12. Kapitel
Entgeistert starre ich auf das Buch, das mir Onkelchen Bogumił gerade in die Hand gedrückt hat. Es trägt den verheißungsvollen Titel Seks. Karolina klopft mir aufmunternd auf den Rücken. »Das ist mittlerweile fast ein Standardwerk«, erklärt sie. »Da drin steht alles, was du wissen musst. Ich übersetze es dir natürlich gern.«
Wir sitzen in der Sakristei von Bogumiłs Kirche, und ich habe gerade meine erste Stunde im sogenannten Brautunterricht. Den absolvieren nämlich fast alle polnischen Paare, bevor sie heiraten, hat Karolina mir versichert. Neben anderen spannenden Themen darf man dort auch mit einem Priester über Sex in der Ehe sprechen. Und da Karolina großzügig angeboten hat, als meine Trauzeugin zu fungieren, ist sie natürlich mit von der Partie.
Ich glaube, es hakt. Ich spreche mit Onkelchen gern über Gott und die Welt, aber sicher nicht über mein Sexualleben. Das geht den gar nichts an. Ich glaube, Bogumił denkt ähnlich. Denn jetzt hüstelt er und sagt etwas zu Karolina, die als Dolmetscherin fungiert.
»Also, Onkelchen meint auch, dass du dir das Buch nachher mal in Ruhe anschauen sollst. Und wenn du Fragen hast, kannst du die ja mit mir besprechen.«
Ich bin mir schon jetzt sehr sicher, dass ich keine einzige Frage haben werde. »Genau so wird’s gemacht!«, sage ich erleichtert. »Und was kommt als Nächstes?«
Bogumił sieht auf seinen Zettel und kratzt sich am Kopf. Dieser Brautunterricht geht normalerweise angeblich über mehrere Wochen, aber die Zeit haben wir leider nicht. Denn am Freitag – Tataaa und Tusch! – werden Jan und ich schon heiraten. Kirchlich. Und Onkelchen höchstpersönlich wird uns trauen. Das ist wahrscheinlich total illegal – und deswegen sicher auch total unwirksam –, denn Onkelchen muss nonchalant über die Tatsache hinwegsehen, dass wir weder Unterlagen von einem deutschen Standesamt haben noch vorweisen können, bei einem polnischen registriert zu sein.
So weit der Plan. Und deshalb müssen wir uns jetzt auch ein wenig sputen, damit wir mich, religiös gesehen, noch in die richtige Spur bringen. Sonst bekommt Jans Mutter in Anbetracht seines offenbar liederlichen Lebenswandels noch einen Herzinfarkt und/oder enterbt ihn. Auch wenn es meine vorübergehende katholische Missionierung bedeutet – wir müssen das jetzt durchziehen.
Nach Oma Gerdas salbungsvoller Ansprache vor versammelter Mannschaft war Jan kurz davor, ihr den Hals umzudrehen. Ich übrigens auch. Aber zum Glück hatte ich noch sein »Tote Oma – kein Alibi« im Ohr und konnte Schlimmeres verhindern. Jedenfalls war Jan stinksauer, zerrte Oma in die Küche und stellte sie zur Rede.
»Ach, Fritz«, hauchte sie nur, »ich bin so froh, dass wir endlich alle wieder zusammen sind.« Und dann brabbelte sie noch ein bisschen weiter wirres Zeug. Jedenfalls sahen wir schnell ein, dass es in diesem Moment überhaupt keinen Sinn hatte, ihr noch mehr zuzusetzen. Ganz im Gegenteil.
»Wir lassen sie vielleicht lieber erst mal in Ruhe«, meinte Jan, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. »Nicht dass sie uns komplett abtaucht und aus ihrem Wahn gar nicht mehr herausfindet.« Da konnte ich ihm nur zustimmen. Denn eine komplett entrückte Oma war genauso viel wert wie eine tote Oma.
Deshalb sitze ich nun also hier mit Bogumił und Karolina, und die beiden fragen mir Löcher in den Bauch. Ob ich denn überhaupt getauft sei? Ja, klar, bin ich – sogar konfirmiert! Schließlich stamme ich aus einem anständigen protestantischen Haushalt. Das scheint Onkelchen etwas zu beruhigen. Dann will er wissen, wie mein zweiter Name lautet.
»Mein was?«
»Dein zweiter Name«, wiederholt Karolina. »Du musst doch einen zweiten Namen haben.«
»Nö. Also, ich heiße Christine, kurz Tine. Das war’s.«
»Du hast bei deiner Firmung keinen zweiten Namen bekommen?«
»Das heißt bei uns nicht Firmung, sondern Konfirmation, und da gibt’s zwar viele Geschenke, aber keine Namen.«
Bogumił ist entsetzt, Karolina ratlos. Die beiden tuscheln miteinander. Bogumił grummelt, streicht sich über seinen Bart, steht kurz entschlossen auf, besprenkelt mich mit Weihwasser und schlägt über mir ein Kreuz. Dann sagt er feierlich: »Maria!«
»Bitte?«
»Du heißt jetzt Christine Maria«, erklärt Karolina und seufzt befriedigt. »Ein Priester in der Familie ist einfach unbezahlbar.«
Christine Maria, aha. Klingt gar nicht so schlecht. Und das ging auch ganz schön fix. Dann können wir ja jetzt wieder nach Hause fahren, also zu Tante Małgorzata.
Aber leider können wir das noch lange nicht, denn jetzt will Onkelchen mit mir den Rosenkranz proben. Auf Polnisch, versteht sich. Er spricht mir vor, ich spreche ihm nach, Karolina verbessert mich. Nach zwei Stunden bin ich mit den Nerven am Ende, hab’s aber einigermaßen drauf. Meine beiden Kerkermeister entlassen mich für heute mit dem Hinweis, dass es morgen in die zweite Runde geht. Die können mich mal.
Ziemlich gereizt stürme ich in Tante Małgorzatas Wohnung und schnappe mir Jan, der sehr entspannt mit einem Großteil der Familie vor dem Fernseher sitzt.
»Schahatz!«, trompete ich, »hast du mal eine Sekunde für deine dich liebende Frahau?«
Bei meiner Tonlage zuckt er zusammen und springt sofort auf. »Stimmt was nicht, Tine? War der Brautunterricht nicht gut?«
»Komm doch mal kurz in die Küüüche«, flöte ich. »Wir müssen reeeden. Unter vier Augen!«
Ich schließe hinter uns die Küchentür und lasse mich ermattet auf einen Stuhl fallen. »Jan, so geht das nicht weiter«, stöhne ich. »Das halt ich echt nicht durch. Wir brauchen eine Planänderung.«
»Na ja, wenn der Unterricht zu schwer für dich ist, kann ich ja mal mit Bogumił reden. Vielleicht können wir auch ein paar Tage später heiraten.«
»Bist du bekloppt? Ich kann doch nicht noch länger in Polen bleiben!«, fahre ich ihn an. »Je länger ich abgetaucht bin, desto schwieriger wird es, der Polizei alles zu erklären.«
»Ja, das stimmt natürlich. Aber Gerda ist immer noch so verwirrt. Vorhin hat sie zu Onkel Leszek immer Heinzi gesagt und wollte auf seinem Schoß sitzen.«
»Eben, und deshalb müssen wir sofort weg. Ich habe den Eindruck, dass sich Omas Zustand hier verschlimmert. Du packst jetzt unauffällig unsere zwei Sachen zusammen, dann sagen wir, dass wir mit Gerda einen Spaziergang machen – und dann geht’s ab durch die Mitte nach Lübeck. Bestimmt wird sie in ihrer vertrauten Umgebung schneller wieder klar im Kopf!«
»Nee, das geht nicht.« Jan hebt bedauernd die Hände.
»Wieso geht das nicht? Klar geht das!«
»Tine, die Hochzeit müssen wir jetzt irgendwie durchziehen, sonst kann ich mich bei meiner Familie nie wieder blicken lassen. Das wäre für alle ganz schlimm, wenn wir jetzt einfach abhauen.«
»Aber wir können das Märchen von unserer Scheinehe ja nicht ewig weiterspielen. Stell dir vor, wir sind wieder in Deutschland, und deine Mutter oder Karolina wollen uns mal besuchen. Dann ist doch sowieso alles vorbei!«
»Ach was, in einem halben Jahr erzähle ich einfach, dass wir doch nicht so gut zusammengepasst haben und wieder geschieden sind. Die Version schlucken sie auf alle Fälle eher, als dass ich in wilder Ehe lebe.«
»Ach, und geschieden ist da besser?«
Jan nickt. »Ja, viel, viel besser! Das gibt’s hier auch häufiger. Und wie schwierig das ist, mit einer Deutschen verheiratet zu sein, kann sich bestimmt jeder in meiner Familie ausmalen. Ihr seid einfach zu korrekt, zu penibel – eben einfach spaßfrei.« Er grinst.
»Na, vielen Dank für die Blumen. Das freut mich ja riesig, dass ich jetzt berufen bin, mit einer wahren Liebeshochzeit das Deutschenbild deiner Familie aufzupolieren.«
Dass ich mittlerweile etwas zickig klinge, übergeht Jan einfach. Stattdessen macht er eine generöse Handbewegung, die wahrscheinlich irgendwas zwischen Schwamm drüber und Baby, ich erklär dir jetzt mal die Welt bedeuten soll. Spinner.
»Ich weiß, das ist für dich als Deutsche schwer nachzuvollziehen, aber wir Polen ticken da einfach anders.«
Dass die Polen anders ticken, insbesondere, wenn es um das Thema Familie geht, habe ich in den letzten Tagen schon mitbekommen. Und vermutlich gibt es wirklich Zoff, wenn Jan sich jetzt vom Acker macht. Ich muss ja nur an Karolina denken, diesen Zerberus.
Kurz überlege ich, einfach heimlich mit Oma die Biege zu machen – ohne Jan. Aber das kann ich ihm nicht antun. Er geht mir zwar gelegentlich auf den Keks, aber schließlich war er auch die ganze Zeit für mich da und hat mir geholfen. Ich kann ihn jetzt nicht im Stich lassen. Schließlich heiße ich nicht Alexander. Sondern Christine Maria. Und gerade mein zweiter Name verpflichtet irgendwie.
»Na gut«, ich seufze tief. »Dann bringen wir das jetzt hinter uns. Aber so schnell wie möglich – am Freitag wird geheiratet, keinen Tag später!«
»Aye, aye, Käpt’n!«, sagt Jan und grinst.
Dann steckt auch schon Tante Małgorzata ihren Kopf durch die Tür – ohne anzuklopfen, versteht sich – und nötigt ihren Neffen zum Aufbruch.
»Wohin geht ihr denn?«, frage ich neugierig.
»Ich brauche doch noch was zum Anziehen«, antwortet Jan und deutet auf seine fleckige Hose. »In den Klamotten kann ich wohl schlecht vor den Altar treten.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nee, dafür hast du gar keine Zeit. Karolina will mit dir gleich zur Schneiderin.«
»Zur Schneiderin? Was soll ich denn da?«
»Anprobe. Dein Kleid soll ja ordentlich sitzen. Und zum Friseur will sie auch noch mit dir, das Styling für Freitag besprechen.«
Tja, so ist das eben, wenn man heiratet, da hat man jede Menge um die Ohren. Wehmütig denke ich an das Rundum-sorglos-Paket, das ich zu diesem Zweck auf den Seychellen gebucht hatte.
Jan entschwindet mit seiner Tante, ich mache mich mit Karolina auf den Weg. Aber nicht, ohne mich vorher noch einmal zu vergewissern, dass mit Oma Strelow alles okay ist. Die sitzt jedoch ganz friedlich mit Onkel Leszek im Wohnzimmer, spielt Karten und macht nicht den Eindruck, als würde sie mal wieder abhauen wollen. Ganz im Gegenteil: Sie sieht sehr, sehr zufrieden aus.
»Na, Kindchen«, kichert sie, als sie mich sieht, »Freitag ist dein großer Tag. Hach, ich freu mich so! Und du? Bist du denn schon aufgeregt?«
»Natürlich … und wie, Omi!«, bringe ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die alte Dame uns alle an der Nase herumführt. Aber sicher bin ich mir auch nicht, deshalb ziehe ich mit Karolina schnell Leine.
Auf der Fahrt zur Schneiderin hat Jans Schwester wieder tausend Fragen, ihre Neugier ist echt kaum zu bremsen.
»Sag mal«, eröffnet sie das Gespräch, »siehst du deine Oma oft?«
»Äh, ja, doch. Ziemlich regelmäßig«, sage ich ausweichend.
»Hmm, komisch. Mama hat nie erzählt, dass Frau Strelow viel Kontakt hat zu ihrer Familie. Von einer Enkelin war nie die Rede …«
»Ja, also, äh, so viel Kontakt haben wir dann auch wieder nicht. Das ist erst in letzter Zeit mehr geworden.«
»Aha. Und wie kommt das?«
Mist, die lässt einfach nicht locker, Karolina könnte wirklich gut beim Verfassungsschutz arbeiten. »Also, äh, ich bin erst vor kurzem nach Lübeck zurückgezogen. Ich hab vorher in einer anderen Stadt gearbeitet. In Lübeck war erst keine Stelle als Lehrerin frei …«
»Ja? Wo denn?«
»Äh, äh … in Münster«, denke ich mir blitzschnell aus. Gott sei Dank scheint Karolinas Neugier erst mal befriedigt. Sie schweigt nämlich und kaut an ihrer Unterlippe. Aber dann legt sie nach.
»Du, Tine, weißt du, was ich auch komisch finde?«
Och nö, ich will nicht mehr! »Was denn, Karolina?«
»Dass du deine Oma manchmal siezt und Frau Strelow zu ihr sagst …«
Scheiße, jetzt hat sie mich! Denk nach, Tine, denk nach! Und dann kommt mir ein rettender Einfall. Etwas hochnäsig sage ich: »Das kannst du natürlich nicht wissen, aber Oma entstammt ja einem alten pommerschen Adelsgeschlecht. Und früher war es bei uns Sitte, Eltern und Großeltern mit Sie anzureden. So als Zeichen des Respekts und der Ehrerbietung. Manchmal machen wir das heute noch, alte Familientradition eben.«
Karolina haucht noch ehrfürchtig ein »Echt?«, dann schweigt sie. Ha, jetzt hab ich sie! Bis wir bei der Schneiderin eintreffen, herrscht tatsächlich Ruhe.
Dort allerdings reden dann drei wildfremde Polinnen gleichzeitig auf mich ein und nötigen mich, in mein Brautkleid zu schlüpfen. Sie zupfen und zerren an mir herum, dass es eine wahre Freude ist. Eine klopft dabei immer wieder auf meinen Bauch und sieht mich herausfordernd an.
»Sie meint, dass du das Kleid eine Nummer zu klein gekauft hast. Es sitzt nicht richtig in der Taille«, übersetzt Karolina die rüden Annäherungsversuche ihrer Landsmännin.
Wie, eine Nummer zu klein gekauft? Das Teil ist maßgeschneidert! Und neulich bei der Anprobe hat es noch gepasst wie angegossen. Jetzt allerdings zwickt es tatsächlich etwas am Bauch. Bestimmt habe ich das der opulenten Vollpension bei Tante Małgorzata zu verdanken. Polnische Würste sind zwar köstlich, gehen aber anscheinend direkt auf die Hüfte. Na ja, wenn ich die Luft anhalte, wird’s schon gehen.
Jetzt wedelt eine der Damen mit einer Korsage. Das meinen die doch nicht ernst? Doch, sie tun es und zwingen mich, mich in das Folterinstrument zu zwängen. Karolina zieht hinten beherzt an den Schnüren, wobei sie es – nicht ganz unabsichtlich, wie mir scheint – ziemlich übertreibt, so dass ich tatsächlich keine Luft mehr bekomme. Bevor ich aber ohnmächtig zu Boden sinken kann, lockert sich der Stahlgriff wieder.
»Bist du verrückt?«, japse ich. »Das Ding trage ich nie und nimmer! Nur über meine Leiche!«
»Aber das Kleid sitzt nicht«, beschwert sich meine zukünftige Schwägerin.
»Jetzt mach mal halblang. So schlimm ist es auch wieder nicht! Ich ess jetzt die nächsten beiden Tage etwas weniger, und dann sitzt es auch wieder!«
»Wenn du meinst«, entgegnet Karolina spitz.
Genau das meine ich, und deshalb ist diese Anprobe jetzt auch beendet. Mein Kleid muss ich aber trotzdem dalassen, es soll noch mal ordentlich aufgebügelt werden. Also zuckeln Karolina und ich weiter zum Friseur. Wir fahren schweigend in die Kolberger Innenstadt und betreten einen Salon, der mich vom Ambiente her an die deutschen siebziger Jahre erinnert. Von der Decke hängen riesige Trockenhauben, die Waschbecken sind dunkelbraun, die Wände hellgrün.
Ich muss mich vor einem Spiegel auf einen extrem unbequemen Stuhl setzen, den eine Frau namens Danuta, offenbar die Chefin hier, energisch in schwindelerregende Höhen pumpt. Dann fährt sie mir ruppig mit beiden Händen über den Kopf und betrachtet unzufrieden mein Haupthaar. Zwischen ihr und Karolina entspinnt sich ein längerer Disput.
»Etwas kürzen und Strähnen«, erklärt Karolina mir anschließend.
»Muss das sein?«, frage ich kläglich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kenne.
Zwei Stunden später habe ich im wahrsten Sinne des Wortes Federn gelassen, ich meine: Haare. Meine ehemals lange Mähne ist ordentlich gekürzt, ich trage jetzt das, was man wohl einen flotten Stufenschnitt nennt – in ungefähr zehn unterschiedlichen Längen. Dazu kommen äußerst gewöhnungsbedürftige Strähnen in diversen Blond-Schattierungen, von leicht rötlich bis nahezu weiß.
»Und, gefällt es dir?«, fragt mich Karolina gespannt.
Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, ich will ja auch nicht unhöflich sein. »Äh, nun ja, das ist ganz … außergewöhnlich. Also ungewohnt, aber gar nicht so schlecht.«
Karolina und die Friseurin nehmen das als Kompliment und sind hochzufrieden. »Na siehst du«, meint Karolina. »Jetzt hast du einen ordentlichen und schicken Haarschnitt. Außerdem kann Danuta dir so übermorgen viel besser die Haare hochstecken – dann werden die Stufen gelockt, das sieht bestimmt toll aus. Das vorher war ja nichts Halbes und nichts Ganzes!«
Pffft, dieses nichts Halbes und nichts Ganzes kostet mich in Lübeck alle fünf Wochen neunzig Euro! Und um diesen haarigen Fauxpas wieder auszubügeln, muss ich bestimmt richtig tief in die Tasche greifen. Was soll’s, hier kennt mich ja weiter keiner, und zu Hause werde ich dann für den Übergang irgendwas auf den Kopf setzen. Gibt ja schließlich schicke Mützen und Hüte.
Als wir von unserem kleinen Ausflug zurückkommen, starrt Jan mich völlig entgeistert an. »Oh«, sagt er nur, mehr nicht.
»Ich hoffe, dein Hochzeits-Outfit ist genauso schick wie meine neue Frisur«, entgegne ich.
Er lacht. »So in etwa. Du darfst gespannt sein.«
Nach verrichtetem Tagwerk folgt am Abend die übliche Völlerei, garniert mit reichlich Kartoffelschnaps. Diese Polen können echt was ab! Ich versuche, mich einigermaßen zurückzuhalten, was mir aber nicht wirklich gelingt. Unter Karolinas strafenden Blicken häufe ich mir den Teller schließlich doch zwei Mal voll. Was kann denn ich dafür, wenn Tante Małgorzata so gut kocht!
Die Verwandtschaft ist immer noch relativ komplett versammelt, dabei wollten eigentlich alle schon am Ostermontag abreisen. Aber nun steht ja ein großes Familien-Event an, da sind sie dann natürlich noch geblieben. Wir hocken zusammengepfercht im Wohnzimmer, lachen, trinken und spielen Karten. Oma Strelow scheint sich so wohl zu fühlen wie schon lange nicht mehr. Sie scherzt, sie kichert, und sie zockt Onkelchen Bogumił bei etwas, das die polnische Variante von Canasta zu sein scheint, richtig ab. Der stößt Flüche aus, deren Inhalt ich zwar nicht verstehe, die aber ziemlich ordinär klingen und so gar nicht gottgefällig.
Gegen ein Uhr nachts scheucht Leszek alle raus, und wir fallen todmüde in die Betten. Besser gesagt: Ich sinke jetzt auf die Schlafcouch und Jan auf eine Matratze auf dem Boden neben mir. Tante Małgorzata hat nämlich mein Gästezimmer Oma Gerda zugeteilt. Wahrscheinlich wollte sie der alten Dame nicht zumuten, auf irgendeiner Unterlage zu kampieren. Außerdem, so hat Jan es mir erklärt, findet sie es mittlerweile nicht mehr unschicklich, dass mein zukünftiger Gatte und ich in einem Raum nächtigen. Da wird der liebe Gott schon ein Einsehen haben, irgendwie.
So auf Tuchfühlung mit Jan zu nächtigen ist mir zwar einerseits etwas peinlich, andererseits fühlt es sich aber gar nicht so schlecht an. Vor dem Einschlafen flüstern wir noch miteinander. Ich male ihm in schillernden Farben aus, wie die Besuche bei Schneiderin und Friseur verlaufen sind, er erzählt mir von der Anprobe beim Herrenausstatter. Dann schmieden wir Pläne, was wir alles tun werden, wenn wir unser normales Leben wiederhaben. Und schließlich widmen wir uns der Vergangenheit.
»Wann warst du das erste Mal verliebt?«, will Jan von mir wissen. Ich muss kichern.
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Na, hör mal, wir sind bald Mann und Frau. Da muss ich so etwas doch wissen«, widerspricht Jan sofort.
So gesehen hat er natürlich recht.
»Also, ich denke, das war in der fünften Klasse. In Joschi Buschschulte.« Ich seufze.
»Joschi Buschschulte? Was ist das denn für ein bekloppter Name!«
»Hey! Nichts gegen Joschi. Der ging schon in die sechste Klasse. Oder besser: Er wäre in die sechste gegangen, wenn er nicht vorher sitzengeblieben wäre. So kam er dann in meine Klasse. Und er war einfach toll! Gar kein Vergleich zu den anderen kleinen Jungs!« Meine Stimme bekommt einen ganz schwärmerischen Klang.
Jetzt ist es Jan, der kichert. »So, so, toll war er also. Was war denn so toll an ihm?«
»Na, er konnte super küssen. Extrem wichtig, finde ich.«
»Du hast in der fünften Klasse schon rumgeknutscht? Ist das nicht ein bisschen früh?«
»Nö, wieso? Wenn man den Richtigen trifft …«
Jan seufzt. »Ich habe das erste Mal mit vierzehn ein Mädchen richtig geküsst. Dorota. Sie war meine Nachhilfelehrerin und schon siebzehn. Und echt heiß! Ich konnte in der Nacht vor dem Unterricht nie schlafen, so verknallt war ich in sie. Tja, und eines Tages habe ich all meinen Mut zusammengenommen und ihr meine Liebe gestanden. Mann, hatte ich da Herzrasen!«
»Wow«, flüstere ich. »Und was hat sie gesagt?«
»Gar nichts. Sie hat einfach meinen Kopf zwischen ihre Hände genommen und mich geküsst. Es war der helle Wahnsinn, als ob mir jemand einen 220-Volt-Stromschlag verpasst hätte.«
»Und? Wart ihr danach ein Paar?«
»Nee«, brummt Jan in der Dunkelheit. »Danach hat sie mir, ehrlich gesagt, nie wieder Nachhilfe gegeben. Hat meinen Eltern gesagt, sie hätte keine Zeit mehr.«
Jetzt seufzen wir beide.
»Und du und Alexander?«, will Jan wissen. »Wie hat das begonnen?«
»Ich habe ihn auf einer superlangweiligen Lehrer-Party kennengelernt. Besser gesagt: einer langweiligen Lehrerinnen-Party. Es waren kaum Männer da. Alexander ist mir da natürlich sofort aufgefallen. Er war auch so anders als die anderen. Erst haben wir uns total gezofft, aber irgendwann später hat es richtig gefunkt. Wir haben die Party schon als Pärchen verlassen.«
»Also fast Liebe auf den ersten Blick«, sagt Jan, immer noch brummend.
»Fast. Wir sind eigentlich total unterschiedlich. Die meisten meiner Freundinnen mögen Alex nicht. Für sie ist er einfach der kühle Banker. Aber er kann auch total lieb sein.« Ich denke kurz über ein passendes Beispiel nach, aber leider fällt mir so schnell keines ein.
»Und wieso wolltet ihr auf den Seychellen heiraten?«
»Das war Alex’ Idee. Er fand das romantisch, so zu zweit. Er ist auch kein großer Familienmensch. Ich glaube, der ganze Rummel geht ihm auf den Keks.«
»Hm«, murmelt Jan nachdenklich. »Du bist aber schon ein Familienmensch, oder?«
»Wieso?«
»Na ja, immerhin erträgst du meine ganze Sippe hier wirklich mit Fassung. Und zu Oma bist du echt nett, obwohl sie dich so reingeritten hat. Also, da wundert es mich eigentlich ein bisschen, dass du ganz ohne Familie und Freunde heiraten willst.«
Wo er recht hat, hat er recht. Ob ich ihm von der Wahrsagerin erzählen soll? Oder hält er mich dann für völlig durchgeknallt? Andererseits: Wer sein Osterfrühstück mit Weihwasser besprenkeln lässt, hat vielleicht auch ein wenig Verständnis dafür, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, die mit dem Verstand schwer zu erklären sind. Ich räuspere mich.
»Also, das war so: Als mich Alexander gefragt hat, ob ich mir vorstellen kann, ihn Ostern am Strand von La Digue zu heiraten, da habe ich spontan Herzrasen bekommen. Nicht nur wegen der Hochzeit an sich. Sondern auch, weil sich damit eine Weissagung erfüllt hat.« Schweigen. »Äh, hörst du mir noch zu?«
»Hmh. Klar. Sprich weiter. Weissagung. Klingt spannend.«
»Ähm, mir hat nämlich mal jemand geweissagt, dass ich in der Osterzeit den Mann meines Lebens heiraten würde. Im Ausland.«
Jan schnauft. Oder unterdrückt er etwa ein Lachen? Ich hätte ihm die Geschichte doch nicht erzählen sollen!
»Jetzt hältst du mich für verrückt, oder?«
»Nein, überhaupt nicht. Erzähl weiter.«
»Da gibt’s nicht mehr viel zu erzählen. Es war eine alte Zigeunerin. Wir hatten sie für unseren Abi-Ball engagiert. Sie sollte uns allen die Zukunft vorhersagen. Aber bei mir hat es ja offensichtlich nicht geklappt, denn mir ist ja Oma in die Quere gekommen.«
Jetzt lacht Jan. »Wieso? Es ist eindeutig Osterzeit. Du wirst heiraten. Und wir sind im Ausland. Ich würde sagen: Ich bin der Mann deines Lebens.«
Blödmann! Aber bevor ich noch etwas sagen kann, greift Jan nach meiner Hand und drückt sie.
»Gute Nacht, Tine. Ich bin mir sicher, deine Träume werden sich noch erfüllen.«
Der nächste Morgen beginnt damit, dass ich von einem langgezogenen Ton wach werde. Irgendjemand heult. Dem Klang nach eine Frau. Ich will Jan fragen, was denn da um Himmels willen schon wieder los ist, und stelle fest, dass er sein Nachtlager schon verlassen hat. Also beschließe ich, diesem Geräusch auf den Grund zu gehen, und tappe in meinem mintfarbenen Riesennachthemd durch den Flur.
Der Heulton kommt aus der Küche, untermalt von Jans ruhigem Brummton und Karolinas eher hysterischem Geschnatter. Mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« stoße ich die Tür auf. Wer weiß, vielleicht lässt eine Überdosis an guter Laune die Heulboje verstummen. Drei Augenpaare starren mich an. Das mittlere davon ist voller Tränen, die dazugehörige Frau hängt schluchzend in Karolinas Armen. Nach einer kurzen Schrecksekunde löst sie sich von Jans Schwester und stürzt sich mit einem Aufschrei auf mich. Sie fällt mir um den Hals, herzt und küsst mich, stammelt Unverständliches auf Polnisch und etwas auf Deutsch, das klingt wie »Meine Tochter, meine Tochter«.
O mein Gott, wer ist jetzt diese Wahnsinnige? Hilfesuchend blicke ich zu Jan und versuche, mich aus der Umklammerung dieser Verrückten zu befreien. Jan lächelt leicht beschämt, holt tief Luft und sagt dann feierlich: »Tine, darf ich vorstellen: Magda Majewska, meine Mutter.«
»Unsere Mutter«, berichtigt ihn Karolina, die alte Besserwisserin.
Ach du Scheiße! Wo kommt die denn auf einmal her? Sollte die nicht ganz woanders sein und ihr frisch geschlüpftes Enkelkind einhüten? Ich werfe Karolina einen fragenden Blick zu, sie versteht sofort.
»Meine Mutter hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, sofort persönlich zu kommen, als sie von der Hochzeit gehört hat. Obwohl ihr jüngstes Enkelkind eine Lungenentzündung hat und sie eigentlich auf jeden Fall bei ihm bleiben wollte. Nun gut.«
Brrr. Vorwurf, dein Name sei Karolina.
Magda scheint das kranke Enkelkind für einen Moment vergessen zu haben. Wieder schreit sie »Meine Tochter!« und drückt mich noch fester.
Mir bleibt nur eins. »Hallo, Schwiegermama«, röchle ich und lasse mich ergeben in ihre Arme sinken.