4. Kapitel
Wieder im Haus, stolpere ich fast über einen jungen Mann, der genau in diesem Moment die Treppe aus dem oberen Stockwerk herunterkommt. Das wird wohl der ominöse Jan sein. Hübsches Kerlchen – braune, lockige Haare, dazu grüne Augen, vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Vom Alter her also eher der Enkel als der Sohn von Oma Strelow. Um nicht über mich zu fallen, legt er eine Vollbremsung hin und mustert mich neugierig.
»Hallo. Wer sind Sie?«
Melodische Stimme, klingt allerdings ein bisschen ungewöhnlich, als ob der Typ kein Muttersprachler ist.
»Das Gleiche wollte ich Sie auch gerade fragen. Sind Sie vielleicht ein Enkel von Frau Strelow?«, frage ich hoffnungsvoll. Denn wenn dem so ist und man mit dem Typen vernünftig reden kann, dann könnte ich die ganze Angelegenheit unter Umständen jetzt unglaublich abkürzen. Ich könnte ihn überzeugen, mit seiner Omi zur Polizei zu marschieren und Opa Heinzi anschließend selbst in die Ostsee zu streuen. Doch leider schüttelt Grünauge den Kopf. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn heute mal irgendwas klappen würde.
»Nein, ich bin Jan. Jan Majewski. Ein … äh … Freund der Familie.«
»Ach so. Ich bin Tine Samstag und habe Frau Strelow nur ganz zufällig getroffen und …« Bevor ich mit meiner Erklärung noch weiterkomme, taucht Frau Strelow neben uns auf. Unter ihrem Arm klemmt etwas, das wie eine kleine, bauchige Vase mit Deckel aussieht. Das wird doch nicht etwa die Urne sein?
»So, Heinzi habe ich schon mal. Dann kann es jetzt losgehen. Jan, wir fahren nach Pommern. Du kommst mit.«
Falls der Typ jetzt überrascht sein sollte, kann er es gut verbergen, denn er verzieht keine Miene. »Gut, ich hole nur eben meine Jacke.«
»Aber beeil dich, die Polizei ist hinter uns her.«
Jan nickt und verschwindet. Seine Gelassenheit lässt mich vermuten, dass er im Hauptberuf Fluchtwagenfahrer ist, oder irgendwas in der Richtung. Eine Minute später steht er wieder neben mir, und tatsächlich hat er sich eine Jacke über sein schwarzes T-Shirt gezogen.
»Okay, kann losgehen.«
Ich seufze, gehe vor und öffne, beim Micra angekommen, die Türen. Jan hilft Oma Strelow, mitsamt den Überresten von Opa Heinzi in den Fond einzusteigen. Dann setzt er sich neben mich auf den Beifahrersitz. Ich lasse den Motor an.
»Also, erst mal Richtung Rostock, oder?« Ich sehe Jan auffordernd an. Schließlich scheint er in den Plan von Oma Strelow ansatzweise eingeweiht zu sein.
Er nickt. »Genau.«
In den nächsten zehn Minuten sagt niemand ein Wort. Im Rückspiegel kann ich sehen, wie Oma gedankenverloren die Urne streichelt. Sie wirkt völlig abwesend. Ich räuspere mich, sie reagiert nicht. Okay, vielleicht eine gute Gelegenheit, diesem Jan mal etwas auf den Zahn zu fühlen.
»Sagen Sie mal, wundern Sie sich gar nicht über unseren spontanen Ausflug?«
Er guckt mich an und grinst. »Ach, Frau Strelow hat manchmal seltsame Ideen. Kennen Sie sie näher?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Ich bin ihr heute zum ersten Mal begegnet.«
»Ach so. Wissen Sie, sie ist eben sehr alt und hat ab und zu solche … äh …« Er scheint nach einem Wort zu suchen. »Anfälle. Genau, sie hat manchmal Anfälle. Da darf man sich nichts bei denken. Das mit der Polizei zum Beispiel ist typisch. Frau Strelow denkt oft, dass sie verfolgt wird. Man darf dann nicht widersprechen, sonst regt sie sich furchtbar auf. Deswegen habe ich auch nichts gesagt. Besser, wir fahren einfach eine Runde mit Opa spazieren, dann beruhigt sie sich schon wieder.«
Eine schöne Idee. Sie hat nur einen Haken.
»Wir werden tatsächlich von der Polizei verfolgt.«
Jan macht große Augen. »Oh! Wirklich? Warum?«
»Frau Strelow hat eine Bank überfallen. Gewissermaßen. Sehen Sie die Plastiktüte zu Ihren Füßen?«
Jan nickt. »Klar. Warum?«
»Da dürften ungefähr zwanzigtausend Euro drin sein. Grob geschätzt. Es war jedenfalls ein ziemlicher Haufen.«
Jan beugt sich vor, hebt die Tüte hoch und lugt vorsichtig hinein. »Wow! Und Sie haben ihr dabei geholfen?«
»Ja. Äh, ich meine: Nein. Also, na ja, irgendwie schon.«
Jan pfeift. Es klingt anerkennend. »Also, ihr beiden Mädchen habt eine Bank überfallen.«
»Nein. Haben wir nicht. Ich jedenfalls nicht. Und Frau Strelow auch nicht. Das Geld gehört schließlich ihr. Aber es sah so aus, weil ich eine Waffe dabeihatte.«
»Sie hatten eine Waffe dabei?«
»Ja, aber keine echte. Nur die Spielzeugpistole von Jan-Ole.«
»Wer ist denn Jan-Ole? Ein weiterer Komplize? Respekt, dann war das ja ein richtig großes Ding! Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Es war eben kein großes Ding. Es war gar kein Ding. Es war ein ganz blöder Zufall. Oma Strelow kann das bestätigen. Und das wird sie auch tun, sobald wir Opa Heinzi in die Ostsee gestreut haben. Danach fahren wir nämlich flugs wieder nach Lübeck, marschieren in die nächste Polizeidienststelle, Oma macht ihre Aussage, und ich fliege auf die Seychellen.«
Jan lacht. »Wer will denn in die Südsee, wenn er die polnische Ostsee haben kann?«
Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu, dann schüttle ich den Kopf. »Erstens: Die Seychellen liegen nicht in der Südsee, sondern im Indischen Ozean. Und zweitens – wieso Polen?«
»Na, ich dachte, wir wollen nach Kolberg.«
Langsam beschleicht mich ein ganz dummes Gefühl. Ich räuspere mich. »Also, Frau Strelow sagte Pommern. Liegt Kolberg denn nicht in Mecklenburg-Vorpommern?«
Jetzt lacht Jan wieder. »Nein. Kolberg heißt mittlerweile Kołobrzeg und liegt in Polen. Ist aber, ehrlich gesagt, schon seit ein paar Jahren so.«
»Scheiße!«, entfährt es mir sehr laut.
»Ungewöhnlich, dass Ihnen das so nahegeht«, sagt Jan. »Soweit ich weiß, wird diese Grenze von der deutschen Außenpolitik voll und ganz akzeptiert.«
Ich sehe ihn kurz an. Er grinst, und ich gucke wieder nach vorn und sage: »Dieses Kolberg oder Kołobrzeg, oder wie auch immer das heißt, kann von mir aus sonst wo liegen. Solange ich da nicht hinfahren muss. Ich dachte, wir kriegen das hier locker in zwei, drei Stunden über die Bühne. Aber daraus wird dann wohl nichts. Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Ich schlage mit der Hand auf das Lenkrad.
»Okay, also, wir brauchen wahrscheinlich so ungefähr fünf Stunden. Bis wir angekommen sind, ist es dunkel – wird heute also schwierig mit unserer Seebestattung.«
»Nein!«, rufe ich. »Das geht nicht! Ich muss heute zurück nach Lübeck. Mein Verlobter wartet doch auf mich, wir haben noch nicht mal gepackt, und übermorgen früh geht unser Flieger. Und der fliegt nicht nur auf die Seychellen, sondern auch in meine Zukunft. Wenn ich den verpasse, dann geht meine Welt unter. Dann kann ich Ostern nicht am Strand von La Digue heiraten. Und dann verpasse ich den Mann meines Lebens.« Ich fange an zu weinen. Plötzlich kann ich vor lauter Tränen kaum noch etwas sehen. Ich bremse, fahre auf den Seitenstreifen und halte an. Jan legt eine Hand auf meine Schulter.
»Schh, schh, nicht weinen! Wir finden bestimmt eine Lösung. Ich habe eine Tante in der Nähe von Kolberg, da können wir sicher übernachten. Wenn wir morgen dann gleich ganz früh loslegen, könnten wir mittags schon wieder in Lübeck sein. Dann kriegen Sie Ihr Flugzeug noch.«
Ich schniefe laut. »Und wenn nicht?«
Jan zuckt mit den Schultern. »Also, schlimmstenfalls heiraten Sie Ihren Traummann dann ganz normal in Deutschland. Davon wird das Glück Ihrer Ehe schon nicht abhängen. Hm, was meinen Sie?«
Ob mich Jan für völlig gaga hält, wenn ich ihm nach der Geschichte mit dem Bankraub jetzt noch erzähle, dass die Hochzeit unbedingt zur Osterzeit im Ausland stattfinden muss, weil mir das so geweissagt wurde? Dass ich nur so den Mann fürs Leben heiraten kann? Wobei – vielleicht sind Polen ja generell abergläubisch, und Jan hätte großes Verständnis für mein Problem. Ich wische mir noch einmal die Tränen von den Wangen und mustere ihn verstohlen. Nein, Jan sieht aus wie ein ganz normaler junger Mann, also kann ich ihm die Geschichte unmöglich erzählen. Nicht einmal Alexander weiß etwas davon. Dass die Sache mit den Seychellen trotzdem seine Idee war, beweist, dass die Karten nicht lügen. Hoffe ich jedenfalls.
Jan räuspert sich. »Hallo? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
»Äh, ja, ja. Ich hoffe, Sie haben recht.«
»Na ja, die andere Möglichkeit ist, dass wir zurückfahren und gucken, ob sich das Missverständnis nicht auch so aufklären lässt.« Jan dreht sich um und guckt über seine Schulter. »Oma schläft gerade ein bisschen, aber wenn sie wieder wach ist, können Sie doch noch einmal mit ihr darüber sprechen. Wenn sie sich etwas ausgeruht hat, ist sie immer viel klarer im Kopf. Vielleicht werden Sie beide auch gar nicht verfolgt. Wenn es gar kein echter Bankraub war, hat die Polizei das bestimmt schon gemerkt. Ich meine, die haben doch auch Besseres zu tun.«
Ja, das wäre schön, wenn die Besseres zu tun hätten. Mein Telefon klingelt. Alex. Jan reicht mir meine Handtasche, die ich neben die Tüte mit dem Geld gestellt habe. Diesmal finde ich das Teil sofort. Ich atme tief durch und hoffe, dass ich nicht allzu verheult klinge.
»Hallo, Schatz! Du, ich stehe gerade in der Umkleidekabine, das passt jetzt nicht so. Ich melde mich, wenn ich auf dem Rückweg bin, okay?«
Tiefes Einatmen. »Tine, die Polizei war eben hier.«
Hmpf. Offenbar hat die Polizei doch nichts Besseres zu tun. »Echt? Und wieso?«
»Tine! Verkauf mich nicht für blöd! Das kannst du dir doch wohl denken! Weil du eine Bank überfallen hast!«
»Das ist ein Missverständnis, ich habe keine …« Weiter komme ich nicht, Alexander bellt jetzt so laut in den Hörer, dass mir fast das Ohr abfällt und Jan wahrscheinlich jedes Wort mitbekommt.
»Du überfällst eine Bank – und nicht nur das: eine Filiale meiner Bank! Du fliehst und behauptest mir gegenüber, du wollest mal schnell ein Brautkleid in Hamburg kaufen! Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Nimmst du Drogen? Tine, was ist los mit dir? Weißt du eigentlich, was das für meine Stellung bedeutet?«
Wieder schießen mir Tränen in die Augen. Mein eigener Freund glaubt mir nicht. Alexander hält es tatsächlich für möglich, dass ich eine Bank überfalle. Und mehr noch: Am meisten scheint ihn daran zu beschäftigen, dass es eine Filiale der Fargo-Bank war. Das ist eindeutig zu viel für meine Nerven. Ich lege auf und versuche, nicht mehr zu weinen. Jan legt eine Hand auf meinen Arm. »Ihr Freund?«
Ich nicke. Jan klopft auf meinem Unterarm herum. »Das wird sich alles aufklären, bestimmt! Und Ihr Freund ist einfach nervös, der beruhigt sich wieder.« Er reicht mir ein Taschentuch, und ich tröte los wie Benjamin Blümchen. Als ich fertig bin, schniefe ich: »Meinen Sie?«
»Ganz sicher. Die übliche Hochzeitspanik. Völlig normal.«
Ich hoffe inständig, dass Jan recht hat. Obwohl die Worte üblich und völlig normal irgendwie nicht ganz zu meiner Situation zu passen scheinen. Trotzdem versuche ich ein schiefes Lächeln, das Jan erwidert. Dann runzelt er nachdenklich die Stirn.
»Vielleicht sollten Sie aber jetzt trotzdem Ihr Handy ausschalten.«
»Aber dann kann mich Alex doch gar nicht mehr erreichen. Ich bin mir sicher, in einer Stunde tut es ihm leid, und er ruft noch mal an.«
»Bestimmt. Aber wenn er, was ich natürlich nicht glaube, der Polizei Ihre Handynummer gegeben hat, dann bekommen wir vielleicht bald Besuch. Ich habe am Sonntag mit Oma Strelow eine Sendung namens Tatort gesehen, da haben sie als Allererstes versucht, das Handy zu orten.«
Ich schlucke und schalte hektisch mein Handy aus.
»Eine Frage noch: Ist das Ihr Auto?«
»Gefällt es Ihnen nicht? Okay, es ist nicht besonders groß, aber bis Polen kommen wir damit auf jeden Fall.«
Jan schüttelt den Kopf. »Nein, gleiches Problem wie beim Handy. Ich frage mich, ob die Polizei schon danach sucht. Es wäre eigentlich logisch, immerhin sind Sie mit einer Geisel unterwegs.«
Ich überlege kurz. Wo der Mann recht hat, hat er recht …
»Also brauchen wir einen anderen Wagen? Wo sollen wir den denn jetzt so schnell herkriegen?« Ich drehe mich um, weil ich Oma Strelow jetzt am liebsten mal so richtig die Meinung sagen würde, aber die schläft immer noch, und genau genommen würden weder ein kleiner noch ein großer Wutausbruch irgendetwas an meiner Lage ändern.
Jan zuckt mit den Schultern. »Naa«, sagt er gedehnt, »in dieser Tüte ist doch sehr viel Geld, ich würde sagen, wir kaufen schnell einen.«
Nun gehöre ich persönlich ja zu den Leuten, die für große Investitionsentscheidungen ein bisschen Zeit brauchen. Ich würde mir unter normalen Umständen niemals schnell ein Auto kaufen. Aber selbst unter ungewöhnlichen Umständen kann ich mir nicht vorstellen, wie man, sagen wir mal, innerhalb einer Stunde ein Auto kaufen soll. Wie, zum Teufel, soll das gehen? Ich scheine eine gewisse zweifelnde Grundhaltung auszustrahlen, denn Jan klopft mir aufmunternd auf die Schulter.
»Keine Sorge, Autokauf ist Männersache. Ich mach das schon.«
Eigentlich wären jetzt fünf Euro für die Chauvi-Kasse fällig, aber gerade jetzt gefällt mir dieser Spruch ausgezeichnet. Ich seufze. »Okay, wo soll ich hinfahren?«
»In die nächste größere Stadt. Wir sollten nicht länger als nötig mit diesem Auto durch die Gegend fahren.«
»Wir kommen gleich an Wismar vorbei. Da vielleicht?«
Jan nickt. »Ja, am Stadtrand gibt’s bestimmt ein paar Autohändler.«
Und tatsächlich. Kaum von der Autobahn abgefahren, sind wir mitten in einem Gewerbegebiet und kommen auch schon an einem Autohaus vorbei. Ich fahre auf den Hof. Als ich den Motor abstelle, wacht Oma Strelow auf.
»Sind wir schon da?«
Jan dreht sich um. »Nein, Frau Strelow. Noch nicht. Wir müssen uns erst mal ein neues Auto besorgen. Nicht dass wir noch vor der Grenze Ärger mit der Polizei bekommen.«
Oma kichert.
Haha, sehr witzig! Der wird das Lachen noch vergehen, wenn wir übers Osterwochenende erst mal mit dreißig Klein- und Großkriminellen aus der mecklenburgischen Provinz in einer hübschen Gemeinschaftszelle sitzen. Da ist dann nix mehr mit Wasserblick, und zum Diner gibt’s vermutlich Hafergrütze. Wobei man die mit dritten Zähnen bestimmt besonders gut essen kann.
Ich stapfe gemeinsam mit Jan zur Eingangstür des glaswürfelartigen Baus. Es gibt hier anscheinend vor allem deutsche Fabrikate der gehobenen Mittelklasse, und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich die richtige Adresse für uns ist. Jan sind solche Grübeleien offenbar fremd. Schwungvoll reißt er die Tür auf, um mich dann gentlemanlike vorgehen zu lassen. Kaum haben wir die Halle betreten, stürmt er auch schon an mir vorbei.
»Guten Tag, wir brauchen ein Auto!«
Die Blondine hinter dem Tresen zieht die Augenbrauen hoch. Allerdings nur kurz, dann lächelt sie und streicht mit einer schnellen Geste an ihrer aufwendigen Hochsteckfrisur entlang.
»Natürlich, der Herr. Da sind Sie bei uns an der richtigen Adresse. Wir führen nicht nur Neuwagen, wir haben auch ein exzellentes Jahres- und Gebrauchtwagensortiment. An was hatten Sie denn gedacht?«
Jan hebt die Hände. »Ach, egal. Hauptsache, schnell.«
Blondie strahlt. »Da haben wir auf alle Fälle das Richtige für Sie! Gerade erst reingekommen: ein Audi A6. Fährt locker 250 km, danach riegelt er allerdings ab. Ein richtiges Geschoss, ich habe ihn gestern mal Probe gefahren. Und das Ganze zu einem Spitzenpreis von nur 18000 Euro. Wollen wir uns den gleich mal ansehen, der Herr?«
Entgegen meiner Erwartung klärt Jan das Missverständnis nicht auf, sondern nickt freundlich und murmelt etwas, das die Blondine wohl als Zustimmung deutet. Jedenfalls kramt sie unter dem Tresen einen Autoschlüssel hervor. Grrr, frag einen Mann, ob er ein schnelles Auto fahren will! Okay, ich gebe zu, ich wollte mich in das Verkaufsgespräch nicht einmischen, und ich bin mir auch nicht sicher, wie viel Geld genau in Omas Plastiktüte ist – es geht mich, genau genommen, auch gar nichts an. Trotzdem bin ich entschieden dagegen, den gesamten Inhalt der Tüte hier und jetzt auf den Kopf zu hauen. So wie sich die Dinge momentan entwickeln, könnte es schließlich sein, dass wir später noch mal sehr glücklich sein werden über ein bisschen Bargeld. Ich räuspere mich.
»Nein, ich glaube, da haben Sie meinen Bekannten falsch verstanden. Wir suchen kein schnelles Auto, wir suchen schnell ein Auto.«
Irritiert wendet sich die Verkäuferin mir zu. »Wie meinen Sie das?«
»So wie ich es sage: schnell. Im Sinne von: sofort. Ein Auto, das wir gleich mitnehmen können.«
Ein Anliegen, das hier anscheinend selten vorgetragen wird, jedenfalls legt sich Blondies Stirn jetzt in ziemlich tiefe Falten.
»Aber … Sie wollen es doch sicherlich erst mal Probe fahren. Und dann muss ich noch Kennzeichen für die Überführung besorgen – ich glaube nicht, dass ich das heute noch schaffe. Also, ein bisschen Geduld müssten Sie da schon haben. So ein Autokauf will doch auch überlegt sein. Ich meine, ich freue mich ja, wenn Kunden so spontan …«
Offenbar findet Jan, dass es an der Zeit ist für ein männliches Machtwort. Jedenfalls schiebt er mich einfach zur Seite und lehnt sich an den Tresen.
»Vielleicht haben Sie ein Auto, das schon ein Kennzeichen hat? Als Gebrauchtwagen?«
Die Verkäuferin schüttelt energisch den Kopf.
»Nein, also, wir melden die Wagen natürlich immer gleich ab, wenn wir sie bekommen. Vielleicht dauert das auch ein, zwei Tage, aber so einen Wagen darf ich Ihnen jetzt gar nicht mitgeben, der wäre ja noch auf den alten Besitzer zugelassen – also, das geht auf keinen Fall.«
»Auch nicht für, sagen wir, 500 Euro mehr? Der Besitzer muss es doch gar nicht erfahren. Wir könnten das Auto sogar morgen wieder zurückbringen.«
Die Blondine schnappt nach Luft.
»1000 Euro?«, fragt Jan.
»Bedaure. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Vielleicht versuchen Sie es mal mit einem Leihwagen. Die führen wir allerdings nicht. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Sie bedenkt uns mit einem eisigen Blick und dreht sich um.
Als wir wieder im Auto sitzen, macht Jan seinem Ärger Luft. »Also, in Deutschland wird man als Pole echt schnell behandelt, als hätte man eine Bank überfallen. Dabei sind Sie die Bankräuberin, nicht ich.«
»ICH HABE KEINE BANK ÜBERFALLEN!!!«
»Von mir aus. Ich aber auch nicht. Aber genau so hat sie mich behandelt. Blöde Kuh. Dabei hatte ich nur eine kleine Bitte. Ach, ihr Deutschen seid einfach zu bürokratisch.«
Jetzt muss ich kichern.
»Klar. Genau, wie ihr alle Ganoven seid. Und Autoschieber.«
Jan schluckt kurz, dann grinst er. »Okay, wir sind quitt!«
Oma Strelow beugt sich nach vorne. »Haben wir denn nun ein neues Auto oder nicht?«
»Noch nicht ganz. Wir arbeiten dran.«
Interessant. Wenn Jan mit Oma spricht, bekommt seine Stimme einen ganz warmen Klang. Er scheint sie wirklich zu mögen. Die beiden sind ein seltsames Gespann. Ich lasse den Motor an.
»So, und wo suchen wir jetzt?«
»Hm, vielleicht fahren wir einfach mal diese Straße lang. Es muss hier doch auch so was geben wie einen Platz für alte Autos.«
»Sie meinen einen Schrottplatz?«
Er nickt. »Genau. Danke. Mir fiel das Wort nicht ein. Schrottplatz. Richtig. Vielleicht sind die da nicht ganz so streng.«
»Ihr Deutsch ist übrigens phänomenal.«
»Oh, danke! Ich habe Germanistik studiert und unterrichte als Dozent an der Uni. Also, eigentlich. Momentan passe ich ja auf Frau Strelow auf. Und was machst du … äh, ich meine, was machen Sie so?«
Ich muss grinsen. »Kannst ruhig beim Du bleiben. Wer gemeinsam auf der Flucht ist, kann sich Förmlichkeiten auch schenken. Ich bin Lehrerin.« Ich will das gerade näher ausführen, als Jan plötzlich »Halt!« schreit. Vor Schreck trete ich auf die Bremse, und der Micra kommt mit quietschenden Reifen zum Stehen.
»Was’n los?«
»Da drüben!«
Er zeigt nach schräg links. Tatsächlich. Ein Band mit bunten Wimpeln flattert in der Luft. Darunter ein Schild: Auto Sultani. An- und Verkauf. Bargeld sofort.