18

Zwei Dinge passierten am nächsten Morgen: Larry Ludmiller erlangte das Bewusstsein, und Dusk Armstrong verschwand. Das mit Dusk erfuhr ich von Mitzi, die herübergerannt kam, kaum dass sie mich von meinem Spaziergang mit Woofer hatte nach Hause kommen sehen.

»Sie ist seit gestern weg«, sagte Mitzi leicht außer Atem. »Flora Gibbons hat mich gerade angerufen und es mir erzählt. Sie haben die Polizei angerufen und alles, und Flora sagt, dass Bernice ganz außer sich sei vor Sorge.«

»Mein Gott, ja, das glaube ich. Ich habe gestern Nachmittag mit Bernice gesprochen, und da sagte sie, dass sie nicht wisse, wo Dusk sei. Sie hat sich da aber noch keine Gedanken gemacht, sondern einfach gedacht, sie sei irgendwo. Sie war ganz aufgebracht darüber, dass der große Grizzlybär, der in ihrem Eingangsfoyer steht, umgestürzt war.« Ich erinnerte mich plötzlich an etwas. »O mein Gott, Mitzi, sie sagte, der Bär habe ausgesehen, als sei er von wilden Tieren angegriffen worden.«

Mitzi und ich setzten uns an den Küchentisch und schauten uns an.

»Wilden Tieren?«

»Das hat sie gesagt.«

»Das klingt eindeutig nicht gut, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es klingt danach, als habe es einen höllischen Kampf in dieser Eingangshalle gegeben.«

»Während Dusk entführt wurde.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. Aber ich konnte mir vorstellen, dass Mitzi richtiglag. Obwohl Dusk sehr klein war, war sie eine hervorragende Athletin. Sie hätte jedem Möchtegern-Angreifer einen ordentlichen Kampf geboten.

»Irgendwie hängt das alles zusammen«, sagte Mitzi. »Ich sehe aber nicht, wie, du vielleicht?«

Ich stand auf, nahm einen Post-it-Block und einen Bleistift aus der Küchenschublade und setzte mich wieder. Jeder Lehrer lernt im Erstsemester etwas zum Thema Anschauungsmaterial, erklärte ich Mitzi, bevor ich mich an die Arbeit machte.

»Das ist Griffin Mooncloth«, sagte ich, schrieb seinen Namen auf den ersten Zettel und klebte ihn auf den Tisch.

Mitzi nickte. »Mal ein X darauf. Er ist tot.«

Ich malte ein X darauf. Dann schrieb ich »Dusk« auf einen Zettel und klebte ihn direkt unter den von Griffin. Der von Day landete auch dort. Dann schrieb ich »Larry«, »Tammy Sue«, »Buddy« und »Olivia« und befestigte die Post-its auf dem Tisch so, dass Mitzi und ich sie beide gut sehen konnten.

»Okay«, sagte ich. »Lass uns darüber reden.«

»Nun, Larry kann Griffin Mooncloth nicht umgebracht haben, weil der Mörder versucht hat, auch ihn zu töten. Mal bei ihm ein halbes X für halbtot, Patricia Anne.«

Ich malte das halbe X. »Aber Larry könnte es getan haben, und dann hat sich jemand an ihm gerächt.« Ich deutete auf den Namen von Day Armstrong. »Vielleicht sie.«

»Glaubst du, sie hat ihn geliebt?« Mitzi deutete auf Griffins Namen.

»Vielleicht.«

Wir studierten die Namen. Dann sagte Mitzi: »Warum machen wir es nicht so?« Sie verschob drei Zettel nach oben, die von Griffin, Larry und Dusk. »Der Tote, der Halbtote und die Verschwundene. Was ist der Zusammenhang zwischen den dreien?«

»Griffin war mit Dusk verheiratet, und er hat eine Wohnung von Larry gemietet.«

»Hmmm. Und du hast im ersten Semester gelernt, wie man so was macht?«

»Manchmal funktioniert es. Möchtest du Kaffee?«

Mitzi nickte. Ich stand auf und blickte auf die Namen, die auf dem Tisch klebten. Die Antwort war da irgendwo, das wusste ich. Ich konnte sie nur nicht sehen.

In dem Moment klingelte das Telefon, und Mary Alice erzählte mir, dass Larry das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Er lag aber nach wie vor auf der Intensivstation.

»Weiß er, wer ihm den Hieb versetzt hat?« Ich schaute auf die Namen, bereit, einen zu verschieben.

»Er erinnert sich an gar nichts, sagt Virgil. Er weiß nicht einmal mehr, was er im Theater gemacht hat. Ich habe Virgil erzählt, dass ich kürzlich diesen Film auf ›Lifetime‹ gesehen habe, da lief diese Schauspielerin, die sonst die ›Sieben-Millionen-Dollar-Frau‹ spielt, im Supermarkt umher mit lauter Blut auf ihrer Bluse, nur dass sie nichts von diesem Blut wusste, weil sie einen Mantel anhatte und nicht sagen konnte, wer um alles in der Welt sie war, nicht einmal, als ihr Mann kam, um sie nach Hause zu bringen. Es hat Monate gedauert, bis ihr klar wurde, dass er es war, der versucht hatte, sie zu töten. Ihr Ehemann. Wenigstens glaube ich, dass es so war. Es ist also nicht ungewöhnlich, wenn man sich nicht erinnert. Und auf ›20/20‹ habe ich einen Bericht gesehen, wo die Frau einen Unfall hatte und sich überhaupt nicht mehr an ihren Mann erinnerte, sodass er sie ein zweites Mal heiraten musste.« Schwesterherz hielt inne, um Atem zu holen. »Sie sind total glücklich.«

»Weiß Larry, wer Tammy Sue ist?«

»Ich hoffe es. Es wäre doch seltsam, sich mit dem eigenen Mann verabreden zu müssen, oder?«

»Ja, das wäre es. Schwesterherz? Ich hänge jetzt ein und denke über das nach, was du gesagt hast.« Ich legte den Hörer auf die Gabel. »Larry Ludmiller ist aufgewacht«, erzählte ich Mitzi. »Er erinnert sich an nichts.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte sie. »Ich habe diesen Film auf ›Lifetime‹ gesehen …«

Ich schenkte uns Kaffee ein, während ich mir ein zweites Mal die Geschichte über Lindsay Wagners Amnesie anhörte. Komisch, dass keiner von beiden sich erinnern konnte, was am Ende passiert war. Aber irgendwie hatte es mit einem Ehemann zu tun, der nicht gut war.

»Erzähl mir von Olivia«, sagte Mitzi und deutete mit dem Stiel ihres Zuckerlöffels auf deren Namen.

»Ich habe sie erst ein paar Mal getroffen, aber sie wirkte nicht sympathisch. Sie ist ganz offensichtlich in Buddy Stuckey verliebt, der ihre Gefühle aber nicht erwidert.« Ich gab einen Teelöffel voll Zucker in meinen Kaffee und rührte ihn um. »Tammy Sue meinte gestern allerdings, dass es Olivia gelingen könnte, ihn zu zermürben. Ihm so lange auf der Pelle zu sitzen, bis er sich an sie gewöhnt hätte und sie sich auf Dauer in sein Leben schieben könnte.«

Mitzi nickte. »Genau das ist meinem Bruder passiert. Seine Frau hat sich ihm wie eine Laus in den Pelz gesetzt, noch bevor er mit der Highschool fertig war. Wohin auch immer er ging, war sie schon da. Er hatte keine Chance.«

»Ist er glücklich?«

»Ich denke, dass er das ist. Er lehnt sich einfach zurück und lässt sich von ihr anbeten.«

»Es gibt alle möglichen Ehen, stimmt’s?«, sagte ich und dachte an die von Marilyn und Charles Boudreau, die »eine Lösung gefunden« hatten.

»Gott sei Dank.« Sie tippte mit ihrem Fingernagel auf Tammy Sues Namen. »Was ist mit denen?«

»Mit denen scheint so weit alles okay.« Ich erzählte Mitzi von Tammy Sues Hausfrauenplänen à la Martha Stewart für den Fall, dass Larry genesen würde.

»Das hält vielleicht nicht lange an«, sagte sie feinfühlig. »Ich habe einen dieser Kränze gemacht letzte Weihnachten. Er hat mich ewig Zeit gekostet, und ich habe so viel Stechpalmenzweige aus den Vorgärten geklaut, dass ich nur durch ein Wunder nicht verhaftet wurde.«

Ich erzählte ihr auch, was Tammy Sue über die Haushaltsführung ihrer Mutter erzählt hatte. »Sie sagte, man hätte vom Fußboden essen können und dass sie Virgils Unterhosen gebügelt habe. Ich denke, das hat Mary Alice erschreckt. Falls es nämlich das ist, was Virgil erwartet, ist sie, das weiß sie, in Schwierigkeiten.«

»Huh. Mary Alice braucht sich da keine Gedanken zu machen. Alles, was sie tun muss, ist, in diesen lilafarbenen Stiefeln herumzustolzieren, und Virgil ist glücklich. Jede Ehe ist anders.«

»Richtig.« Wir grinsten uns an.

»Was ist mit diesem Elvis-Imitator hier?« Mitzi deutete auf den Namen von Virgil junior. »Kommt mir ein bisschen seltsam vor, sich die ganze Zeit wie Elvis zu kostümieren.«

»Seltsam zu sein macht Gott sei Dank noch keinen Mörder aus einem.« Ich sah mir den Namen ebenfalls an. »Abgesehen davon hat er kein Motiv.«

»Wie ist es mit den anderen?«

»Day und Dusk sind die Einzigen, bei denen ich ein Motiv erkennen kann. Und wir wissen, dass Day das Messer hatte.«

»Und Larry könnte sie gesehen haben.«

»Das ist das Einzige, was Sinn ergibt«, pflichtete ich ihr bei. Aber selbst in dem Moment, in dem ich dies sagte, zitterte der Zweifel in meinem Gehirn wie die Kurven auf einem Seismogramm. Sie hatte jemanden schützen wollen, als sie das Schnappmesser in meine Tasche steckte. Jemanden, den sie liebte.

Ich griff nach einem weiteren Post-it und schrieb »Bernice« darauf.

Mitzis Augen weiteten sich. »Bernice? Warum?«

»Weil sie ihre Tochter decken wollte. Falls sie gewusst hat, dass Griffin Mooncloth Dusk drangsaliert hat, hat sie ihn möglicherweise um die Ecke gebracht.«

»Auf keinen Fall, Patricia Anne. Sie bringt jeden dritten Sonntag Blaubeermuffins zu dem Kaffee, den wir nach der Kirche miteinander trinken.«

»Wir lassen hier nur den Gedanken freien Lauf, Mitzi.«

»Jetzt pack die wieder weg.« Sie streckte die Hand aus und nahm vorsichtig einen Zettel nach dem anderen vom Tisch. »Das verursacht mir Gänsehaut.«

»Mir auch«, pflichtete ich ihr bei. »Lass uns Haley eine E-Mail schicken. Das Baby bewegt sich.«

»Wirklich? Oh, da ist sie im schönsten Stadium der Schwangerschaft angelangt, wenn man spürt, dass es real ist.«

Und das machten wir dann auch. Als Mitzi gegangen war, sortierte ich die Post-its wieder auseinander und legte sie zurück auf den Tisch. Muffin setzte sich auf meinen Schoß, während ich die Zettel studierte.

»Dusk Armstrong ist verschwunden«, verkündete Schwesterherz, als sie hereinkam.

»Ich weiß. Mitzi hat es mir erzählt. Es ist schaurig.« Ich saß tief in Gedanken versunken im Wohnzimmer, ein offenes Buch in der Hand. Falls mich jemand gefragt hätte, welches Buch ich da las, ich wäre nicht in der Lage gewesen, es zu sagen.

»Vielleicht ist sie abgehauen. Ich war immer schon der Meinung, dass sie in den Mord an diesem Russen involviert ist.« Schwesterherz blickte mir über die Schulter. »Was machst du da?«

»Lesen.« Ich schlug das Buch zu. Tatsächlich hatte ich darüber nachgedacht, was Mitzi und ich besprochen hatten, wie verschieden nämlich jede Ehe ist. »Glaubst du, Mama war glücklich?«, fragte ich.

»Unsere Mama?«

»Natürlich unsere. Glaubst du, sie war glücklich in ihrer Ehe mit Papa?«

»Was liest du denn da?«

Ich hielt das Buch hoch und zeigte ihr, dass es nichts mit meiner Frage zu tun hatte. »Mitzi und ich haben uns über die Ehe unterhalten, und ich habe mich nur gerade an ein paar Dinge erinnert. Dass sie zum Beispiel mal einen Teller nach ihm geworfen hat.«

Schwesterherz lachte. »Sie hat mal einen ganzen Topf Kuhbohnen über ihn gekippt. Erinnerst du dich nicht daran?«

Ich erinnerte mich nicht. »Wo war ich denn da?«

»Wahrscheinlich draußen spielen.«

»Was hat Papa gemacht?«

»Hat einen Großteil der Bohnen abgestreift und sie gegessen.« Schwesterherz kicherte. »Er hatte eine Bemerkung zu viel über ihre Raucherei gemacht.«

»Raucherei? Zigaretten?«

»Draußen in der Garage. Die ganze Zeit. Ich denke, sie hat am Ende deshalb aufgehört, weil es da draußen im Winter zu kalt war.«

»Denkst du dir das jetzt aus?«

»Natürlich nicht. Und mach den Mund zu, Maus. Sie waren normale Menschen wie du und ich. Und ja, ich denke, sie waren die meiste Zeit glücklich. Papa hat ihre Unerschrockenheit bewundert.«

»Mama hat geraucht?«

»Herrgott noch mal, Maus. Was bekümmert dich das jetzt?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Es ist nur, dass es gerade so viele Veränderungen gibt: Du und Virgil, ihr heiratet, Haley und Philip bekommen ein Baby, Marilyn und Charles.«

»Apropos, Virgil und ich hatten eine lange Unterhaltung letzte Nacht.«

»Und?«

»Sie endete damit, dass er Kater Bubba hochnahm und mehrmals auf die Nase küsste.«

»Du machst Witze.«

»Er schwört, dass er Katzen liebt und dass Neena, seine Frau, allergisch gegen sie war. Er sagt, dass sie deshalb auch das Haus so sauber halten musste.«

»Ergibt Sinn. Hattest du lilafarbene Stiefel an?«

Wir grinsten einander an.

»Ich fahre rüber ins Krankenhaus, um nach Larry zu schauen und zu sehen, ob Tammy Sue für eine Weile rauswill. Möchtest du mitkommen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht.«

»Klar willst du. Du sitzt hier sonst nur rum und schrubbst. Zieh was Anständiges an. Ich möchte auch noch bei Parisian vorbeigehen und nach Schuhen schauen.«

»Mama hat geraucht?«, fragte ich erneut, während ich aufstand.

»Lucky Strikes.« Schwesterherz warf ein Kissen nach mir.

»Wie ist es möglich, dass ich das nicht gewusst habe?«

»Selektives Gedächtnis«, sagte Schwesterherz, als wir eine halbe Stunde später die Twentieth Street hinunterfuhren und ich die Frage stellte. »Mach dir deshalb keine Gedanken.« Sie setzte den linken Blinker. »Ich erinnere mich nicht an die Highschool.«

»Wirklich? War die Zeit traumatisch oder so was?«

»Natürlich nicht. Ich erinnere mich nur einfach nicht.«

»Macht dir das nichts aus?«

»Nur wenn ich zu Klassentreffen gehe.« Schwesterherz fuhr langsam die Sixth Avenue hinunter. »Verdammt, ich wünschte, es würde jetzt jemand aus seinem Parkplatz fahren. Ich hasse das Parkdeck.«

Aber mit dem Parkdeck mussten wir uns schließlich begnügen. Wir waren beide außer Atem, als wir den Warteraum der Intensivstation erreicht hatten.

Tammy Sue lag schlafend auf dem Sofa, Tante Maude häkelte, und Buddy, in seinem Elvis-Anzug, blätterte eine Sportillustrierte durch. Tante Maude blickte hoch und legte den Finger auf ihre Lippen.

»Wie sieht es aus?«, flüsterte Mary Alice.

Tante Maude legte ihr Häkelzeug nieder und bedeutete uns, dass wir uns setzen sollten. »Er ist mal da und mal nicht. Sie geben ihm etwas gegen die Schmerzen, damit er schläft. Es ist aber ein normaler Schlaf.«

Buddy verdrehte die Zeitschrift zu einer Wurst. »Das ist es, was ich mit dem Hals dieses Bastards machen werde.«

»Oh, sei still, Buddy. Der Herr erbarme sich unser.« Tante Maude nickte in Richtung Tammy Sue. »Das ist das erste Mal, dass ich sie so fest schlafen sehe.«

Wir setzten uns. Es war ein guter Tag auf der Intensivstation. Außer uns waren nur drei Personen in dem Warteraum.

»Sie sind sicher erschöpft«, sagte Schwesterherz.

»Das bin ich. Buddy bringt mich gleich nach Hause. Wir warten nur noch darauf, dass Olivia aufkreuzt.«

»Und dann gehen wir«, fügte Buddy hinzu.

»Und Larry hat keine Idee, was passiert ist?«, fragte ich.

»Nein. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist, dass er gefrühstückt hat. Er sagte, er habe Pfannkuchen mit Schokoladenchips gegessen.« Tante Maude lächelte. »Er hatte in seinem Leben noch nie Schokoladenchips-Pfannkuchen gegessen, aber der Kripobeamte sagte, dass das gut geklungen habe und er das Rezept gern hätte.«

»Tim Hawkins?«

»Ich erinnere mich nicht mehr. Sie waren zu zweit.« Sie blickte zur Tür. »Da kommt Olivia.«

Olivia sah wesentlich besser aus als am Vortag. Als hätte sie etwas Schlaf bekommen und ein wenig Make-up aufgelegt. Tante Maude deutete auf die schlafende Tammy Sue, und Olivia setzte sich leise hin. »Geht es ihm gut?«

»Er schläft.« Tante Maude stand auf, stopfte das Häkelzeug in ihre Tasche und sagte, sie müsse jetzt nach Hause, bevor sie zusammenbreche.

»Dann lass uns gehen.« Buddy sprang auf. »Ich hole das Auto, und wir treffen uns am Haupteingang.« Er hatte es so eilig, dass er an Tammy Sues Füße stieß.

»Was?«, sagte sie, während sie die Augen öffnete.

»Entschuldige, Schwesterchen. Ich rede später mit dir.« Und dann stürzte er aus dem Wartezimmer. Ich sah zu Olivia, die ihm sehnsuchtsvoll hinterherschmachtete. Ich hatte so ein Gefühl, diese Laus wusste, dass sie sich nicht würde festsetzen können.

Tammy Sue gähnte. »Hallo, ihr alle.«

»Wir sind nur kurz vorbeigekommen, um nach Ihnen zu sehen«, sagte Schwesterherz. »Zu schauen, wie es Larry geht.«

»Er ist bei Bewusstsein. Aber ich weiß, dass Daddy Ihnen das schon erzählt hat.« Sie rieb sich die Augen. »Er erinnert sich aber an nichts. Die Polizei hat ihn schon befragt.«

»Gut. Würden Sie gern für eine Weile hier rauskommen?«, fragte Schwesterherz. »Patricia Anne und ich gehen zu Parisian, um nach Schuhen zu schauen. Es würde Ihnen guttun, ein bisschen herumzuspazieren, frische Luft schnappen.«

»Nur zu!«, drängte sie Olivia. »Ich werde reingehen und Larry einen Besuch abstatten.«

Tammy Sue verhärtete sich. »Das machst du nicht. Nicht ohne mich. Ich will nicht, dass du ihn mit deinen wilden Geschichten, du seist schuld daran, dass er verletzt wurde, aufregst.«

»Nun, vielleicht war es aber so«, sagte Olivia. »Ich wusste, dass Dusk Armstrong was mit diesem Mooncloth hatte. Die beiden hatten einen wilden Streit in seiner Wohnung. Ich habe sie gehört, als ich die Nachbartür öffnen wollte, und dann sah ich Dusk hinausrennen. Wenn ich das der Polizei nach dem Mord erzählt hätte, dann hätte man sie draußen nicht mehr frei herumlaufen lassen, und sie hätte nicht auf Larry einschlagen können.«

»Warum hast du ihnen das nicht erzählt?«, fragte Tammy Sue.

»Das war nicht mein Bier«, lautete Olivias blasierte Antwort.

Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass sich diese Zecke an Virgil junior festsetzt.

Mary Alice trat zwischen die beiden, was eine gute Idee war. »Kommen Sie, Tammy Sue, lassen Sie uns nach unten in die Cafeteria gehen und etwas zu trinken holen. Man trocknet leicht aus, wenn man an einem Ort wie diesem herumsitzt.«

Tammy Sue sagte an Schwesterherz vorbei zu Olivia: »Wenn du da ohne mich reingehst, bringe ich dich um. Und niemand wird mich dafür tadeln. Ich fange mit deinen dürren Zehen an und schneide sie dir einen nach dem anderen ab. Und dann deine Beine und Arme und deine Ohren. Und dann …«

Olivia erbleichte. Tammy Sue zerschnitt sie weiter und war bei den schielenden Augen angekommen, als Mary Alice sie aus dem Raum führte. Eine Frau, die in der Ecke saß, klatschte. »Sei besser vorsichtig, Schätzchen. Ich denke, sie meint es ernst.«

Dieser Ansicht war ich auch.

Das Beste, was man über Krankenhauscafeterien sagen kann, ist, dass sie sich bemühen. Und die Universitätsklinik bemühte sich. Das Essen ist ordentlich, das stolz über der Kasse angebrachte Gesundheitszertifikat bescheinigt annähernd hundert Punkte, aber machen wir uns nichts vor: Das Ambiente wird dem Anspruch nicht gerecht. Fiberglastabletts, Metalltische, Neonlicht, grüne OP-Kittel und weiße Mäntel. Die lieblichste Aufzugmusik der Welt könnte hier nichts ausrichten.

»Vanille-Schoko-Wirbel?« Schwesterherz deutete auf den Frozen Jogurt.

Tammy Sue schüttelte den Kopf. »Nur was zu trinken. Tee?«

»Für mich auch«, sagte ich.

Wir fanden beide einen Tisch am Fenster. Draußen auf der Nineteenth Street bewegte sich der Verkehr zügig. Die Frühlingssonne schien schräg durch das Fenster und zeichnete eine Linie quer über den Fußboden der Cafeteria.

»Ist es warm draußen?«, fragte Tammy Sue.

»Angenehm. Möchten Sie raus und ein bisschen spazieren gehen?«

»Lieber nicht.« Sie nahm eine Papierserviette aus dem Spender und wischte den makellos sauberen Tisch damit ab. »Meinen Sie, Olivia weiß, was sie da redet? Dass Dusk Armstrong Griffin Mooncloth umgebracht und Larry den Baseballschläger übergezogen hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Dann erzählte ich ihr von Dusks Verschwinden.

»Sie hat vielleicht die Stadt verlassen. Ist abgehauen.«

»Möglich.«

»Hier«, sagte Schwesterherz und stellte ein Tablett auf den Tisch. Sie hatte sich einen Frozen Jogurt geholt. »Ich habe mir einen extra Löffel geben lassen, falls Sie doch etwas davon haben wollen«, sagte sie Tammy Sue.

»Der Tee reicht mir. Danke.« Tammy Sue griff nach dem Zucker. »Mrs Hollowell hat mir gerade erzählt, dass Dusk Armstrong abgehauen ist.«

»Gestern anscheinend.« Schwesterherz tauchte den Löffel in den Joghurt, probierte ihn und verkündete, dass wir nicht wüssten, was uns entgehe.

»Hört mal zu, ihr beiden«, fuhr ich fort, »ich habe nicht gesagt, dass sie abgehauen ist. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie entführt wurde.« Ich berichtete erneut von meiner Unterhaltung mit Bernice Armstrong.

»Ein wildes Tier?« Schwesterherz hatte aufgehört, ihren Joghurt zu löffeln.

»Sie haben einen Grizzlybären mit Namen Maurice in ihrer Eingangshalle?« Tammy Sues Tee verharrte auf halbem Weg vor ihrem Mund.

»Er lag am Boden, als habe es einen Kampf gegeben.« Ich machte eine Pause. »Und das ist ein großer, schwerer Bär.«

»Mensch, warum hast du mir das denn nicht eher erzählt, Maus?«

»Ich weiß nicht. Du hast mir von Mama und den Lucky Strikes berichtet, und danach war ich geistig woanders.«

Der Joghurt und der Tee setzten ihre Reise fort. Mary Alice und Tammy Sue sahen mich an, als hätte ich mich irgendwie schuldig gemacht. Ich nahm meinen Tee in die Hand und blickte wieder hinaus auf den Verkehr. Ein weißes Polizeiauto bremste am Bordstein, und eine schwarze Polizistin stieg aus. Bo Mitchell? Meine gute Freundin, die mich hatte verhaften lassen.

Nun, du hattest eine Mordwaffe in deiner Tasche, Patricia Anne, sagte ich zu mir selbst.

Das ist nicht von Bedeutung. Sie kennt mich gut, und sie wusste, dass ich nichts mit einem Mord zu tun hatte.

Aber Gesetz ist Gesetz, und du weißt, dass Bo nicht eines davon zu brechen gewillt ist. Schließlich hat sie vor, irgendwann Polizeichefin zu werden.

Aber sie haben mich festgenommen! Mir wie einer Verbrecherin Handschellen angelegt. Meine Nachbarn haben mich gesehen.

Oh, das haben sie nicht. Niemand hat auf dich geachtet. Die meisten in diesem Viertel können ohnehin nicht weiter sehen als drei Meter.

Ich bemerkte, dass Schwesterherz und Tammy Sue mich anstarrten.

»Sie hat diese dissoziativen Störungen«, erklärte Schwesterherz. »Sie wandert dann geistig zum Haushaltswaren-Schlussverkauf in Geschäfte wie das Bed Bath & Beyond.«

»Was kaufen Sie denn, Mrs Hollowell?«, fragte Tammy Sue freundlich.

»Ich war nicht beim Schlussverkauf. Ich habe nachgedacht.« Ich zeigte aus dem Fenster. »Ich glaube, ich habe gerade Bo Mitchell hereinkommen sehen.«

Schwesterherz leckte ihren Löffel ab. »Die stünde, wenn ich du wäre, auf meiner Liste.«

»Sie hat nur getan, was sie tun musste.« Ich trank meinen Tee und sah hinaus ins Sonnenlicht und auf den Verkehr, auf die Menschen, die die Straße hinuntereilten, und die Krankenwagen, die an der Notaufnahme hielten. Plötzlich sehnte ich mich nach der Robert Anderson High School, in der ich einen Großteil meines Lehrer-Daseins verbracht hatte und die in den 1960er-Jahren ohne Fenster gebaut worden war. Die Jahreszeiten wechselten, es regnete, es schneite, und wir saßen geschützt in diesem Mutterleib. Dort war ich nicht über eine einzige Leiche gestolpert. Ich seufzte. Heute gäbe es gebackenes Hähnchen in der Schulkantine. Ich hatte eine Menge gutes Cholesterin an der Robert Anderson zu mir genommen.

Mary Alice und Tammy Sue waren zu den Hochzeitskleidern übergegangen, was mich aus irgendeinem Grund daran erinnerte, dass ich Haleys Taufkleid heraussuchen und nachschauen musste, ob es in einem einwandfreien Zustand für Joanna war. Aber wollte Philip Joanna überhaupt taufen lassen? Er würde sicher nichts dagegen haben. Schließlich hatte er sich sehr darüber gefreut, vom Papst gesegnet zu werden.

»Hast du Debby eigentlich taufen lassen?«, fragte ich Schwesterherz.

Sie sah mich überrascht an. »Natürlich habe ich das. Weißt du das nicht mehr? Sie hat auf den Priester gekotzt.«

»Das war Debbie? Welche Taufe war es, als es diesen Hagelsturm gab und wir dachten, dass gleich die Fenster zerschlagen würden?«

»Ich weiß nicht. Alans?«

»Hat dein Philip nichts dagegen gehabt, Debbie taufen zu lassen?«

»Natürlich nicht.« Sie wandte sich an Tammy Sue. »Mein zweiter Mann, Philip Nachman, Debbies Vater, war Jude. Ein ganz reizender Mann. Patricia Annes Tochter Haley ist mit seinem Neffen, ebenfalls einem Philip Nachman, verheiratet.«

»Du hast ihm gar nicht erzählt, dass du sie hast taufen lassen, stimmt’s?«

»Himmel, Maus. Wir reden gerade über wichtigere Dinge.«

Sie hatte es ihm nicht erzählt.

Bo Mitchel kam in die Cafeteria, steckte Geld in einen Verkaufsautomaten und zog eine Dose Cola heraus. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie uns und kam verlegen lächelnd zu uns herüber.

»Tut mir leid, Patricia Anne«, sagte sie.

»Das ist Ihr Job.«

»Was für ein Job«, murmelte Schwesterherz.

»Manchmal«, sagte Bo, ohne beleidigt zu sein. Sie deutete mit ihrer Coladose auf Tammy Sue. »Sie sind Mrs Ludmiller?«

Tammy Sue nickte.

»Ich will mich zu Ihrem Mann ans Bett setzen. Vielleicht erinnert er sich ja an etwas, und wir wollen da sein, wenn er das tut.«

Tammy Sue runzelte die Stirn. »Sie sind hier, um ihn zu schützen, richtig? Sie denken, wenn, wer auch immer ihm den Schlag versetzt hat, hört, dass er wieder bei Bewusstsein ist, er erneut hinter ihm her sein wird.«

»Das auch«, sagte Bo. »Es schadet jedenfalls nicht.«

»Oh, das habe ich mal in einem Bericht auf ›Lifetime‹ gesehen«, sagte Schwesterherz. »Da hat sich der Polizist schlafen gelegt, und währenddessen drang der Killer ins Krankenzimmer ein und hat dem Verletzten ein Kissen aufs Gesicht gedrückt und ihn umgebracht.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht war er auch nicht tot. Vielleicht hatte er nur einen Gehirnschaden.«

»Davon gibt es eine Menge.« Bo grinste, sagte, sie würde uns später sehen, und ging.

»Sie macht einen netten Eindruck«, sagte Tammy Sue.

»Nun, da sie jetzt auf Larry aufpasst, wollen Sie da nicht mit uns zum Parisian gehen?«, fragte Schwesterherz.

»Fahren Sie zu der Filiale in der Innenstadt?«

»Das können wir machen. Warum?«

»Ich sollte besser nicht weg, aber ich müsste Sie um einen Gefallen bitten. Wenn es nicht zu viele Umstände macht, könnten Sie dann am Alabama Theatre vorbeifahren und schauen, ob Sie Larrys Brille finden? Die Polizei hat gesagt, sie würde nach ihr suchen. Aber das haben sie nicht gemacht. Der Arme ist ohne sie blind wie ein Maulwurf.«

»Meinen Sie, jemand hat sie abgegeben?«, fragte Schwesterherz. »Und glauben Sie, da ist jetzt jemand im Theater?«

»Wahrscheinlich.« Tammy Sue wühlte in ihrer Tasche und fischte ein paar Schlüssel heraus. »Falls nicht, passt einer hiervon an der Seitentür. Normalerweise ist aber jemand da und probt für irgendein Stück oder so.« Sie reichte Schwesterherz die Schlüssel. »Möglicherweise liegt sie immer noch dort, wo er den Schlag abbekam. Ich hoffe, da ist niemand draufgetreten.« Sie sah uns beide an. »Macht es Ihnen was aus?«

»Natürlich nicht. Wir fahren ja ohnehin in die Richtung. Ich rufe Sie an, wenn ich sie finde, und dann gebe ich sie Virgil heute Abend für Sie mit.«

Tammy Sues Augen füllten sich mit Tränen. »Sie wissen gar nicht, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Ich würde es selbst machen, aber ich schwör es Ihnen, ich bin so müde, ich glaube nicht, dass ich es mit meinem Auto bis da runter schaffe.«

»Kein Problem«, sagte Schwesterherz.

Die berühmten letzten Worte.