19

Die Seitentür zum Alabama Theatre war unverschlossen. Die Sonne schien draußen so hell, dass einem der Flur drinnen schwarz vorkam. Ich warf einen Blick auf die wenigen Menschen, die an uns vorbeiliefen, und beschloss, dass ich da bleiben wollte, wo sie waren, nämlich draußen.

»Sieht gespenstisch aus da drinnen«, erklärte ich.

»Sei nicht albern«, sagte Schwesterherz. »Und hör mal.«

Ich trat einen Schritt in den Flur, wo ich eine Frau das ›Ave Maria‹ singen hörte. Das war in der Tat nicht furchteinflößend. Genauso wenig war es die Schar von Brautjungfern, die nervös in der Spiegelhalle warteten, als wir die Treppe hinaufkamen. Die Braut stand am Fuß der mit rotem Teppich ausgelegten Stufen, die zur zweiten Etage hinaufführte, und sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden oder in Tränen ausbrechen.

»Was sagst du da?«, meinte Schwesterherz. »Eine Hochzeit!«

Ich hatte vergessen, dass das Alabama Theatre ein beliebter Ort für Hochzeitsfeiern ist, und jetzt, da der Vulcan Park geschlossen war, umso mehr. Alle Hochzeiten, die normalerweise am Vulcanus geplant waren, wurden jetzt in den Botanischen Garten und ins Alabama Theatre verlegt.

Keiner von der Hochzeitsgesellschaft schenkte uns Aufmerksamkeit. Eine Dame im blassgelben Kleid, die offensichtlich für die Inszenierung des Ganzen verantwortlich war, wieselte umher, stellte die Brautjungfern in eine Reihe und glättete die Kleider. Das hier war eine Südstaatenhochzeit mit Reifröcken und allem. Zum Glück verfügt das Alabama Theatre über Flügeltüren und breite Gänge.

»Lächle, Anna«, sagte ein Fotograf, während er sich vor der Braut hinkniete, einer ätherisch wirkenden Blondine mit weit aufgerissenen blauen Augen.

»Ich muss pinkeln«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Und zwar sofort.«

Der Fotograf winkte wie wild. »Mrs Bolin!«

Die Dame in Gelb tauchte auf. »Stimmt etwas nicht?«

»Sie muss zur Toilette.«

»Oh, verdammt. Beeil dich, Anna.«

Anna sah total elend aus. »Ich glaube, ich schaffe es nicht diese Treppen runter.«

»Natürlich schaffst du das. Heb einfach dein Kleid hoch und renn.« Was Anna machte. Die Frau drehte sich zu uns um. »Es kann einfach nicht sein, dass sie ein Gebäude entworfen haben, in dem die Toiletten im Keller sind!« Sie blickte sich um. »Wo ist der Brautvater? Haben Sie den Brautvater gesehen?«

Wir verneinten.

»Verdammt. Er wird voll wie eine Haubitze sein, bevor es daran geht, den Mittelgang entlangzuschreiten.« Sie klatschte leicht in die Hände. »Mädels, habt ihr den Vater der Braut gesehen?«

Keine von ihnen hatte dies. Drinnen hielt die Frau die letzte Note des ›Ave Maria‹ beeindruckend lang aus. Es wurde geraschelt und gehustet, und dann erklangen die vier majestätischen Töne der ›Ode an die Freude‹ von der Mighty-Wurlitzer-Orgel.

»O Gott!« Die Frau schlug sich gegen die Brust. Sie packte die erste Brautjungfer am Arm. »Cheryl, geh so langsam, wie du kannst. Wir müssen Anna Zeit geben, von der Toilette zurückzukommen, und gleichzeitig schauen, ob wir ihren Daddy finden.«

»Mrs Bolin, da drüben sitzt ein Mann an der Theaterkasse«, sagte eine der Brautjungfern. »Ich vermute, das ist er.«

»Das hoffe ich für ihn, sonst kann er sehen, wie er seinen Arsch aus der Schlinge zieht.« Sie zeigte auf den Fotografen. »Holen Sie ihn.« Der Fotograf rannte los.

»Gott, ich liebe Hochzeiten«, murmelte mir Schwesterherz zu. »Und ich bin begeistert von diesen Kleidern, du nicht?«

»Wir kämen in diesen Dingern nicht durch den Gang in Tannehill. Er ist zu schmal.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber mir gefällt, dass jedes eine andere Farbe hat. Sie sehen aus wie ein Strauß Blumen, stimmt’s?«

»Absolut.« Und es war keine lilafarbene darunter. »Ich denke, das ist eine großartige Idee.«

Cheryl, die in Rosa gekleidet war, schritt durch die Flügeltür und dann ganz langsam den Gang entlang. Der Vater der Braut, der ein wenig belämmert aussah, kehrte mit dem Fotografen zurück. Und die Braut kam just in dem Moment die Treppe hochgeschnauft, als die letzte Brautjungfer durch die Tür schritt.

Es war noch Zeit, ihr Kleid zu glätten, den Schleier zurechtzurücken, und dann erklang der Hochzeitsmarsch.

Anna erstarrte. »Ich kann das nicht tun. Ich habe es mir anders überlegt.«

»Das hast du nicht, zum Teufel.« Die Zeremonienmeisterin versetzte ihr einen mächtigen Schubs, der sie mitten in den Gang katapultierte. Zum Glück hielt Anna sich am Arm ihres Vaters fest. Die Anwesenden standen auf, und die Dame in dem gelben Kleid schloss flugs die Tür.

»Verdammt«, sagte Mrs Bolin zu Mary Alice und mir, die wir noch immer an der Treppe standen. »Es dürfte einfachere Wege geben, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Es hat alles hübsch ausgesehen«, sagte ich.

»Huh. Da ist immer noch der Empfang, durch den wir durchmüssen.« Sie ging zu einem Stuhl hinter der Süßigkeitentheke, setzte sich und schloss die Augen.

»Betet sie?«, flüsterte ich Schwesterherz zu.

»Ich weiß nicht, aber ich bin beeindruckt.« Schwesterherz ging hinüber und tippte der betenden Frau auf die Schulter, woraufhin diese zusammenzuckte. Als Schwesterherz sie fragte, ob sie eine Visitenkarte bei sich habe, sagte sie, nein, es brächten sie keine zehn Pferde dazu, eine weitere Hochzeit zu organisieren.

»Aber es geht nur um eine kleine in der Kirche im Tannehill Park.«

Die Frau hob die Achseln und schloss die Augen wieder.

»Sie ist gereizt«, flüsterte Schwesterherz, als sie zur Treppe zurückkam.

»Komm, lass uns jetzt schauen, ob wir Larrys Brille auftreiben können«, sagte ich. »Wie kommen wir von hier in den Umkleidebereich?«

»Ich weiß nicht. Ich bin verwirrt. Letztes Mal kamen wir von der Bühne.« Schwesterherz ging noch einmal zu der Frau hinüber und tippte ihr auf die Schulter. Erneut zuckte diese zusammen. »Wie kommt man von hier zu den Garderoben?«

Die Frau deutete auf die Stufen hinunter in den Keller. »Irgendwo da. Dieser Ort ist ein Labyrinth. Ich habe immer noch das Gefühl, dass uns eine Brautjungfer fehlt.«

»Für wie groß hältst du die Chance, dass wir Larrys Brille unversehrt finden?«, brummte Schwesterherz, als wir die Treppen hinuntergingen.

Die Dame hatte recht. Das Gebäude war wirklich ein Labyrinth. Ganz unten, am Ende der Treppe, war das riesige Foyer mit dem Kamin und den runden Samtbänken, in dem Schwesterherz und ich so viel von unserer Bildung erfahren hatten. Nach drei Vierteln des Weges abwärts machte die Treppe jedoch eine Biege. Dort befand sich ein Absatz mit einer Tür. Ich hatte sie bislang nicht wahrgenommen. Aber heute stand diese Tür offen, und der Gang, der von ihr abführte, war erleuchtet.

»Hier lang«, sagte Schwesterherz. »Ich kann mich nicht erinnern, dass das hier war. Du?« Ich gab zu, dass es mir genauso ging.

Sie hielt an und blickte sich um. »Lass mal sehen. Letztes Mal kamen wir von der Bühne, sodass es da hinten am Ende des Gangs sein sollte. Kommt dir hier irgendetwas vertraut vor?«

Ich schüttelte den Kopf. Es sah einfach nach einem Gang mit einem Haufen Türen aus. »Vielleicht sind hier die Garderoben der Stars. Als das Gebäude gebaut wurde, hatten sie ja auch noch ein Varité.« Ich klopfte leise an einer Tür und öffnete sie. Eine Besenkammer.

»Sie dürften weiter hinten sein, näher an der Bühne.«

Ich schloss die Tür und folgte Schwesterherz ohne die leiseste Angst. Über uns war Anna dabei, jemanden zu heiraten. Hoffentlich jedenfalls. Es war mit Sicherheit eine hübsche Szene auf dieser Bühne, mit all diesen Mädchen in ihren pastellfarbenen Vorkriegskleidern und -hüten. Was wohl die Männer trugen? Ihr Vater hatte einen schmucklosen Smoking angehabt. Ich war schon einmal auf einer dieser altertümlichen Südstaatenhochzeiten gewesen, auf der die Brautführer nachgemachte Konföderiertenuniformen trugen, die manchmal blau waren, weil Grau so farblos wirkte. Aber sie hatten immer Schwerter gehabt. Die Frischvermählten marschierten unter den Schwertern hindurch, während die Fotografen Bilder machten. Echte Schwerter. Was mich wahnsinnig nervös machte. Ein unachtsamer Brautführer, und die Hochzeit wäre nur von kurzer Dauer.

»Hier.« Schwesterherz stoppte, und ich lief direkt in sie hinein. »Verdammt, Maus. Pass auf, wohin du gehst.« Sie zog ihren Schuh zurück, auf den ich getreten war. »Ich denke, es ist einer von diesen Räumen.« Sie deutete mit dem Finger. »Da sind die Treppen, die wir neulich heruntergekommen sind.«

»Vielleicht gibt es da immer noch ein Polizeiabsperrband«, sagte ich.

»Oh, das bezweifle ich. Abgesehen davon schauen wir uns ja nur auf dem Fußboden um.«

Ich nieste. »Himmel, sie sollten hier mal mit Staubentferner über diese Böden gehen. Schau dir diese lustigen Staubmäuse an.« Ich trat beiläufig gegen eines der größeren Staubknäuel, die sich an der Wand breitgemacht hatten. Es flog aber nicht beiseite, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen. Ich beugte mich vor und sah es an.

»Was ist los?«, fragte Schwesterherz.

Ich stieß erneut gegen den gräulichen Staub. Das ganze Ding bewegte sich.

»Was ist das? Eine tote Maus?«, fragte sie. »Gott, da bekomme ich Gänsehaut.«

Ich hockte mich hin und untersuchte, was ich da für eine Staubmaus gehalten hatte. Lange graue Haare, stellte ich fest, die an einem kleinen Stück getrockneter Haut hingen.

»Hast du eine Pinzette dabei?«, fragte ich.

»Wofür? Was hast du vor?«

»Das hier aufzulesen.«

»Warum? Hast du den Verstand verloren?«

»Nein, verdammt. Aber das sieht nach einem Stück von Maurice aus.«

»Dem Grizzlybären?«

»Gib mir eine Pinzette.«

Sie tastete in ihrer Handtasche herum, während sie jammerte, ich hätte nicht mehr alle beisammen, und dass ich die Beulenpest bekäme, weil die von Ratten übertragen würde. Und ich solle sie besser nicht damit anstecken. Gleichwohl reichte sie mir eine Pinzette, wich aber zurück, während ich den Fetzen aufhob und untersuchte. Es würde keines Forensikers bedürfen, um sagen zu können, dass dies ein Stück getrocknetes Fell mit langen, grauen, an den Spitzen silbernen Haaren war.

»Schau«, sagte ich und hielt Schwesterherz die Pinzette hin. »Ich bin mir sicher, dass das Maurice ist.«

Sie fuhr zurück. »Vielleicht wurde jemand skalpiert. Oder das Fell ist von einem Kostüm abgerissen.«

Aber ich wusste, wonach es aussah. Ich stand auf und sah mich um. Das meiste von dem, was ich für Staub gehalten hatte, waren Tierhaare. Es waren auch ein paar Teile dabei, die dem ähnelten, das ich mit der Pinzette hielt.

»Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte ich. »Wenn Maurice umgestoßen wurde, als Dusk entführt wurde, dann könnte sie hier irgendwo sein.«

»Du sagtest doch, laut Bernice habe er ausgesehen, als sei er von einem wilden Tier angegriffen worden.«

Ein Schauer überfuhr mich. »Ich weiß. Vielleicht war es so, dass Dusk sich an dem Bären festgekrallt hat, während man versucht hat, sie aus dem Haus zu schleppen. Vielleicht hat sie auch versucht, ihn auf die Person zu schleudern, die sie da im Griff hatte.«

»O mein Gott, Maus. Ich ruf an, aber sie werden uns für verrückt halten.« Sie griff in ihre Handtasche, um ihr Mobiltelefon herauszuholen. »Bleib du mir aber weg mit diesem Pestbeulenflecken!«

»Legen Sie das Telefon weg, Mrs Crane!«

Schwesterherz und ich fuhren beide hoch. Mr Taylor kam durch den Flur auf uns zu.

»Aber es kann sein, dass Dusk Armstrong hier irgendwo ist. Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte ich.

»Hören Sie, Sie Idiotin. Niemand wird die Polizei anrufen.« Er griff mit seiner Linken nach meiner wie nach Schwesterherzens Tasche. In seiner Rechten hielt er eine Pistole, die ich nicht bemerkt hatte, als er auf uns zugekommen war. Schwesterherz fragte später, wie um alles in der Welt mir dieses Detail hatte entgehen können, und die einzige Begründung, die mir einfiel, war, dass er Lehrer war, und Lehrer tragen keine Waffen. Ha, hatte sie gesagt, das hätte sie schon mal gehört.

Mr Taylor warf die Taschen auf den Boden und reichte mir einen Schlüssel. »Schließen Sie diese Tür auf«, was ich machte. Ich war noch immer nicht sehr verängstigt. Die Dinge hatten noch nicht begonnen, sich zusammenzufügen.

»Beeilung, verdammt. Ich muss zurück und den Auszug auf der Orgel begleiten.«

Verstehen Sie, was ich meine? Niemand bringt jemanden um und rennt dann die Treppe hoch zurück, um den Auszug einer Hochzeitsgesellschaft zu begleiten. Manche Dinge passen einfach nicht zusammen.

Ich bekam die Tür auf. Eine weitere Besenkammer, diesmal mit grünem Teppichboden ausgelegt.

»Nehmen Sie jetzt den grünen Eimer da in der Ecke. Aber flott!«

Ich beeilte mich. Eine Sekunde lang überlegte ich, ob ich mich umdrehen und ihm den Eimer an den Kopf schleudern sollte, aber nur eine Sekunde lang.

»Schlagen Sie diesen Teppich zurück. Darunter ist ein Griff. Ziehen Sie ihn hoch.«

Ich tat, wie er geheißen. Nichts passierte.

»Treten Sie zurück, Sie Närrin. Sie stehen auf der Falltür.«

»Es war keine Zeit, mit ihm darüber zu streiten, dass ich keine Närrin war. Ich trat zurück, hob die Klappe hoch und sah etwas in der Tiefe, was wie ein erleuchteter Raum aussah.

»Klettern Sie nach unten«, lautete der nächste Befehl. Und wieder: »Beeilung!«

Ich klappte die Tür auf, sprach ein kurzes Gebet und ließ mich an einer baumelnden Metallleiter hinab. Es war die Art von Leiter, die Leute mit Schlafzimmern in oberen Stockwerken unter ihrem Bett liegen haben und im Falle eines Feuers an die Fensterbrüstung hängen. Ich schwankte, während ich hinunterstieg.

»Jetzt Sie«, hörte ich ihn zu Mary Alice sagen.

Es war absolut undenkbar, dass Schwesterherz durch diese Falltür passen würde. Und falls es ihr wie durch ein Wunder gelingen würde, sich hindurchzuquetschen, dann waren da noch die Zerbrechlichkeit der Leiter und die achtundsechzig Kilo, die Schwesterherz mehr mitbrachte als ich. Just in diesem Moment berührten meine Füße den mit Teppich ausgelegten Boden. Das war schon mal gut. Wenn die Leiter zerbrechen oder sich lösen würde, würde ich Schwesterherzens Fall abfedern können, ohne zerquetscht zu werden? Ich stellte mich an die Seite, bereit, zu tun, was ich tun konnte. Aber Schwesterherz gelangte ohne Probleme durch die Falltür und die Leiter herab. Mr Taylor kam eilig hinter ihr her. Mit der einen Hand hielt er sich fest, die Pistole in der anderen nach wie vor auf uns gerichtet.

Als ich später darüber nachdachte, kam ich zu der Erkenntnis, dass wir uns, wären wir nicht so erstaunt gewesen über das, was wir hier sahen, auf ihn hätten werfen und ihm die Pistole aus der Hand schlagen können, während er die Leiter herunterkam. Er war weder groß noch jung, und wir waren zu zweit.

Wir standen in einem Matisse-Bild. Ein tief burgunderfarbener Teppich bedeckte den Boden. Darüber lag ein orientalischer Läufer in roten und orangefarbenen Schattierungen. Weitere Läufer hingen an der Wand, und in der Mitte des Raums stand ein runder Tisch mit Büchern, die sich neben einem großen Arrangement aus roten Lilien stapelten. In der Ecke war ein verschnörkeltes Messingbett mit geblümtem Überwurf, und auf diesem Bett lag ein dunkelhaariges, dunkeläugiges Mädchen. Der reinste Matisse, mit Ausnahme der Tatsache, dass das Mädchen an das Bett gefesselt war und Isolierband über ihrem Mund klebte. Dusk Armstrong, die Augen vor Furcht geweitet.

»Mein Gott«, sagte Schwesterherz.

»Hier.« Mr Taylor reichte ihr eine Rolle Isolierband. »machen Sie Ihre Schwester an diesem Rohr fest.«

Die Dekoration des Raums konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns in den Eingeweiden des Theaters befanden. Mr Taylor war es nicht gelungen, alle Rohre zu verbergen. Er hatte sie allerdings rosa angestrichen. »Da drüben in der Ecke«, sagte er.

Schwesterherz nahm das Band, riss ein Stück davon ab und befestigte damit meine Fußgelenke an einem Rohr.

»Beides, Fuß- und Handgelenke. Und fest.« Und zu mir: »Legen Sie die Arme über Kreuz!«

Schwesterherz machte mich vollends an dem Rohr fest. Dann war sie dran. Mr Taylor befahl ihr, ein Stück zurückzutreten, und fixierte auch sie mit Klebeband an einem Rohr, das parallel zu meinem verlief. Er trennte ein Stück Band ab, um es ihr über den Mund zu kleben, dann änderte er jedoch seine Meinung. »Ich lass euch reden«, sagte er lachend. »Mal sehen, ob ihr zwei Hühner was ausbrüten könnt. Man kann euch nicht hören, müsst ihr wissen.«

Dann ging er hinüber zu Dusk, zog ihr das Band vom Mund, küsste sie und sagte: »Du auch, mein Liebling. Ich vergaß, dass ich dir das drangemacht habe. Aber so eine schreckliche Ausdrucksweise auch für eine Dame!« Er drehte sich um und sah uns an. »Gut. Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Der Auszug, Sie wissen ja. Sagen Sie nichts Schlechtes über mich.« Er kletterte die Feuerleiter nach oben, zog sie hinter sich hoch und schloss die Falltür. Wir waren eingesperrt.

Dusk begann zu weinen. »Oh, es tut mir so leid. Wie sind Sie nur hier gelandet?«

»Wir waren auf der Suche nach Larry Ludmillers Brille«, sagte ich. »Ich habe überall im Flur Fell von Maurice gesehen. Sie haben es dort absichtlich verstreut, stimmt’s?«

»Ich habe damit eine Spur hinterlassen. Ich hatte Stücke aus dem Fell gerissen, als Mr Taylor versuchte, mich aus dem Haus zu schleifen.«

Schwesterherz zerrte ohne Wirkung an ihren zusammengeklebten Handgelenken. »Ich war gerade dabei, die Polizei anzurufen, als dieser Irre auftauchte.« Sie unternahm erneut vergebliche Anstrengungen. »Was ist im Übrigen eigentlich los mit ihm?«

»Er ist verrückt. Er sagt, er wolle mich beschützen und dass er mich liebe, seit der Zeit, als ich hierherkam und Dawn beim Miss-Alabama-Schönheitswettbewerb zugesehen habe. O Gott, er hat mir jahrelang nachgestellt, und ich habe es nicht einmal bemerkt.«

»Wusste er denn von Griffin?«, fragte ich.

»Natürlich.« Dusk versuchte sich das Gesicht an ihrem Arm abzuwischen. Das war nicht einfach, da ihre Arme über dem Kopf zusammengebunden waren. »Er habe ihn umgebracht, um mich zu beschützen, sagt er. Und ich bin so dumm. Ich dachte, Day habe ihn ermordet, um mich zu decken.« Dusk gab ein Geräusch von sich, das halb nach Lachen, halb nach Schluchzen klang. »Und sie dachte, ich sei es gewesen, weil ich so große Angst gehabt hatte, dass ich wegen der Heirat mit ihm ins Gefängnis müsste.«

Ich blickte Mary Alice an, aber die schien in Gedanken versunken. Würde sie mir zutrauen, einen Mord zu begehen? Würde sie jemanden umbringen, um mich zu beschützen? Das würde sie, resümierte ich, wenn die Situation lebensbedrohlich wäre. Aber das mit Griffin Mooncloth war eine Sache, in die Dusk aus Dummheit geraten war. Das war nicht lebensbedrohlich. Dass die Schwestern gegenseitig die falschen Schlüsse aus ihrer Situation gezogen hatten, hatte viele Scherereien verursacht, bis dahin, dass ich verhaftet und Larry Ludmiller fast getötet worden war. Und wer weiß, was noch alles passieren würde. Dabei hatten sie sich, wie mir klar wurde, gegenseitig zu schützen versucht.

Meine Hände begannen einzuschlafen. Ich lehnte den Kopf zurück an das Rohr und holte tief Luft. Selbst die Decke, stellte ich fest, war mit dem burgunderfarbenen Teppich bezogen. Mr Taylor hatte jahrelang an dem Raum hier unten gearbeitet, um einen Ort zu schaffen, an den er seine Geliebte holen konnte. O mein Gott.

»›Das Phantom der Oper‹«, sagte ich zu Schwesterherz.

»Ich weiß. Vielleicht stürzt da oben gerade der Lüster in den Spiegelsaal.«

»Er wird uns hier nicht lebend rauslassen«, sagte ich. »Wir haben seine Pläne vermasselt.«

Schwesterherz schien seltsam ruhig. »Er muss uns hier rausholen, um uns zu töten. Oder er bringt Dusk irgendwo anders hin und lässt uns hier zurück. Aber ich wette, dass er uns rausholt. Das ist sein Schlupfwinkel hier.«

Ich fing an zu zittern. »Aber wenn er uns irgendwohin bringt, von mir aus nach Huntsville, uns dann erschießt und in einen Graben schmeißt, sind wir dennoch tot.«

»O Gott«, stöhnte Dusk.

»Aber er hat ein Problem. Er wird uns beide losbinden und die Leiter hoch schaffen müssen. Und die Erste, die oben in dieser Kammer ist, sollte wie der Teufel losrennen. Und das wirst du sein, Maus.«

»Warum ich?«

»Weil ich nicht durch die Falltür passe.«

»Du bist beim Heruntersteigen auch durchgekommen.«

»Da habe ich mich dünn gedacht.«

»Du hast dich dünn gedacht?«

»Das ist ein Teil der östlichen Philosophie. Weißt du noch diesen Kurs, den ich an der Uni belegt habe? Du stellst dir vor, du wärest ein langer Lichtstrahl, und schon kannst du problemlos durch alles hindurchschlüpfen.«

»Und, kannst du dann nicht zurückschlüpfen?«

»Das ist schwieriger. Die Schwerkraft arbeitet gegen dich, wenn es hochgeht. Da ist nicht genügend Geist, um über die Materie zu triumphieren. Aber Mr Taylor wird vor dir die Leiter hochklettern müssen, damit er die Pistole auf dich richten kann. Dann bleibe ich in der Falltür stecken, und du kannst losrennen wie der Teufel.«

Ich jammerte fast so laut wie Dusk. Meine Schwester hatte den Verstand verloren. »Er wird uns beide erschießen.«

»Das bezweifle ich. Er wird zu viel Angst davor haben, dass ich ihm den Zugang zu diesem Raum und zu Dusk blockiere. Du solltest ein paar Minuten haben.«

»Vielleicht könnte ich ihm ja mit irgendetwas aus der Besenkammer eins überbraten.«

Schwesterherz schüttelte den Kopf. »Renn einfach so schnell wie noch nie in deinem Leben. Lauf einfach in Richtung Straße, da die Hochzeitsparty wahrscheinlich schon vorbei sein wird.«

»Rennen Sie«, echote Dusk. »Rennen Sie wie der Teufel.«

Ich hätte meine Hände gerungen, wenn ich das gekonnt hätte. »Es muss einen anderen Weg geben. Ich kann dich nicht in einer Falltür stecken lassen mit einem Wahnsinnigen.«

»Dann sag du mir, was wir machen sollen.«

Das konnte ich natürlich nicht.

Fünf Minuten verstrichen. Zehn. Dusk schloss die Augen und schien zu schlafen. Vielleicht hatte Mr Taylor ihr etwas gegeben. Mary Alice’ Augen waren geöffnet, aber ihr Blick schweifte in die Ferne. Vielleicht stellte sie sich vor, ein Lichtstrahl zu sein. Was mich betraf, so fragte ich mich, ob ich wohl jemals Joanna zu Gesicht bekommen würde. Und Fred würde ich so sehr fehlen.

»Was wird mit Fred passieren?«, flüsterte ich.

»Er heiratet Tiffany.«

»Das ist verdammt noch mal kein bisschen lustig.«

»Dann halt den Mund, und lass mich nachdenken.«

»Denkst du, du bist eine blaue Flamme oder so etwas?«

»Sei einfach still.«

Ich verfiel in Schweigen. Vielleicht sollten wir auf die Rohre schlagen. Aber was hatten wir schon zum Schlagen außer unseren Köpfen. Ich dachte an die Hochzeitsgesellschaft über uns, die nun in das helle Sonnenlicht eines Märztages hinaustreten würde. Zum Empfang fahren würde, vielleicht in den Highland Raquet Club, wo sie mit diesen Reifröcken zu tanzen versuchten. Und der Auszug würde musikalisch umrahmt werden von einem Mann, der irgendwo unter der Straße in einem exotischen Raum drei Frauen gefesselt hielt. »Danke, Mr Taylor«, würden sie sagen. »Es war wunderschön.« Und der Vater der Braut würde ihm ein großzügiges Trinkgeld geben.

Hatte er darüber nachgedacht, was er mit uns anstellen würde, während er an der Mighty-Wurlitzer-Orgel saß? Natürlich. Und jetzt kam er zurück, um welchen Plan auch immer auszuführen. Wir hörten, wie die Falltür aufging, die Leiter eingehängt wurde und diese sich nach unten hin entfaltete.

Schwesterherz und ich blickten einander an, als Mr Taylor die Leiter herunterkam. Er war der am wenigsten böse wirkende Mann, den ich je gesehen hatte: klein, adrett in einen Smoking gekleidet und das schüttere rötliche Haar derart mit Pomade zugekleistert, dass man die Spur jedes einzelnen Kammzinkens sehen konnte. Aber seine Augen straften das sanftmütige, gewöhnliche Äußere Lügen.

»Und was jetzt?«, sagte er. Wir antworteten nicht, sodass er selbst zu einer Antwort fand. »Jetzt muss ich euch zwei Quälgeister loswerden.«

Ich versuchte mir eine Vorstellung davon zu machen, wie ich den Gang entlangrannte. Welcher Weg führte zur Straße? Was, wenn die Türen verschlossen waren?

Er ging zu Dusk hinüber und ließ seine Hand liebevoll ihren Arm hinuntergleiten. »So schön.« Sie rührte sich nicht.

»Sie hasst Sie, wissen Sie«, sagte Schwesterherz. »Sie hat uns erzählt, dass ihr ganz schlecht wird, wenn Sie sie berühren.«

Mr Taylor wandte sich mit verkniffenem Gesicht zu meiner Schwester.

»Sie sind nicht das Phantom der Oper«, fuhr sie fort. »Sie sind nichts als der Ersatzorganist im Alabama Theatre.«

»Halten Sie den Mund, Sie Idiotin.«

»Wie haben Sie mich genannt?«, fragte Schwesterherz.

»Eine Idiotin. Idiotin, Idiotin, Idiotin.« Bei jeder »Idiotin« machte er einen Schritt vorwärts, bis er direkt vor ihr stand.

»Yaaa!«, stieß Schwesterherz einen Kampfschrei aus, während ihr Fuß nach oben schnellte und Mr Taylor den härtesten Tritt, den ich je gesehen habe, zwischen die Beine versetzte. Er fiel wie ein Sack Kartoffeln zu Boden, und schon war sie über ihm und zog die Pistole aus seiner Tasche. »Ich hoffe, ich habe sie dir zerquetscht, du Scheißkerl. Ich hoffe, dass du sie nie wieder benutzen wirst.«

So wie er aussah, standen die Chancen gut, dass sich ihr Wunsch erfüllen würde. In Embryonalstellung würgte er in den orientalischen Teppich.

Dusk wachte auf. »Was?«, fragte sie.

Aber Mary Alice war gerade dabei, mir das Klebeband abzumachen und mir zu sagen, ich sollte eiligst rennen, um Hilfe zu holen. »Sag ihnen, sie sollen irgendetwas mitbringen, um die Falltür zu verbreitern. Keine Chance, dass ich hier rauskomme.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dich losgemacht hast, und wie hast du das überhaupt angestellt?«, fragte ich.

»Weil du schuldbewusst dreingeschaut hättest. Und ich bin nur vorwärts und rückwärts geschaukelt, um das Band zu dehnen.«

Als ich die Stufen hinaufeilte, war sie gerade dabei, mit dem Band, das an mir geklebt hatte, Mr Taylor zu fesseln. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so stolz auf jemanden gewesen.

»Sie hat sich dünn gedacht?«

Fred und ich hatten gerade die Elf-Uhr-Nachrichten ausgeschaltet, in denen wir gesehen hatten, wie Sanitäter Mr Taylor aus dem Alabama Theatre trugen. Er war in eine Decke gewickelt, als sie ihn rausbrachten, aber man konnte sehen, dass er selbst auf der Bahre noch in Embryonalstellung verharrte.

Ich dämmerte an Freds Schulter. Wir lagen aneinandergekuschelt im Bett. Er mochte Tiffany heiraten, wenn ich einmal nicht mehr war, aber verdammt noch mal, ich würde ihr etwas hinterlassen, was sich lohnte.

»Sie sagt, sie habe das in einem Kurs über östliche Philosophie gelernt. Man stellt sich vor, ein silberner Lichtstrahl zu sein, eine blaue Flamme oder etwas Ähnliches, und man kann direkt durch die Dinge hindurchgleiten.«

»Ich glaube nicht ein Wort davon«, sagte Fred. »Ich bin mir sicher, dass Mr Taylor sie durch die Falltür gestoßen hat.«

»Aber sie war dennoch großartig. Hat sich aus dem Band gekämpft und kein Wort gesagt. Und ich hatte keine Ahnung.«

Wir lagen eine Weile ruhig da. Draußen war der Märzwind aufgefrischt, und an den Jalousien tanzten die Schatten. Ich war kurz vor dem Einschlafen, als Fred sagte: »Weißt du, Liebling, so fest hätte sie ihn nicht treten müssen.«

Ich lächelte. Und dann sank ich in den Schlaf.