23. Kapitel

Guck mal, Frau Samstag, das hab ich für dich gebastelt.« Jan-Ole hält mir ein kleines Buch entgegen, eine Art Fotoalbum. »Mama hat gesagt, damit kannst du jetzt bestimmt gar nix mehr anfangen, aber ich dachte, vielleicht willst du es trotzdem haben. Ich hab mir nämlich echt Mühe gegeben. Weil ich so doof war vor den Ferien.«

Ich nehme das Buch und betrachte es genau. Den vorderen Buchdeckel ziert ein Foto von mir, umrahmt von lauter Herzchen, die wiederum ein großes Herz formen. Außerdem gibt es noch ein paar weiße Tauben, die ihre Schnäbel aneinanderreiben, und ein Bild von einem Marzipanbrautpaar auf einer Hochzeitstorte. Es ist also eine ziemlich monothematische Bastelarbeit, die Jan-Ole da gefertigt hat. Ich schlage das Buch auf. Die erste Seite trägt eine Widmung in krakeliger Schrift:

»Für meine liebe Lehrerin Frau Weltenstein – hier kannst Du alle Fotos von Deiner Hochzeit reinkleben. Dann hast Du sie immer bei Dir.«

Ich muss schlucken. In meinem Hals steckt auf einmal ein riesiger Kloß.

»Danke, Jan-Ole! Das ist wirklich ganz lieb von dir. Das kann ich bestimmt gut gebrauchen.« Irgendwann …

Jan-Ole strahlt, und ich gebe mir Mühe, vor den Kindern nicht in Tränen auszubrechen. Abrupt drehe ich mich zur Tafel und schreibe in großen Buchstaben Ferien an. Dann wende ich mich wieder der Klasse zu, in der Hoffnung, eine feste Stimme zu haben.

»So, die Ferien sind zu Ende. Und ich möchte von euch wissen: Was habt ihr Schönes gemacht? Schreibt mir das auf. Ihr könnt auch etwas dazu malen, wenn ihr wollt.«

Das sollte für mindestens zwanzig Minuten Ruhe sorgen. Pädagogisch zwar nicht besonders wertvoll, aber ich muss mich mal einen Moment sammeln. Heute ist definitiv nicht mein Tag – auch wenn ich vorher schon wusste, dass er mit Sicherheit kein Highlight werden würde. Die Lübecker Nachrichten haben zwar freundlicherweise meinen vollen Namen nicht erwähnt, trotzdem wissen garantiert alle an der Schule, dass ich meine Osterferien doch nicht auf den Seychellen verbracht habe. Und demzufolge auch noch nicht verheiratet bin. Worüber ich mittlerweile froh bin – aber gleichzeitig auch traurig.

Im Lehrerzimmer herrschte heute Morgen verdächtiges Schweigen. Nicht mal die Kinder haben etwas gesagt. Ob sie von ihren Eltern eingenordet wurden, keine peinlichen Fragen zu stellen? Sehr hanseatisch – und sehr seltsam bei Kindern in diesem Alter. Jan-Ole ist tatsächlich der Einzige, der mich auf die Hochzeit angesprochen hat. Immerhin sagt auch niemand etwas zum Bankraub, und alle Kinder sind brav zum Unterricht erschienen. Offenbar glauben die Eltern also an meine Unschuld – einer Schwerverbrecherin würden sie ihre lieben Kleinen wohl kaum anvertrauen. Luisa meldet sich.

»Ja, bitte?«

»Wenn wir Ihnen etwas von unseren Ferien erzählen, erzählen Sie uns dann auch etwas von Ihren?«

Nachtigall, ick hör dir trapsen. Da siegt bestimmt gerade Neugier über vornehme Zurückhaltung. Ich seufze.

»Okay, was willst du wissen?«

Erst lächelt Luisa etwas verlegen, aber dann zielt sie ins Schwarze.

»Wieso heißen Sie denn jetzt doch nicht Weltenstein? Wir haben vor den Ferien bei Frau Goldmann im Kunstunterricht extra ein Schild gemalt, auf dem »Willkommen, Frau Weltenstein« stand. Aber gestern hat Frau Goldmann dann bei uns zu Hause angerufen und Bescheid gesagt, dass wir das Schild heute nicht aufhängen sollen. Mama hat mir dann erklärt, dass Sie immer noch Samstag heißen und deswegen bestimmt traurig sind. Sind Sie traurig?«

»Oh, das sind ja gleich zwei Fragen. Also erstens: Ich heiße immer noch Tine Samstag, weil ich nicht Herrn Weltenstein geheiratet habe. Und zweitens: Ich bin nicht traurig. Na ja, ein bisschen schon. Aber nicht so sehr.«

Die Kinder schauen mich erstaunt an. Jan-Ole wagt sich wieder vor.

»Du bist nicht traurig? Aber man heiratet doch, weil man sich ganz doll liebt und für immer zusammen sein will, das sagt jedenfalls meine große Schwester. Und du wolltest heiraten, also liebst du Herrn Weltenstein sehr. Dann musst du doch traurig sein, wenn das jetzt nicht geklappt hat.«

Kinder bringen es doch irgendwie auf den Punkt.

»Also, ich bin traurig, weil ich mir gewünscht hätte, dass es klappt. Aber in den letzten Tagen habe ich gemerkt, dass es vielleicht doch nicht so gut ist, wenn ich für immer mit Herrn Weltenstein zusammen bin. Und deswegen war es besser, nicht zu heiraten.«

Betretenes Schweigen. Gut, vielleicht war das nicht ganz altersgerecht. Ich versuche es noch einmal anders.

»Manchmal wünscht man sich etwas sehr, was aber eigentlich nicht gut zu einem passt. Also nehmen wir mal an, Jan-Ole will furchtbar gern Kapitän werden. Deswegen machen seine Eltern mit ihm Urlaub auf einem Schiff. Unterwegs stellt Jan-Ole aber fest, dass er ziemlich schnell seekrank wird und es ihm so lange auf einem Schiff gar nicht gefällt. Dann ist er bestimmt ein bisschen traurig, dass er nicht Kapitän wird, aber auch froh, dass er nicht mehr auf See ist.«

Luisa nickt heftig. »Okay, dann waren Sie also froh, von dem Schiff wieder runter zu sein.«

Ich muss lachen.

»Ja, das kann man so sagen. Ich bin jetzt wieder an Land und eigentlich ganz froh darüber.«

»Woran hast du denn gemerkt, dass du mit Herrn Weltenstein seekrank wirst? Und wieso hast du das überhaupt so spät gemerkt? Normalerweise wird einem doch gleich schlecht«, will Lukas wissen.

Himmel, vielleicht hätte ich doch einen anderen Vergleich bemühen sollen. »Na gut, aber Liebe und Seefahrt sind ja auch nicht das Gleiche. Bei der Liebe merkt man manchmal erst etwas später, ob es passt oder nicht. Oder mit wem es passt.«

Luisa seufzt. »Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie bald jemanden finden, der gut passt. Und das dann auch schneller merken als dieses Mal. Nicht dass Sie den Richtigen noch verpassen, wenn Sie so langsam sind wie beim letzten Mal.«

Könnte es sein, dass eine Zehnjährige hier schlauer ist als ich?

 

»Und bist du jetzt tatsächlich schon ausgezogen?«

Svea schaut ungläubig, als ich sie auf den neusten Stand in Sachen Beziehungsstatus Tine Samstag bringe. Wir haben uns nach Unterrichtsschluss in das kleine italienische Café verzogen, in dem es mittags auch immer ein Pastagericht und ein Glas Vino gibt. Eine gute Gelegenheit, ihr das ganze Drama in Ruhe zu erzählen.

»Halbwegs. Ich wohne momentan bei Oma Strelow. Die verkauft gerade ihr Haus – ich kann bleiben, bis die neuen Besitzer einziehen wollen. Oma selbst zieht nächste Woche schon in ein Altenheim nach Kolberg, dann habe ich da so viel Platz und Ruhe wie wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben. Wenn ich eine eigene Wohnung gefunden habe, hole ich meine Sachen bei Alexander ab.«

»Wer in aller Welt ist Oma Strelow?«

»Die ältere Dame, die ich angeblich als Geisel genommen hatte.«

»Bei der wohnst du? Nach all dem Ärger, den du ihretwegen hattest? Ich meine, immerhin ist deine Verlobung wegen der blöden Kuh in die Brüche gegangen. Du musst doch einen tierischen Hals auf die haben!«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Eigentlich bin ich ihr dankbar. Das mit Alexander und mir wäre nicht besonders lange gutgegangen. So ist es besser. Das habe ich gerade noch rechtzeitig gemerkt.«

»Ja? Woran denn? Alex war doch gar nicht mit.«

Ich zögere einen Moment. So richtig ausgesprochen habe ich es noch nie.

»He, Tine, nun sag schon! Oder ist das irgendwie ein Geheimnis?«

»Nein. Ist es nicht. Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt. Daran habe ich es gemerkt.«

Jetzt ist es raus. Und es fühlt sich überraschend gut an, es zu sagen. Svea steht der Mund offen.

»Ein anderer Mann? Wo kommt der denn auf einmal her? Einen Tag vor deiner Hochzeit?«

»Der Pfleger von Oma Strelow. Er hat uns auf der Flucht nach Polen begleitet, er ist selbst Pole.«

»Du tauschst einen hanseatischen Finanzhai gegen einen polnischen Krankenpfleger? Donnerwetter, das nenne ich mal Idealismus.« Svea kichert, und ich merke, wie ich richtig sauer werde.

»Ich habe Alex nicht ausgetauscht. Ich bin mit Jan schließlich gar nicht zusammen. Und was für eine Rolle spielt sein Pass bei der Sache? Ich habe mich in ihn verliebt, und das hat mir klargemacht, dass ich Alexander offensichtlich nicht richtig liebe. Sonst wäre das nicht passiert. Deswegen war eine Trennung richtig.«

Beschwichtigend hebt Svea die Hände. »Ist ja gut – ich wollte dir nicht zu nahe treten. Aber ich habe das ja alles nicht mitbekommen. Entschuldige, dass ich so blöd frage.«

»Schon gut. Ist nur gerade nicht mein Lieblingsthema. Ich wünschte auch, es wäre anders gekommen und ich wäre nicht seekrank geworden.«

»Seekrank?«

Ich lächle. »Ach, vergiss es.«

Sveas Nase kräuselt sich, so dass ihre Sommersprossen in kleinen Kratern verschwinden. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Weiter? Gar nicht. Jan ist in Polen, und ich bin hier. Ende der Geschichte. Erst mal jedenfalls.«

»Habe ich was verpasst? Gibt’s den Eisernen Vorhang wieder? Seit wann bist du denn so zögerlich?«

Schulterzucken meinerseits. »Weiß nicht. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war Jan auch nicht gerade wild entschlossen.«

»Hat er denn mitbekommen, dass ihr euch getrennt habt, Alexander und du?«

»Ich glaube nicht.«

»Tja, dann bist du leider darauf angewiesen, dass er eine Kristallkugel hat. Oder aber, du sagst es ihm.«

 

Später, als ich in meinem kuscheligen Gästezimmer auf dem Bett liege, geht mir wieder durch den Kopf, was Svea gesagt hat: Jan bräuchte tatsächlich eine Kristallkugel, um zu wissen, was bei mir gerade los ist. Aber was ist, wenn es für ihn gar nichts ändern würde? Gut, wir hatten es unterwegs sehr schön miteinander. Nur heißt das leider noch nicht, dass es im Alltag genauso wäre. Er hat seinen Job in Stettin, ich meinen in Lübeck – so richtig zusammen kämen wir da nicht. Andererseits … was hat Luisa gesagt? Nicht dass Sie den Richtigen verpassen.

Es klopft an die Tür, kurz darauf steckt Gerda ihren Kopf ins Zimmer. »Ich koche mir einen Kaffee, Butterkuchen habe ich auch noch. Möchtest du auch etwas?«

»Danke, nein. Mir ist gerade nicht so nach Kuchen.«

Gerda kommt herein und setzt sich neben mich auf die Bettkante. »Das Herz?«

Ich nicke. »Irgendwie schon. Was ist, wenn ich Jan gerade verpasst habe?«

Gerda sagt erst nichts, dann nickt sie bedächtig. »Wie ich darüber denke, weißt du ja. Du musst etwas tun.«

Erst Luisa, dann Svea, und Oma sagt es ja sowieso schon die ganze Zeit: Heute scheinen sich alle einig zu sein.

»Oma?«

»Ja?«

»Hast du seine Adresse?«

Flitterwochen
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