9. Kapitel
So, Tine, jetzt lernst du den engsten Familienkreis kennen«, sagt Jan und deutet schwungvoll auf die Meute, die mich weiterhin schweigend und ziemlich unverhohlen mustert.
Ach so, das ist jetzt nur der engste Familienkreis. Wenn der ganze Clan zusammenkommt, dann müssen die wahrscheinlich ein Fußballstadion mieten. Jan beginnt eine launige Vorstellungsrunde, vermutlich will er so das Eis brechen.
»Małgorzata, Leszek und Karolina kennst du ja schon.« Karolina guckt mich etwas mitleidig an, ihr Mundwinkel zuckt. Ui, die kann ja lächeln! Wer hätte das gedacht?
»Neben meiner Schwester«, fährt Jan fort, »sitzt Wojtek, ihr Mann. Die beiden Racker links sind – ey, Jungs, Finger aus der Nase! – Kamil und Kacper, meine Neffen. Der alte Griesgram dahinten ist Onkelchen Bogumił, er ist Priester und damit sozusagen das geistige Oberhaupt der Familie – ein Onkel meines lieben Vaters, Gott hab ihn selig.«
Bogumił, ein bärtiger älterer Herr in salopper Freizeitkleidung, aber mit weißem Kragen, guckt mich zwar etwas glasig, aber nicht unfreundlich an. Jan legt sich ins Zeug und rattert weiter, die polnischen Namen fliegen mir nur so um die Ohren. Die kann ich mir unmöglich alle merken. Cousinen und Cousins, Neffen, Nichten, Schwippschwager und wer weiß was noch alles.
Ich schüttele ganz viele Hände, sage »Angenehm, angenehm«, und dann rückt die Gesellschaft noch weiter zusammen, um uns Platz zu machen. Zum Glück sitze ich neben Jan, rechts von mir Bogumił, Karolina in halbwegs sicherem Abstand.
»Spricht hier außer deiner Schwester noch jemand Deutsch?«, flüstere ich Jan ins Ohr.
»Nur noch Wojtek«, raunt Jan zurück. »Er ist Internist und hat ein paar Semester in Berlin studiert.«
Irgendwie bin ich ganz erleichtert. So kann ich mich wenigstens ungestört mit Jan unterhalten und muss nur aufpassen, wenn Karolina und ihr Mann in der Nähe sind. Jetzt wendet sich Bogumił an mich und fragt irgendetwas.
»Onkelchen will wissen, ob du katholisch bist«, hilft Jan weiter.
»Äh, ich bin Protestantin. Also, streng genommen war ich Protestantin, ich bin nicht mehr in der Kirche.«
Jan übersetzt, und Bogumił schaut sehr betrübt aus der Wäsche. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen. Vor lauter Verlegenheit nehme ich einen großen Schluck aus dem Wasserglas, das vor mir steht – und spucke das Gesöff fast quer über den Tisch. O Gott, was ist das denn?
Jan grinst mich an. »Wodka!« Dann erhebt er sein Glas und sagt irgendwas auf Polnisch, woraufhin die ganze Familie ihr Glas erhebt und alle »Na zdrowie!« brüllen. Na, das kann ja ein lustiger Abend werden …
Tante Małgorzata serviert das Essen, irgendwas Fischiges mit Kartoffeln und Soße, ein eher frugales Mahl. Da hatte ich eigentlich mehr erwartet. Jan bemerkt, dass ich etwas lustlos auf meinem Teller herumstochere, und wispert mir ins Ohr: »Morgen ist die Fastenzeit zu Ende, dann wird’s besser.«
Aha, das lässt hoffen. Denn wenn ich auf der Suche nach Oma Strelow weiter so rumrennen muss, brauche ich früher oder später was Anständiges zwischen die Kiefer.
Die Tischrunde wird lauter und fröhlicher, auch Onkelchen Bogumił spricht dem Wodka zu, und jedes Mal, wenn ich anstandshalber an meinem Glas nippe, füllt er es sofort wieder auf. Von dem ungewohnten Schnaps-Konsum wird mir ganz leicht und schwummrig zumute, und langsam finde ich es dann doch etwas schade, dass ich mich mit niemandem unterhalten kann.
Nach und nach löst sich die starre Tischordnung auf, die Gäste spielen Bäumchen, wechsel dich, und auch ich verlasse meinen Platz und setze mich wagemutig neben Karolina.
»Das finde ich ja toll von deiner Tante, dass sie trotz Renovierungsstress so viele Verwandte einlädt!«, eröffne ich das Gespräch.
»Meine Tante will renovieren?« Karolina sieht mich erstaunt an.
»Äh, ich glaub schon. Also, die Spiegel hat sie ja schon alle abgedeckt.«
Karolina prustet los – und dann übersetzt sie meine Vermutung lauthals für alle Anwesenden. Es folgt ein Ausbruch der Heiterkeit, man könnte fast meinen: Jans Familie lacht mich aus. Was hab ich denn nur gesagt?
»Entschuldige«, Karolina grinst mich an, »aber das ist wirklich lustig. Tante Małgorzata hat die Spiegel verhängt, weil Karfreitag war. Das ist ein alter religiöser Osterbrauch. Es geht um Beten – nicht ums Wändestreichen.«
Ach so! Na ja, das kann ich alte Atheistin doch nicht wissen. Peinlich berührt nehme ich noch einen kleinen Schluck Wodka, und dann lässt Karolina einen wahren Fragenhagel auf mich niederprasseln.
»Sag mal, wie lange kennst du meinen Bruder eigentlich schon? Und wie habt ihr euch kennengelernt? Bleibt ihr länger in Kolberg? Hast du Urlaub? Was machst du eigentlich beruflich?«
Mist, vielleicht war es doch keine so gute Idee, Smalltalk mit Jans Schwester zu machen. Tapfer ignoriere ich ihre ersten Fragen und sage: »Ich bin Lehrerin. An einer Grundschule in Lübeck. Und du?«
»Na, so ein Zufall! Ich bin auch Lehrerin, in Belgard. Allerdings an einem Gymnasium. Mathematik und Deutsch.« Sie schaut mich leicht abschätzig an. Klar, da kann ich natürlich nicht mithalten. »Du hast mir aber immer noch nicht erzählt, woher du Jan kennst!«
Hilfe, die ist aber hartnäckig! Fieberhaft krame ich in meinem Hirn nach einer plausiblen Geschichte.
»Ich, also, äh … wir haben mal zusammen, äh …«, Karolina schaut mich fragend an.
»Ja, was habt ihr zusammen?«
»Also, wir haben mal in der Disko …«
»Ihr habt euch in der Disko kennengelernt? Da ist Jan doch noch nie gern hingegangen, das ist ja mal was Neues.«
Mist. Ich kenne Jan einfach überhaupt nicht. Wie soll ich da eine halbwegs plausible Geschichte zusammenschrauben?
»Nein, also nicht wirklich in der Disko. Es war vielmehr so, dass wir … äh …«
In diesem Moment kommen mir Karolinas Jungs zu Hilfe. Die liegen nämlich ineinander verkeilt auf dem Boden und versuchen gerade, sich gegenseitig die Nasen blutig zu hauen.
»Kamil! Kacper!« Mit einem Aufschrei stürzt Mutti sich auf ihre Brut und trennt sehr resolut die beiden Streithähne. Ich nutze die Gelegenheit und schleiche möglichst unauffällig zu Jan zurück. Bevor ich mit ihm absprechen kann, was um Himmels willen ich auf Karolinas Fragen antworten soll, erhebt sich die Gesellschaft, und plötzlich herrscht allgemeine Aufbruchstimmung.
»Okay, Tine, jetzt geht es in Bogumiłs Kirche«, sagt Jan. »Nimm auf alle Fälle deine Jacke mit, dort ist bestimmt nicht geheizt.«
Hä? Was passiert denn jetzt schon wieder?
»Wir müssen zur Swieconka«, sagt Jan, »das ist ein Gottesdienst, bei dem das Essen fürs Frühstück am Ostersonntag gesegnet wird.«
Diese Polen halten einen ganz schön auf Trab mit ihren Oster-Feierlichkeiten!
»Aber ich dachte –«, wende ich ein, als Jan mir eine Jacke in die Hand drückt und ich von den anderen mit nach draußen gedrängt werde. Mir wird erneut schwummerig, und bevor mir wieder einfällt, was ich einzuwenden hatte, werde ich auch schon in einen der Mittelklassewagen bugsiert, die vor der Platte stehen. Jan und ich fahren bei Karolina nebst Anhang mit, die aber zum Glück auch während der Fahrt noch damit beschäftigt ist, ihre kleinen Terroristen zu bändigen, so dass ihr keine Zeit bleibt, noch einmal nachzuhaken. Kamil und Kacper werden mir immer sympathischer.
Kurz hinter Kolberg steuern wir in einem kleinen Dorf auf den Kirchplatz. Hier ist richtig was los. Aus allen Himmelsrichtungen strömen die Gläubigen zum Gotteshaus, alle haben Körbe voller Lebensmittel dabei, die sie segnen lassen wollen. Onkelchen Bogumił hetzt wie von der Tarantel gestochen zu einem Seiteneingang, offensichtlich sind wir etwas spät dran, und er muss sich sputen.
Wir gehen über einen großen Friedhof Richtung Hauptportal, und ich bemerke, dass alle Gräber mit bunten Blumen geschmückt sind. Bei näherer Betrachtung sehe ich allerdings, dass sie gar nicht echt sind, sondern entweder aus Plastik oder Stoff. Egal, es sieht trotzdem sehr hübsch aus. Ich werfe einen Blick auf die Grabsteine – jede Menge Majewskis und Lewandowskis, aber auch ein paar Kotlarskis und Brzeszinkis. Und dann, etwas weiter hinten, die Treptows, die Kaufmanns und tatsächlich: die Strelows. Ob das engere Familie von Gerda ist? Ich gehe einen Schritt näher an den Grabstein heran – kein Fritz, sondern eine Hedwig. Wenn Oma hier wäre, könnte ich sie fragen, aber so … Nein, falsch. Wenn Oma hier wäre, wären wir jetzt nicht hier!
Die Kirche ist schon gerammelt voll. Vor dem Altar ist ein riesiger Tisch aufgebaut, auf dem die Gemeindemitglieder ihre Körbe abstellen. In der letzten Bankreihe ist noch ein wenig Platz, wir quetschen uns alle zusammen, und ich habe mehr Körperkontakt zu Kamil, als mir lieb ist. Der klettert nämlich einfach auf meinen Schoß und kuschelt sich an mich. Ich denke an die amtliche Fahne, die ich von dem vielen Wodka mit Sicherheit habe – hoffentlich bekommt das arme Kind keine Alkoholvergiftung.
Die Orgel beginnt zu brausen, und Onkelchen Bogumił betritt den Ort des Geschehens. In seiner schwarzen Soutane und mit dem weißen Rauschebart sieht er jetzt richtig ehrfurchtgebietend aus.
Der Gottesdienst ist ungefähr so, wie ich ihn mir vorgestellt habe – nur zehnmal so lang. Ich weiß schon, warum ich sonst nie in die Kirche gehe. Es wird gesungen, es wird gebetet, zwischendurch spricht Onkelchen warme Worte. Allerdings verknüpft er die Angelegenheit mit einem Fitnessprogramm, das für mich als Ex-Protestantin ungewohnt ist: Stehen, knien, stehen, knien, sitzen, dann wieder sehr lange knien, gleich darauf stehen – ich komme ganz schön ins Schwitzen und bin erstaunt, wie mühelos die vielen älteren Leutchen bei dem Tempo mitkommen.
Bogumiłs Stimme schwankt zwischen freundlich, beschwörend und streng. Ich verstehe natürlich kein Wort, bin aber sowieso damit beschäftigt, Kamil davon abzuhalten, unseren Vordermann an den Haaren zu ziehen. Ganz zum Schluss besprenkelt Bogumił mit einer Art Besen die Speisen, und schließlich ziehen wir gemeinsam singend aus der Kirche.
Zurück in Kolberg, bin ich hundemüde und ganz froh, dass sich die Familienversammlung jetzt auflöst. Aber Onkel Leszek zwingt mich, in der Küche noch einen letzten Wodka mit ihm zu trinken.
Als ich endlich im Bett liege, denke ich, dass ich ja gern noch mit Jan an unserer Legende gestrickt hätte – bestimmt ist Karolina morgen wieder wissbegierig –, aber Jan schnarcht bereits auf dem Sofa vor sich hin. Und ganz sicher lasse ich mich von Tante Małgorzata kein zweites Mal dabei erwischen, wie ich nachts ihrem Neffen nachstelle! Morgen früh ist auch noch Zeit dafür.
Wie der Mensch sich irren kann. Der nächste Tag beginnt damit, dass mir ein feuchtes Etwas ins Gesicht fliegt, das meine süßen Träume abrupt beendet. Erschrocken öffne ich die Augen und starre in die feixenden Gesichter von Kamil und Kacper, die mit großer Freude und einem nassen Waschlappen versuchen, mich zu wecken. Es ist ihnen gelungen.
Benommen taumle ich aus meinem Kabuff und sehe mit Entsetzen, dass sich die komplette Sippschaft schon wieder am Frühstückstisch im Wohnzimmer versammelt hat. Ach du meine Güte, ich habe wohl verschlafen!
Schnell husche ich ins Bad, begnüge mich mit einer Katzenwäsche und geselle mich ordentlich gekämmt und angezogen zu den anderen. Das weiße T-Shirt und die neue Unterhose leisten mir wertvolle Dienste – in Małgorzatas Schlüpfern in Konfektionsgröße 46/48 hatte ich mich doch ein bisschen unwohl gefühlt. Heute werde ich von allen schon so herzlich begrüßt wie ein vollwertiges Familienmitglied, und deshalb lasse ich mich auch ganz ungeniert neben Wojtek plumpsen und lange, wie die anderen, ordentlich zu.
Das Osterfrühstück ist eine wahre Völlerei, schließlich ist ab heute, wie mir Jan erklärt hat, die offizielle Fastenzeit vorbei. In der Mitte der Tafel prangt ein Lamm aus Zucker, drum herum liegen bemalte Ostereier, es gibt Schinken, anderen Aufschnitt, den ich nicht kenne, und – ha! – da sind sie endlich, die polnischen Würste. Und sie sind genau, wie Jan versprochen hat: verdammt lecker!
Feierlich nimmt Wojtek ein Ei, pellt es und gibt mir eine Hälfte davon. Dazu wünscht er mir noch viel Glück und eine gute Gesundheit. Ich bedanke mich artig. Das ist bestimmt wieder so ein polnischer Brauch, und Glück kann ich auf alle Fälle gebrauchen.
Nach dem Frühstück gelingt es mir endlich, mit Jan ein paar Worte unter vier Augen zu wechseln. »Wir müssen Oma Strelow suchen«, zische ich ihm zu, während wir die Teller in der Geschirrspülmaschine verstauen. »Deswegen sind wir hier. Nicht, um mit deiner Familie Ostern zu feiern.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortet Jan leicht genervt. »So war das ja auch nicht geplant. Aber was soll ich machen?«
»Ja, ich weiß«, sage ich, »die sind ja auch alle echt nett. Trotzdem: Wie kommen wir denn jetzt mal für ein paar Stunden raus?«
Jan überlegt kurz, dann hat er die zündende Idee. »Ich sag einfach, dass ich dir noch das Kurviertel zeigen muss. Weil du eine alte Tante hast, die überlegt, ihren Lebensabend in Polen zu verbringen, wegen billiger und so. Und in Kolberg gibt’s extrem viele Altersheime und Seniorenstifte.«
»O Mann«, stöhne ich. »Was ist das denn wieder für eine Geschichte? Das glaubt uns doch kein Schwein! Können wir nicht einfach sagen, dass wir ein bisschen spazieren gehen?«
»Nee«, entgegnet Jan trocken, »denn dann will garantiert einer mitkommen. Oder Karolina versucht, uns Kamil und Kacper aufs Auge zu drücken, weil frische Luft für Kinder ja so gut ist.«
Also tischt er seiner Verwandschaft die nächste unglaubliche Story auf, und alle nicken verständnisvoll. Nur Karolina runzelt die Stirn. Die glaubt uns natürlich kein Wort! Mit dem Versprechen, zum Abendbrot zurück zu sein, gelingt uns ein einigermaßen eleganter Abgang.
Das Kurviertel von Kolberg ist ziemlich groß, imposante Gründerzeit-Villen wechseln sich mit den hier offensichtlich obligatorischen Plattenbauten ab, es gibt zahlreiche Hotels, die ihr Angebot ganz auf ihre gebrechliche Kundschaft abgestimmt haben – mit Thermen, Ergotherapie und Massage-Praxen.
Wieder stromern Jan und ich durch die Straßen, er fragt Passanten aus und erntet nur Schulterzucken.
Als ich drei Stunden später kurz vorm Verzweifeln bin, sagt er zögernd: »Tine, es hilft ja alles nichts. Wenn wir Gerda bis heute Abend nicht gefunden haben, müssen wir zur Polizei gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Oma ist zwar ein harter Knochen, aber so langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen, dass ihr doch etwas zugestoßen sein könnte.«
»Wie stellst du dir das denn vor?«, fahre ich ihn an. »Soll ich einfach auf eine polnische Polizeiwache marschieren und sagen: Hallo, ich bin Tine Samstag. In Deutschland haben sie mich wegen Kidnapping und Bankraub zur Fahndung ausgeschrieben. Leider ist mir unterwegs meine Geisel verlorengegangen. Können Sie mir helfen, sie zu finden?«
»Hast ja recht«, seufzt Jan, »das ist keine so gute Idee. Na komm, weiter geht’s. Bis es dunkel wird, dauert es ja noch eine Weile …«
Gefühlte zwanzig Stunden später – meine Füße brennen schon wieder wie Feuer, und wir sind kurz davor, aufzugeben – gelingt uns endlich der Durchbruch! Am Empfang eines dieser Seniorenbunker horcht Jan den Rezeptionisten aus, und der kann sich tatsächlich lebhaft an Gerda Strelow erinnern. Aufgeregt redet der Mann auf Jan ein, und der redet genauso aufgeregt zurück.
Noch aufgeregter zupfe ich Jan unentwegt am Ärmel. »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?«
»Psst, Tine, ich versteh sonst nix.«
Nach ein paar Minuten breitet Jan freudestrahlend die Arme aus. »Stell dir vor«, ruft er, »Gerda war hier und hat sich nach einem Platz in einem Seniorenwohnheim erkundigt. Der Herr vom Empfang konnte ihr zwar selbst keinen Platz anbieten, hat sie aber mit einer Liste möglicher Häuser versorgt, und dann ist sie losgedackelt.«
»Her mit der Liste!«, schreie ich.
Jan wedelt triumphierend mit einem Zettel, allerdings gerät sein Grinsen etwas schief. »Also, das sind ungefähr fünfundvierzig Adressen. Die müssen wir abklappern.«
»Hauptsache, wir haben endlich eine konkrete Spur!«, rufe ich erleichtert.
»Die werden wir heute aber nicht mehr alle schaffen. Dafür ist es schon zu spät.«
»Nix da! Das ziehen wir jetzt in einem Rutsch durch, und wenn es die halbe Nacht dauert!«
»Tine!« Jan rollt mit den Augen. »Nun komm mal wieder runter! Wir können doch zu dieser vorgerückten Stunde keine alten Leute mehr aus dem Bett klingeln. Die jagen uns doch vom Hof.«
»Aber …« Ich sehe ein, dass er da recht haben könnte. Also beschließen wir, noch ein gutes Stündchen weiterzumachen und dann zu Tante Małgorzata zurückzufahren. Wir schaffen in dieser Zeit gerade mal zehn Altenheime, aber in einem davon erinnert sich die Leiterin nur allzu genau an Oma.
Schnippisch erklärt die Dame uns, dass Frau Strelow ihr Haus offensichtlich nicht zusagte, obwohl es doch eine der ersten Adressen der Stadt sei. Aber nicht nur, dass sie an allem etwas auszusetzen gehabt habe, auch noch ein Probeessen habe sie verlangt – umsonst!
»Das ist Gerda, wie sie leibt und lebt!«, freut sich Jan.
Obwohl wir unsere Suche abbrechen müssen, kehren wir stark euphorisiert in den Schoß der Familie zurück.
»Soo«, sagt Karolina zur Begrüßung gedehnt, »war euer Ausflug nett? Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, ihr seid frisch verliebt. Ihr benehmt euch ja wie die Turteltauben!«
Jetzt wird Jan puterrot, und ich bekomme einen hysterischen Lachkrampf. Onkelchen Bogumił eilt mir mit einem Glas Wodka zu Hilfe, und ich überbrücke den peinlichen Moment, indem ich es auf ex herunterkippe.
Wir setzen uns an den gedeckten Tisch – das wird langsam zur Gewohnheit, nur gut, dass ich mir die ganzen Kalorien tagsüber wieder ablaufe – und stürzen uns auf das Essen wie ausgehungerte Wölfe. Die Runde ist heute Abend noch ausgelassener und lauter als gestern, und der Wodka fließt in Strömen.
Zu späterer Stunde, gegessen wird nicht mehr, nur noch getrunken, kramt irgendein Vetter dritten Grades aus einer Ecke eine alte Klampfe hervor und stimmt ein fröhliches, wenn auch ziemlich schräges Lied an. Alle singen lauthals mit und klatschen im Takt, Tisch und Stühle werden beiseitegerückt.
»Darf ich bitten?«, fragt Jan.
»Ja, äh, was denn?«
»Um ein Tänzchen natürlich!«
Dann wirbelt er mich auch schon herum, und wir hüpfen wie die Bekloppten über Tante Małgorzatas Parkett. Irgendwann lande ich sogar in Bogumiłs Armen, der für sein Alter noch erstaunlich gelenkig ist, quasi der Fred Astaire unter den polnischen Priestern und – tätschelt der da etwa gerade meinen Po? Bevor ich mir ernsthaft Gedanken machen kann, ob ich dem alten Herrn auf die Finger hauen soll, fliege ich auch schon quer durch den Raum zu Jan zurück. Im allgemeinen Getümmel drückt er mich ganz fest an sich. »Nicht dass du hinfällst!«, sagt er leise und zwinkert mir zu.
Mittlerweile habe ich schon ganz schön einen im Kahn, harte Sachen kann ich einfach nicht ab, deshalb finde ich auch überhaupt nichts dabei, dass Jan mich festhält. Im Gegenteil, das fühlt sich gerade richtig gut an.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Karolina uns mit Argusaugen beobachtet. Aber das ist mir gerade total egal. Ausgelassen strecke ich ihr die Zunge raus, und Frau Oberlehrerin rümpft die Nase. Die kann mich mal. Prost!
Karolina und Wojtek müssen Gott sei Dank bald los, weil Kamil und Kacper beginnen, Tante Małgorzatas Wohnzimmereinrichtung zu zerlegen, und nicht mehr zu bändigen sind. An den pädagogischen Maßnahmen im eigenen Hause muss Karolina wohl noch ein wenig arbeiten.
Im Laufe der Nacht wird aus den fröhlichen Gesängen ein wüstes Gegröle, und wir haben etliche Schnapsleichen zu beklagen. Ich steige kurzfristig von Wodka auf Wasser um, Onkel Leszek macht mir aber einen Strich durch die Rechnung, weil er die letzte Seltersflasche mit grimmiger Entschlossenheit in die Balkonkästen kippt. Na gut, dann eben nicht.
Um die erhitzten Gemüter zu beruhigen, stimmt der entfernte Vetter ein melancholisches Volkslied an. Jetzt rächt es sich, dass ich so viel Alkohol getrunken habe, denn leider neige ich dazu, im angesäuselten Zustand fürchterlich sentimental zu werden. Kaum erklingen die traurigen Töne, kippt auch schon meine Bombenstimmung. Natürlich muss ich sofort an Alexander denken und an unser letztes Telefonat. Irgendwie fühle ich mich von meinem zukünftigen Mann verraten und verkauft. Okay, er hat allen Grund, sauer auf mich zu sein, immerhin ist unsere Hochzeit geplatzt, aber … ich hätte mir schon gewünscht, dass er trotzdem zu mir steht. Irgendetwas in der Art von Schatz, es spricht zwar alles gegen dich, aber ich liebe dich trotzdem, und ich glaube dir. Oder ein Liebling, egal was passiert ist: Uns kann nichts auseinanderbringen. Auch ein einfaches Kann ich dir helfen? wäre nicht schlecht gewesen.
Ich beobachte, wie Jan seine Tante liebevoll in den Arm nimmt. Der hätte garantiert ganz anders reagiert als Alexander. Jan ist so herrlich unkompliziert. Steigt einfach in Lübeck zu einer Wildfremden ins Auto und kurvt mit ihr nach Pommern, ohne allzu viele dumme Fragen zu stellen. Schwindelt meinetwegen seine Familie an. Hilft und kümmert sich und verliert dabei nie seinen Humor. Und dann sieht er dabei auch noch so gut aus.
Wann habe ich mit Alexander eigentlich das letzte Mal so richtig gelacht? Oder wann haben wir das letzte Mal so ausgelassen getanzt? Fällt mir gerade nicht ein, muss verdammt lange her sein. Ich merke, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und ich immer jammeriger werde. Bevor ich hier vor versammelter Mannschaft losheule, halte ich Onkelchen schnell mein leeres Glas unter die Nase. Er versteht die Aufforderung sofort.
Jan setzt sich zu uns und sieht mir tief in die Augen. »Na, geht’s dir nicht gut?«
»Geht schon«, schniefe ich.
»Nee, ich seh doch, dass du was hast. Was ist denn los?«
»Alex liebt mich gar nicht. Der denkt nur an sein Geld. So ein Mistkerl.«
»Ach, komm, das wird schon wieder. Versprochen! Wenn du willst, rede ich auch mit ihm, wenn wir zurück in Lübeck sind. Das ist ja auch alles ein bisschen meine Schuld. Noch einen Wodka?«
Ich nicke und schniefe, und Jan nimmt mich in den Arm. Ich kuschele mich ein wenig an ihn und wische meine Nase diskret an seinem Pullover ab. So könnte ich jetzt noch stundenlang sitzen bleiben. Vielleicht mache ich das sogar. Ich weiß es nur nicht mehr, denn dann habe ich einen Filmriss.