13. Kapitel

Oh!« Magda reißt abwechselnd Mund und Augen auf, schlägt sich die Hände vors Gesicht und schaut immer wieder zwischen Jan und mir hin und her. Tante Małgorzata tut es ihr gleich, bei ihr fließen sogar ein paar Tränchen. Was auch immer Jan den beiden da auftischt, es scheint eine extrem bewegende Geschichte zu sein. Leider verstehe ich sie nicht, denn perfiderweise erzählt Jan sie auf Polnisch.

Als er fertig ist, erhebt sich Magda von dem Sofa, auf das wir sie zwischenzeitlich verpflanzt hatten, wankt auf mich zu und drückt mich nochmals sehr fest an ihre mütterliche Brust. Małgorzata kommt ebenfalls zu mir und streicht mir gerührt übers Haar. Magda räuspert sich.

»Meine Tochter, ich bin beeindruckt von eurer großen Liebe. Ich danke dir, dass du so zu meinem Sohn gehalten hast. Und ich verzeihe euch, dass ihr heimlich geheiratet habt. Ich kann es jetzt verstehen, und da ihr es nun mit Gottes Segen wiederholt, bin ich einverstanden.« Sie rückt ein Stück von mir ab, streckt Jan und mir beide Hände entgegen und sagt sehr salbungsvoll: »Kinder, ich gebe meine Erlaubnis!«

Puh, ’ne Nummer kleiner geht’s hier irgendwie nicht. Ich ringe mir ein Lächeln ab, nicke und murmele ein höfliches »Danke, Mama«. Magda und Małgorzata setzen sich wieder, immer noch sichtlich erschüttert. Leszek eilt zu ihnen und schenkt ihnen ein Glas Wodka ein. Das scheint mir doch selbst für hiesige Sitten ein bisschen früh am Tag zu sein. Was in aller Welt hat Jan denen bloß erzählt?

Ich zupfe ihn möglichst unauffällig am Ärmel. »Warum sind die denn jetzt alle so komisch?«

»Na, ich musste ein bisschen ausschmücken, warum wir heimlich geheiratet haben, weißt du? Meine Mutter war ganz schön sauer.«

»Ja, ja, das versteh ich. Das wäre meine auch. Aber wie hast du sie denn so schnell handzahm bekommen? Bei meiner hätte ich jetzt bis in alle Ewigkeit verschissen.«

»Na ja, ich habe ihr gesagt, dass wir es vor deinem Vater, dem Nazi-General, geheim halten mussten.«

Ich glaube, ich habe mich gerade verhört. »Vor meinem Vater, dem WAS?!?«

»Dem Nazi-General. Er hätte diese Ehe natürlich niemals gebilligt, er hat sogar verboten, dass wir uns jemals wiedersehen. Aber unsere große Liebe hat gesiegt. Und Oma Gerda hat uns geholfen.«

Fassungslos starre ich Jan an. »Sag mal, spinnst du jetzt komplett? Mein Vater ist Jahrgang 54 – was fällt dir ein, so was über ihn zu behaupten? Das ist ja Rufmord!«

Jan guckt erstaunt. »Na, also, das war Notwehr! Du hättest meine Mutter erleben sollen – sie ist total ausgeflippt. Da brauchte ich schnell etwas, das die Sache erklärt und glaubwürdig klingt.«

Jetzt schwillt mir aber richtig der Kamm. »Wie kann denn das glaubwürdig klingen? Jan, ich bin dreißig und sehe hoffentlich auch nicht wesentlich älter aus – mein Vater müsste mindestens hundert Jahre alt sein, um im Krieg General gewesen sein zu können. Wie kommt es da bitte, dass hier alle sofort glauben, mein Vater sei ein Nazi gewesen?«

Täusche ich mich, oder wird Jan ein bisschen rot?

»Tja, also, äh … na ja, also so genau hat man die Daten ja auch nicht im Kopf, und wenn jemand aus Deutschland kommt, also so ganz abwegig … äh …«

»Dann ist es völlig klar, dass er aus einer Familie alter Nazis kommt? Ist es das, was du meinst?« Mittlerweile bin ich anscheinend dazu übergegangen, Jan anzubrüllen, denn er macht »Pssst!« und zieht mich in den Flur.

»Nicht so laut, sonst fliegt die ganze Geschichte doch auf! Meine Mutter spricht schließlich ausgezeichnet Deutsch.«

»Na und? Das lasse ich nicht auf mir sitzen!«

»Mann, Tine, jetzt beruhige dich mal. Okay, vielleicht war es nicht die beste Idee, die ich jemals hatte. Aber wenn ich mich in Deutschland über jeden doofen Polenwitz oder jedes Vorurteil so aufregen würde wie du dich jetzt, dann hätte ich viel zu tun.«

»Das willst du jetzt nicht ernsthaft vergleichen!«

»Doch. Dein Vater ist kein Nazi, und ich habe noch nie ein Auto geklaut oder Zigaretten geschmuggelt. Wenn ich meiner Mutter jetzt die Wahrheit sage, redet sie nie wieder mit mir.«

Ich seufze. »Okay. Aber dann hätte ich jetzt gerne die komplette Version deiner Geschichte, damit ich überhaupt weiß, was sie jetzt glaubt.«

Jan grinst. »Also: Wir haben uns bei Oma kennengelernt und ineinander verliebt. Dein Vater ist dahintergekommen und war entsetzt. Als Nazi duldet er keinen polnischen Schwiegersohn. Du hast dir unsere Liebe aber nicht verbieten lassen und hast mich heimlich geheiratet. Oma hat uns gedeckt und bei der Flucht geholfen.«

»Aber deine Mutter kennt doch Omas Familie – das kann sie doch nie und nimmer geschluckt haben!«

»Na, dein Vater ist nicht ihr Sohn, sondern ihr Schwiegersohn. Und sie mochte ihn noch nie.«

»Hat Gerda überhaupt eine Tochter? Du hast bisher immer nur von den Söhnen erzählt.«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe gesagt, dass Oma zu der Tochter eigentlich keinen Kontakt mehr hat. Wegen des Nazi-Schwiegersohns.«

Ohgottogott! Was für ein Lügengebilde! Wie soll ich mir das alles merken? Das wird uns doch demnächst um die Ohren fliegen.

Offenbar gucke ich völlig entgeistert, denn jetzt legt Jan seinen Arm um mich und zieht mich näher an sich.

»Sieh es mal so, Tine: Die Geschichte ist total romantisch. Wie Romeo und Julia, nur mit Happy End. Und das ist auch der eigentliche Grund, warum mir das alle abgekauft haben: Nicht wegen der Nazis. Sondern wegen der Liebe – weil wir Polen nämlich ein Volk von großen Romantikern sind.«

Gut. Ich bin zwar noch sauer, aber irgendwie ist Jan auch sehr süß, wenn er so etwas sagt und sein Blick beim Wort Liebe ganz weich wird. Ich beschließe, meinen Frieden mit dieser Räuberpistole zu machen, auch wenn meinem armen Vater hier übles Unrecht getan wird. Die einzige ansatzweise militärische Führungsposition, die er jemals bekleidet hat, war nämlich Kassenwart im Schützenverein. Und das auch nur zwei Jahre lang, denn dann unterlag er bei einer Kampfabstimmung seinem Freund Günther.

 

»Und, wie gefällt es dir?« Jan schaut mich erwartungsvoll an. Und damit ist er nicht allein. Auch Mateusz – seines Zeichens mein angehender Schwippschwager in nicht wirklich nachkonstruierbarer Linie, aber außerdem Patensohn der Großcousine von Tante Małgorzatas Friseurin Danuta – guckt gespannt.

Ich zögere ein bisschen, um die Spannung zu erhöhen, aber dann platzt es aus mir heraus: »Es ist wirklich großartig! Fantastisch! Wenn die hier so gut kochen können, wie das Restaurant aussieht, dann wird das ein ganz toller Abend.«

Jan dreht sich zu Mateusz und übersetzt, der strahlt stolz über das ganze Gesicht. Kein Wunder, er scheint so etwas wie der Geschäftsführer des Domek Kata zu sein.

»Jestem dumny, że – po tych wszystkich waszych tarapatach – mogę Was ugościć w moim lokalu. Bowiem staliście się dla mnie symbolem wielkiej miłości. Oto zwycięstwo serca nad niegodziwością świata.«

»Er sagt, es ist ihm eine ganz besondere Ehre.«

»Echt? Dieser ganze Sermon heißt nur, es sei ihm eine Ehre?«

Okay, ich kann auch nach einer Woche noch kein Polnisch – aber zumindest habe ich schon ein gewisses Gefühl dafür entwickelt, wie lang so ein polnischer Satz im Vergleich zu einem deutschen ist. Und ich glaube, Jan hat da irgendwas unterschlagen. Ich sehe ihn streng an.

»Na gut: Er ist stolz, unser Gastgeber zu sein, nach all dem, was wir durchgemacht haben, denn wir sind für ihn das Symbol einer großen Liebe. Der Sieg des Herzens über die Schlechtigkeit der Welt.«

Auweia! Die Geschichte zieht wirklich Kreise! Hoffentlich erfährt in Lübeck nie jemand von diesem ganzen Theater. Ich frage mich langsam, ob es nicht besser gewesen wäre, Jans Familie die Nummer mit dem Bankraub zu erklären. Viel schlimmer hätte es dann auch nicht kommen können. Ich seufze, Jan guckt bedröppelt.

»Ach komm, Tine – ist doch klasse, dass wir nun einen so tollen Ort für unsere Hochzeitsfeier haben. Das Domek Kata ist wirklich das schönste Restaurant, das Kolberg zu bieten hat.«

Das wiederum glaube ich sofort. Schon von außen sieht das Domek Kata sehr hübsch aus: ein weißes Haus mit roten Sprossenfenstern und einem spitzen Giebel. Kaum zu glauben, dass hier einst der Henker von Kolberg seinen Dienstsitz hatte. Im Übrigen liegt es nur einen Steinwurf vom Rathaus entfernt – und damit äußerst günstig für unsere gesamte Hochzeitsgesellschaft, denn auch Tante Małgorzatas Platte liegt fußläufig zum Rathaus. Bei der zu erwartenden Alkohollastigkeit der Veranstaltung ist das ein nicht zu verachtender Standortvorteil. Die Strecke dürfte ich selbst auf allen vieren schaffen. Gut, vielleicht nicht auf allen vieren im Brautkleid, aber ich könnte ja wenigstens dieses eine Mal versuchen, den Wodka heimlich durch Wasser zu ersetzen. Ein guter Vorsatz – ich nehme mir fest vor, ihn umzusetzen.

»Proponuję byśmy tu na dole wznieśli toast i wypili lampkę szampana. Tu mamy też dobre miejsce dla orkiestry i na tańce. U góry zaś będziemy później jeść, tam są też jeszcze dwa piętra.«

Mateusz schaut mich erwartungsvoll an.

»Er meint, er würde den Sektempfang hier unten machen. Hier sei auch ein guter Platz für Band und Tanzfläche. Essen können wir oben, da sind ja noch zwei Stockwerke. Und die sehen auch ganz toll aus – und ein bisschen gruselig: Da hängen die Gemälde der Kolberger Scharfrichter an den Wänden.«

Ich mache große Augen. Tatsächlich ist das Erdgeschoss wunderschön – weiß getäfelt, mit Wandmalereien und barock anmutendem Mobiliar. Aber von welcher Band redet Jan? Und wie viele Gäste erwarten wir eigentlich? Ich dachte, wir reservieren hier einen großen Tisch und gut ist. Okay, vielleicht auch einen sehr großen Tisch, wenn ich so an Jans gesammelte Verwandtschaft denke – aber gleich das gesamte Haus?

»Sag mal, Jan – willst du etwa das ganze Haus mieten? Und eine Band auch noch? Das ist doch irre teuer, wer soll das denn bezahlen? Ich habe noch genau sechsunddreißig Euro in meinem Portmonnaie, und wenn ich versuche, hier mit meiner EC-Karte zu bezahlen, stehen garantiert gleich die Bullen auf der Matte und bringen uns ein kleines Hochzeitsständchen.«

Jan schaut mich an, als hätte ich vorgeschlagen, unsere Feier lieber in Erikas Bratwursteck zu verlegen. »Aber es ist doch unsere Hochzeit.«

Ist es denn zu fassen? Ich hoffe, Mateusz spricht wirklich kein Deutsch, denn hier muss ich mal entschieden gegenhalten. »Nein, Jan. Es ist eben nicht unsere Hochzeit. Wir tun lediglich so. In Wirklichkeit ist das hier eine gigantische Verlade, damit du keinen Ärger mit deiner Mutter kriegst.«

Jan rollt mit den Augen. »Wenn du nicht mit Oma eine Bank überfallen hättest, dann müssten wir hier auch keine Show abziehen.«

»Ich habe keine Bank überfallen! Du hättest einfach dabei bleiben sollen, dass wir standesamtlich geheiratet haben und uns das völlig reicht. Aber nein, weil Mami sonst um dein Seelenheil fürchtet, wird es jetzt ganz katholisch.«

»Wie redest du denn über meine Mutter und ihren Glauben? Du hast doch keine Ahnung!« Jan wird laut.

Ich werde lauter. »Das wäre ja schön, wenn ich keine Ahnung hätte – leider musste ich wegen dir gefühlte fünftausend Stunden Brautunterricht bei Onkelchen Bogumił über mich ergehen lassen und bin jetzt so fit in polnischem Katholizismus, dass mich Papst Wojtyła wahrscheinlich sofort zum Priester geweiht hätte.«

»Lass Wojtyła da raus, der kann nichts dafür, und außerdem hieß der als Papst Johannes Paul«, schreit Jan mich an.

Mateusz schaut sehr verwundert von einem zum anderen, murmelt etwas und versucht, sich unauffällig davonzuschleichen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Streitende Paare finde ich auch ganz furchtbar, selbst wenn sie wie in unserem Fall in Wirklichkeit gar kein Paar sind.

»Jetzt beruhige dich mal«, lenke ich ein. »Ich wollte dich nicht kränken. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass die ganze Sause hier etwas den Rahmen sprengen wird und ich für meinen Teil gerade etwas blank bin. Lass uns doch einfach einen großen Tisch reservieren und die Familie nach der Trauung zu einer kleinen, intimen Feier einladen. Dann sind wir katholisch getraut, deine Mutter ist glücklich, und wir können endlich nach Lübeck fahren.«

Jan schüttelt den Kopf. »Nein, das geht nicht. Ich bin der einzige Sohn meiner Mutter und das letzte Kind, das heiratet. Sie war schon so geschockt, dass ich ihr nicht von dir erzählt habe – ich muss das irgendwie wiedergutmachen. Und mach dir um das Geld keine Gedanken. Es ist für alles gesorgt. Du musst nur mitmachen. Bitte, Tine, das ist wirklich wichtig für mich: Spiel die Braut!«

Die letzten Worte kommen so flehentlich, dass sie hervorragend zu dem unglaublichen Dackelblick passen, den Jan nun aufsetzt.

»Natürlich will ich dich nicht hängenlassen – aber was meinst du denn mit Es ist für alles gesorgt? Von wem denn? Ich will hier nicht noch mehr Schwierigkeiten bekommen.«

Jan blickt zu Boden. »Das wirst du nicht. Versprochen.«

»Jan! Raus mit der Sprache! Wer soll das bezahlen?«

Er seufzt und überlegt einen Moment.

»Die Wahrheit – oder ich mach nicht mit«, sage ich. »Ich lege nämlich keinen Wert darauf, wegen Zechprellerei Bekanntschaft mit der polnischen Polizei zu machen.«

»Na gut. Oma hat mir fünftausend Euro für die Hochzeit gegeben. Das reicht locker. Selbst in diesem tollen Restaurant mit Sektempfang und Band. Eigentlich hatten die Freitag schon eine Veranstaltung, die ist aber vor zwei Wochen abgesagt worden, und jetzt haben sie mir einen guten Preis gemacht.«

»Oma hat dir fünftausend Euro gegeben? Aber das können wir unmöglich annehmen! Bestimmt dachte sie wieder, du seist Fritz oder von mir aus auch Klaus-Dieter oder Horst oder wer auch immer. Wenn das ihre Söhne jemals rauskriegen, lassen die sie wirklich entmündigen.«

»Nein, sie war völlig klar. Ich musste ihr ja die Geschichte mit dem Nazi-General erzählen, damit sie sich nicht verplappert. Karolina hat mir die ganze Sache nämlich mit Sicherheit nicht abgekauft – die kann ja rechnen. Ich glaube, die hat bisher nur nichts gesagt, um meine Mutter nicht aufzuregen. Jedenfalls war Oma Gerda ganz beschämt, welchen Ärger ich mittlerweile wegen der ganzen Sache habe – tja, und da ist sie auf die Idee mit dem großen Fest gekommen. Auch, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Schließlich kennen sich die beiden schon lange, und Gerda mag meine Mutter sehr. Also, sieh es einfach als von Oma Strelow bezahlte Abschiedsparty von Kolberg. Und ehrlich: Ich finde, die haben wir uns verdient.«

Hm, da hat er mal wieder recht. Meine echte Hochzeit ist ja nun eindeutig wegen Oma ausgefallen, also ist es nur gerecht, wenn ich jetzt wenigstens die Gelegenheit bekomme, mein schönes Brautkleid bei einem anderen angemessenen Anlass vorzuführen. Das schuldet Gerda mir quasi.

»Na gut. Ich bin dabei.«

»Hurra!«, juchzt Jan und macht einen kleinen Luftsprung, bevor er mich umarmt. In diesem Moment taucht Mateusz wieder auf. Er hat ein altes polnisches Hausmittel dabei, mit dem er offenbar den kleinen Zwist zwischen dem Brautpaar ausräumen will. Mit einem freundlichen Lächeln hält er uns zwei Gläser unter die Nase.

»Wodka?«

Flitterwochen
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