aber nur Verliebtsein reicht nicht, um eine Ehe zu führen. Ich glaube einfach, dass das mit uns auf Dauer nicht gutgeht. Dass wir viel zu unterschiedlich sind. Das ist mir in den letzten Tagen irgendwie klargeworden.«
Dass ich mich außerdem in einen anderen Mann verguckt habe, verschweige ich lieber. Ich finde, das tut hier auch nichts zur Sache. Auch ohne Jan passen Alex und ich nicht zusammen. Jan ist sozusagen nur das Symptom und nicht die Ursache.
»Bitte?«, krächzt Alexander. »Heißt das etwa, du verlässt mich?«
Ich nehme all meinen Mut zusammen. »Ja, genau das heißt es. Tut mir leid, es geht einfach nicht mehr.«
»Aber unsere Hochzeit! Wie soll ich das meinen Eltern erklären? Was sollen denn die Leute denken? Meine Geschäftspartner, unsere Freunde?«
Unsere Freunde? Er meint wohl eher seine Freunde. Aber das reibe ich ihm jetzt nicht auch noch unter die Nase.
»Alex, es ist meine Schuld. Du kannst nichts dafür«, sage ich, obwohl ich das eigentlich anders sehe. Aber ich hoffe, dass das in dieser Situation hilft und er sich vielleicht etwas weniger schlecht fühlt.
Kurz steht er mit hängenden Schultern vor mir, dann strafft er sich. »Du hast wahrscheinlich recht. Es passt wirklich nicht. Im Grunde sollte ich dir dankbar sein. So bleibt mir zumindest eine teure Scheidung erspart!«
Zum Abschied drücke ich ihn noch einmal. »Mach es gut. Ich wünsche dir wirklich nur das Beste. Und vor allem, dass du irgendwann dein passendes Deckelchen findest …«
Und dann gehe ich einfach.