16. Kapitel
Am Morgen danach bin ich erst einmal völlig orientierungslos. Wo bin ich? Wer bin ich? Was macht dieser schlafende Mann neben mir, dessen Arm bleischwer auf meinem Brustkorb liegt? Nach einem Blick unter die Bettdecke ergibt sich eine weitere Frage: Warum um Himmels willen habe ich nichts an – noch nicht einmal die mintfarbene Modesünde von Tante Małgorzata?
Tante Małgorzata! Stimmt, ich bin bei Tante Małgorzata, im Wohnzimmer, auf der Gästematratze. Ich heiße Tine Samstag – stopp! Ich heiße Tine Maria Majewska, und das schnarchende Etwas, das sich in diesem Moment auf mich wälzt, ist mein mir frisch angetrauter Ehemann.
Das erklärt aber immer noch nicht, warum ich nackt bin. Streng genommen gibt es dafür überhaupt keinen Grund. Denn Jan ist ja gar nicht mein Mann. Und in echt bin ich auch immer noch Tine Samstag und bis heute nicht im sicheren Hafen der Ehe vor Anker gegangen.
Also, was ist hier los?
Ich riskiere einen zweiten Blick unter die Decke. Mein ungutes Gefühl hat mich nicht getrogen: Auch Jan ist nackt. Oh mein Gott! Beziehungsweise: Bitte, lieber Gott, mach, dass das alles ganz harmlos ist und es irgendeine vernünftige Erklärung dafür gibt. Ich finde nämlich, lieber Gott, ich habe noch einen gut bei dir – nachdem ich so fleißig für den Brautunterricht gebüffelt habe!
Krampfhaft krame ich in meinem Kopf nach irgendwelchen Erinnerungsfetzen, die diese Situation erklären würden. Aber da ist: nichts. Absolut nichts. Filmriss nennt man das wohl. Das letzte Bild, das ich klar vor Augen habe, macht die Sache nicht besser. Da sitze ich nämlich kichernd auf Jans Schoß, während er mir zärtlich in die Halsbeuge pustet und ich das gar nicht unangenehm finde. Und dann: Cut!
Mist, Mist, Mist. Es gibt nur einen Weg herauszufinden, was letzte Nacht passiert ist. Ich muss Jan fragen. Wie peinlich. Aber vorher muss ich ihn erst mal wach kriegen. Also stupse ich ihn vorsichtig an. Das hat aber nur zur Folge, dass er extrem zufrieden direkt in mein Ohr grunzt. Ich finde, das geht jetzt wirklich zu weit, und schubse ihn mit Schmackes von mir runter. Benommen öffnet er die Augen und stammelt: »Was? Was denn los?«
Offensichtlich geht es ihm ähnlich wie mir. Verwirrt schaut er sich um, und als er unseren Klamottenhaufen auf dem Boden entdeckt, zieht er hektisch an der verrutschten Decke. Nun ist zwar seine linke Pobacke wieder verhüllt, allerdings liege jetzt ich halb im Freien. Nee, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet! Wir kämpfen um die Decke, zerren sie hin und her, bis Jan auf einmal in schallendes Gelächter ausbricht.
»Was ist denn bitte so komisch?«, raunze ich ihn an.
»Alles«, kichert Jan. »Einfach alles. Was machen wir hier eigentlich?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen. Ich weiß es nämlich nicht. Dieser ganze Wodka hat mein Hirn lahmgelegt, ich bin das Zeug ja auch nicht gewohnt …«
»Ich schon«, grinst Jan. »Aber so richtig weiß ich auch nichts mehr. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass du in der Kneipe vom Stuhl gekippt bist …«
»Ich bin vom Stuhl gekippt? Oh! Und dann?«
»Dann hab ich dich, glaube ich, nach Hause getragen.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung. Dann setzt es bei mir aus.«
Ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn und weiß nicht, ob ich heulen oder auch einfach grinsen soll.
»Duhu, Jahan?«, beginne ich vorsichtig.
»Was denn?«
»Es ist doch nichts passiert, oder? Ich meine, wir haben doch nicht … äh, also, du weißt schon, was ich meine …«
»Ach, Quatsch, dafür waren wir viel zu betrunken. Mach dir mal keine Sorgen!«
»Ehrlich?«
»Klar. Obwohl …«, Jan grinst schon wieder, »wär ja nicht so schlimm. Immerhin sind wir verheiratet. Und du konntest gestern Abend kaum die Finger von mir lassen …«
Sehr witzig, wirklich sehr witzig! Bevor ich kontern kann, schält sich Mister Unwiderstehlich schnell aus der Decke, greift sich Tante Małgorzatas Nachthemd und knotet es sich um die Hüften. Dann entschwindet er Richtung Bad. Das gibt mir zumindest die Gelegenheit, in meine Sachen zu schlüpfen. Iiihh, wie müffeln die denn? Der Geruch liegt irgendwo zwischen Kneipe und Kloake. Ich brauche dringend was Frisches zum Anziehen und beschließe, mir von Tante Małgorzata ein paar Klamotten zu leihen. Schließlich gehöre ich jetzt zur Familie, da kann sie schlecht nein sagen.
Das Frühstück nehmen Jan und ich nahezu schweigend ein, bis Bogumił in die Küche platzt, mir vertraulich zuzwinkert und irgendetwas fragt.
»Onkelchen will wissen, ob du eine schöne Nacht hattest«, übersetzt Jan mit erstaunlich neutralem Gesichtsausdruck.
Ich werde puterrot und stopfe mir schnell ein Stückchen polnische Wurst in den Mund. Damit entfällt eine Antwort. In diesem Moment kommt Karolina mit einer Reisetasche in die Küche.
»Ich hab dir hier mal ein paar Sachen von mir zusammengepackt, aber nur geliehen – Wiedersehen macht Freude.«
»Was für Sachen?«
»Na, was zum Anziehen. Du hast ja weiter nichts dabei. Und so kannst du doch unmöglich im Stella Maris absteigen!«
Stella Maris? Ich muss sie angucken wie ein debiles Pferd, denn jetzt sagt sie betont langsam: »Vil-la Stel-la Ma-ris. Ihr brecht doch gleich nach Misdroy auf.«
Genau, Misdroy, das hatte ich glatt verdrängt. Heute geht’s in die Flitterwochen! Jans Familie hat ja zusammengelegt und uns zur Hochzeit Flitterwochen in einem Luxushotel in Misdroy geschenkt. Also eher Flittertage, wir sind nur zwei Nächte in Misdroy. Wie die Zeit mit Jan wohl werden wird? So richtig zu zweit waren wir schließlich noch nie – entweder wir hatten Oma am Hals oder gefühlte 235 polnische Verwandte. Ein bisschen freue ich mich schon, mal mit ihm allein zu sein. Und dann geht es nach Hause. Komisch, bei dem Gedanken freue ich mich irgendwie nicht ganz so sehr.
Frau Strelow lassen wir während unserer Flittertage in der Obhut von Małgorzata und Leszek. Jan hat seiner Tante eingeschärft, meine Großmutter nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen und sie rundum zu betüddeln. Außerdem fühlt sich Oma hier sauwohl, der Familienanschluss tut ihr offenbar gut.
Jan und ich sind also einigermaßen beruhigt, als wir nach Misdroy aufbrechen und Małgorzata, Leszek, Karolina, Onkelchen und Gerda uns zum Auto bringen. Magda, meine neue Schwiegermutter, ist schon in aller Herrgottsfrühe abgereist, weil es ihr keine Ruhe ließ, dass Tochter und Enkelkind in Stettin ganz ohne ihre Hilfe sind. Also verabschiedet uns nun der Rest der Familie, ich bekomme viele feuchte Küsse und von Karolina immerhin ein freundliches Schulterklopfen.
Oma Gerda drückt mich ganz fest an sich und flüstert mir ins Ohr: »Viel Spaß, Kindchen. Und mach was draus …«
Hä? Wie meint sie das denn?
Jan startet den Motor, und im Rückspiegel sehen wir seine Sippe winken – Tante Małgorzata hat dafür sogar ein blütenweißes Taschentuch gezückt. Wir verlassen Kolberg und zuckeln über die uns bereits bekannte Landstraße gen Misdroy, immer an der Küste lang.
Es ist ein herrlicher Tag – mit einem knallblauen Himmel und strahlendem Sonnenschein. Unterwegs entdecken wir auf den Feldern ganz viele Störche und halten an, damit Jan mit der Kamera, die ihm Leszek mitgegeben hat, ein paar Fotos machen kann. Irgendwie ist es verrückt, aber ich bin tatsächlich ein wenig in Urlaubsstimmung und freue mich auf die freien Tage. Ein bisschen Erholung und Nichtstun haben wir uns nach dem ganzen Chaos echt verdient!
Am frühen Nachmittag trudeln wir in dem beschaulichen Seebad ein. Das Stella Maris haben wir schnell gefunden, es liegt direkt an der Promenade.
»Oh, guck mal! Das ist ja wunderschön!«, rufe ich aus. Ich bin ganz aus dem Häuschen. Das Hotel ist nämlich eine alte Barock-Villa mit einem stilechten Türmchen und sieht von außen einfach zauberhaft aus. Wie ein kleines Märchenschloss.
Von innen ist es fast noch hübscher, denke ich, als wir über knarrende alte Holzdielen zum Empfang gehen, wo eine Dame offensichtlich schon auf uns gewartet hat. »Ah, die Hochzeitsreisenden!«, ruft sie nämlich, als sie uns sieht, und lächelt. Jan erledigt schnell die Formalitäten, unsere Pässe will die Empfangsdame gar nicht erst sehen. Wie sich herausstellt, sind die Besitzer des Hotels mit dem Schwager eines Freundes eines entfernten Cousins von Bogumił bekannt, da erübrigt sich so etwas, wie Jan mir versichert.
Dann führt sie uns in den dritten Stock, öffnet eine große Tür und sagt feierlich: »Bitte sehr, die Piasten-Suite!« Sie zeigt uns alles und klärt uns darüber auf, dass Piasten nichts zu essen sind, sondern ein altes polnisches Königsgeschlecht.
Ich stehe mit heruntergeklappter Kinnlade neben ihr und bringe nur so etwas wie einen Quietschlaut heraus. Die Suite hat ihren Namen wirklich verdient. Es gibt ein großes Wohnzimmer mit frei stehenden Holzbalken, einer winzigen Einbauküche und einer bequem anmutenden Sitzecke.
»Die eine Couch kann man auch zu einem zusätzlichen Bett ausklappen«, erklärt die Rezeptionistin. »Aber das werden Sie ja kaum brauchen.« Sie zwinkert uns leicht anzüglich zu, und ich werde schon wieder rot.
Auch im Schlafzimmer gibt es die schönen alten Holzbalken, außerdem stehen dort zwei Sesselchen und ein großes Bett. Vom hellen, freundlichen Badezimmer können wir direkt auf die Ostsee blicken. Toll! Und hinter einer weiteren Tür verbirgt sich der Clou: ein kleines, schnuckeliges Erkerzimmer, ebenfalls mit Meerblick – das Türmchen, das ich draußen schon bewundert habe, gehört zu unserer Suite! Ich muss schon wieder quietschen, so romantisch ist das hier. Also, sollte ich irgendwann noch mal heiraten, wäre das hier der perfekte Ort für meine Flitterwochen!
Auch Jan ist beeindruckt und pfeift anerkennend. Nach dem kleinen Rundgang deutet die Hotelangestellte noch auf den Wohnzimmertisch und sagt, bevor sie sich diskret zurückzieht: »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt – und: zum Wohl!« Auf dem Tischchen thront ein Sektkühler mit Inhalt, daneben stehen ein Korb mit frischen Früchten und ein Teller mit Konfekt. Herrlich, so kann man’s doch aushalten!
Jan denkt offenbar genauso wie ich, denn er grinst ziemlich zufrieden. Mit einem lauten Plopp entkorkt er die Flasche, schenkt zwei Gläser voll und reicht mir eines. »So, dann wollen wir mal anstoßen«, sagt er vergnügt. »Also: auf uns, auf ein langes glückliches Leben und auf ein gutes Ende dieser Geschichte!«
Unsere Gläser klirren aneinander, wir trinken einen Schluck, und plötzlich pruste ich den Sekt durch das halbe Zimmer, denn Jan drückt mir unvermutet einen dicken Schmatzer auf die Wange.
»Ach Tine«, seufzt er und lässt sich auf das Sofa plumpsen, »hier haben wir’s echt gut getroffen.«
Ich setze mich neben ihn und nippe an meinem Sekt. »Stimmt, das ist wirklich super hier! Aber irgendwie habe ich auch ein schlechtes Gewissen …«
»Warum das denn?«
»Na, das kostet doch bestimmt eine Stange Geld! Das ist so ein tolles Geschenk von deiner Familie. Ich komme mir vor wie eine Betrügerin!«
»Ach was!« Jan winkt lässig ab. »Wie ich die kenne, haben die knallhart einen Spezialpreis ausgehandelt. Außerdem ist Nebensaison, da kann der Schuppen nicht so teuer sein. Nimm’s einfach als Entschädigung für die ganzen Strapazen.«
Wo er recht hat, hat er recht. Also räkele ich mich behaglich in den Kissen und nasche ein paar Weintrauben. »Was machen wir denn gleich noch?«, frage ich träge.
»Bei dem Wetter? Ab zum Strand, würde ich vorschlagen!«, meint Jan.
»Klingt gut.«
Wir trinken die Flasche leer, und als wir Richtung Meer aufbrechen, habe ich schon wieder leichte Schlagseite. Wenn ich zurück in Lübeck bin, muss ich dringend an meinem Alkoholkonsum arbeiten!
Am Strand ist nicht viel los. Wie Jan schon sagte: Nebensaison. Wir lassen uns in den Sand fallen und schweigen behaglich. Ich schließe die Augen und entspanne mich noch mehr.
Als ich sie wieder öffne, ist der Platz neben mir leer. Ich muss wohl ein wenig geschlafen haben. Ich richte mich auf und entdecke Jan unten am Ufer, wo er mit hochgekrempelten Hosenbeinen wie ein Reiher durchs Wasser stakst.
»Was machst’n da?«, rufe ich ihm zu.
»Muscheln sammeln«, brüllt er zurück.
Na klar, was sonst?
Als Jan genug Muscheln hat und ich merke, dass ich mir in der Sonne ein wenig die Nase verbrannt habe, schlendern wir zurück zur Villa Stella Maris. An der Rezeption werden wir von unserer netten Empfangsdame begrüßt wie alte Bekannte: »Ah, da sind Sie ja wieder. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Nachmittag! Ziehen Sie es vor, aushäusig zu speisen, oder soll ich schnell noch einen Tisch in unserem Restaurant reservieren?«
Wir entscheiden uns für die hoteleigene Variante.
»Sehr gern«, sagt die Dame beflissen. »In etwa einer Stunde? Sicher möchten Sie sich vorher noch ein wenig frisch machen …« Schon wieder dieses Augenzwinkern. Nun ist aber mal gut!
Während Jan unter die Dusche hüpft, inspiziere ich erst einmal Karolinas Reisetasche. Sie hat wirklich an alles gedacht: Unterhosen, BHs, eine Jeans, T-Shirts, zwei Pullis und – hui, wie schick – zwei Kleider. Eins ist aus reiner Seide in einem flotten Meergrün und eines aus fließendem Jersey mit Blumendruck. Ganz unten in der Tasche entdecke ich auch Nylonstrümpfe und Pumps. Da wir annähernd die gleiche Größe haben, müsste das tatsächlich alles ungefähr passen. In einer Seitentasche steckt ein Kulturbeutel mit Shampoo, Duschgel, ein paar Schminkutensilien und – Kondomen! Die hat sie doch nicht alle!
Als Jan fertig ist, schlüpfe ich ins Bad. Nach dem Duschen schminke ich mich sorgfältig und entscheide mich für das Teil in Grün. Ich drehe und wende mich vor dem Spiegel – gar nicht so schlecht, Herr Specht! Das Kleid sitzt wie angegossen und macht, nebenbei bemerkt, ein beeindruckendes Dekolleté. Karolinas Pumps sind zwar etwas zu groß, aber für einen Abend wird das schon gehen.
»Wow! Du siehst ja toll aus!« Jan ist sichtlich beeindruckt, als ich hüftenschwingend ins Wohnzimmer schlendere.
Ja, das finde ich auch. Formvollendet reicht er mir seinen Arm, ich hake mich ganz damenhaft unter, und wir stolzieren ins Restaurant. Das trägt den verheißungsvollen Namen La Spezia, und wie wir der Speisekarte entnehmen, gibt es hier neben polnischer Küche tatsächlich auch italienische Spezialitäten. Super, nach der ganzen Würstchen- und Fleischfutterei kann ich wirklich mal wieder eine reelle Nudel vertragen.
Mein Tischherr bestellt zum Essen eine Flasche Rotwein, und während wir uns mit Heißhunger über unsere Pasta hermachen, plaudern wir angeregt über Gott und die Welt. Jan unterhält mich mit lustigen Anekdoten aus seiner Studentenzeit, ich erzähle von meinem Job und gebe die Geschichte mit den Wasserbomben zum Besten. Alles in allem amüsieren wir uns prächtig.
Ganz aufgekratzt beschließen wir deshalb nach dem Essen, dass wir unbedingt noch das Nachtleben von Misdroy erobern wollen. An der Rezeption erkundigen wir uns, wo die In-Crowd denn hier so hingeht. Mittlerweile ist unsere reizende Empfangsdame von einem älteren Herrn abgelöst worden, der sich ratlos am Kopf kratzt und brummelnd zum Telefon greift.
»Nebensaison«, erklärt Jan. »Er muss sich erst mal erkundigen, was überhaupt aufhat.«
Richtig groß ist die Auswahl nicht, aber immerhin versorgt er uns mit zwei Adressen, die sogar in unmittelbarer Nähe des Stella Maris liegen. Zum Glück, denn ich habe keine Jacke an, und als wir vor die Tür treten, bläst uns ein frischer Ostseewind entgegen. Jan, ganz Gentleman, legt fürsorglich den Arm um meine Schulter und wir marschieren los.
Unsere erste Anlaufstelle, der Club Scena, liegt mitten auf der Promenade. Im Sommer steppt hier bestimmt der Bär, aber jetzt ist eher Totentanz angesagt. Uns schallen zwar ohrenbetäubende Techno-Beats entgegen, aber der Schuppen ist fast menschenleer, nur an der Bar sitzen zwei versprengte Gestalten. Wir schauen uns an und machen auf dem Absatz kehrt.
Die zweite Location heißt Dechy. »Das bedeutet Holzbrett«, sagt Jan. Holzbrett? Na, das klingt ja nach einer Supersause. Wir finden den Laden unten an der Seebrücke, und als wir den großen Gastraum betreten, erklärt sich sofort der komische Name. Das Dechy ist eher rustikal, überall stehen einfache Holztische und -bänke, es gibt Säulen mit Holzschnitzereien, und der Boden ist aus einfachen Brettern gezimmert. Wirklich sehr, sehr rustikal!
»Na, gefällt’s dir?«, fragt Jan, während ich mit der Faszination des Grauens zu einer Bühne schaue, auf der ein einsamer Keyboarder sitzt, mit Begeisterung in die Tasten haut und dazu schaurig-schön singt.
»Auf alle Fälle ist hier schon mal mehr los«, antworte ich diplomatisch. Wer weiß, vielleicht haben die Polen ein ganz anderes Verständnis von Nightlife, und ich möchte Jan auf keinen Fall in seiner Nationalehre kränken – da ist er ja eher empfindlich.
Er schiebt mich zu einem der Holztische, an dem noch etwas Platz ist. Bereitwillig rücken die anderen Gäste zusammen, so dass ich mich setzen kann. Dann steuert Jan zielstrebig auf die Holzbar zu und kehrt kurz darauf mit zwei Caipirinhas zurück. O Mann, schon wieder Alkohol!
Mit unseren Tischnachbarn kommen wir schnell ins Gespräch. Besser gesagt: Jan unterhält sich, und ich nicke freundlich dazu, weil ich ja kein Wort verstehe. Plötzlich springen alle auf, reißen ihre Gläser in die Höhe und brüllen etwas. Der Mann, der eben noch neben mir saß, rast zur Bühne und schreit dem Keyboarder etwas ins Ohr. Der unterbricht seinen aktuellen Song, brüllt auch etwas in sein Mikrophon und stimmt den Hochzeitswalzer an. Jetzt ist der ganze Saal auf den Beinen, alle klatschen und zeigen auf Jan und mich.
»Was hast du denen denn erzählt?«, zische ich ihm ins Ohr, während ich krampfhaft weiterlächle. So viel öffentliche Aufmerksamkeit ist irgendwie nichts für mich.
»Nur dass wir in den Flitterwochen sind, mehr nicht«, flüstert Jan unschuldig zurück. »Los, komm, alle wollen, dass wir jetzt tanzen.«
Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Jan zerrt mich Richtung Tanzfläche, und wir wiegen uns im Takt des Hochzeitswalzers, während sich die anderen Gäste an den Rand der Tanzfläche stellen und frenetisch applaudieren. Dann folgt übergangslos eine wilde Polka, und Jan wirbelt mich so herum, dass mir ganz schwindlig wird. Jetzt rächt es sich, dass mir Karolinas Schuhe nicht wirklich passen. Deshalb ziehe ich sie lieber aus und hüpfe in meinen Nylons herum.
Das nächste Stück ist zum Glück etwas ruhiger, ein bisschen klingt es wie die polnische Version von »Ti amo«. Ich schmiege mich an Jan, er hält mich ganz, ganz fest – etwas fester sogar, als es eigentlich nötig wäre. Der Keyboarder scheint ein Mann mit einem Sinn für Romantik zu sein, denn jetzt kommt ein Schmusesong nach dem anderen. Und Jan und ich lassen keinen Engtanz aus. Ich lege meinen Kopf an seine breite Brust und muss zugeben: Jan ist wirklich ein sehr, sehr guter Tänzer. Und dass er mich so fest hält, fühlt sich auch sehr, sehr gut an. Und irgendwie riecht er so gut. Ich vergrabe meine Nase noch etwas tiefer in seinem Hemd. Mmmhh!
Zwischendurch machen wir nur kurze Pausen, um schnell etwas zu trinken. Als ich einmal zur Toilette husche, blickt mir dort aus dem Spiegel eine fremde Frau entgegen. Okay, sie ähnelt noch stark der alten Tine Samstag. Aber sie strahlt, ihre Augen glänzen, und sie hat richtig rote Wangen. Irgendwie sieht sie so … glücklich aus!
Als wir uns zu vorgerückter Stunde von unseren neuen Freunden verabschieden, müssen wir gefühlte hundert Hände schütteln. Wir taumeln in die Nacht, und Jan nimmt mich erneut schützend in seine Arme. »Nicht dass du dich erkältest«, haucht er mir zu. Genau! Ich drücke mich noch etwas dichter an ihn. Einen Schnupfen kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.
In der Villa Stella Maris ist längst Nachtruhe eingekehrt, sogar der Portier macht hinter seinem Tresen ein kleines Nickerchen. Leise schleichen wir an ihm vorbei und erklimmen Hand in Hand die drei Stockwerke zur Piasten-Suite. Jan räuspert sich verlegen und sagt dann leise: »Also, ich mach mir mal die Schlafcouch fertig.«
Mindestens ebenso verlegen entgegne ich: »Äh ja. Ich hau mich schon mal hin, bin hundemüde.«
Als ich mich in die dicken Kissen kuschele, fühlt sich das große Bett ziemlich leer an. Schade eigentlich, immerhin sind wir ja Mann und Frau …