13

»Larry Ludmiller ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen«, verkündete Yul Brynner, als sie am nächsten Morgen meine Küche betrat. »Virgil hat mich eben angerufen. Tammy Sue hat totale Zustände.«

Ich saß in der Küche und hatte gerade einen Bissen von meinem French Toast genommen. Ich kaute, schluckte und sah meine Schwester an, die sich mir gegenübersetzte.

»Hatten sie einen Streit oder so?«

Sie schüttelte den Kopf. »Anscheinend nicht. Virgil sagte, sie habe schon das Abendessen für ihn bereit gehabt, aber er sei nicht aufgetaucht. Und das, obwohl sie ihm gesagt hatte, dass sie Schmorbraten machen würde.«

»Er hat gestern hier auf der Suche nach ihr angerufen. Unmittelbar nachdem ihr alle in Richtung Tannehill Park gefahren seid. Ich habe ihm die Nummer von deinem Autotelefon gegeben.«

»Wir haben nichts von ihm gehört.« Schwesterherz stand auf und goss sich eine Tasse Kaffee ein. »Tammy Sue hat Virgil ungefähr um zwei heute früh angerufen und ihm gesagt, dass Larry nicht zu Hause aufgetaucht sei.«

»Vielleicht war er bei einer dieser Darbietungen, die er managt, in irgendeinem Club. Wäre das möglich?«

Schwesterherz setzte sich wieder und langte nach dem Zucker. »Das habe ich auch gesagt, aber Virgil meinte, das sei höchst unwahrscheinlich, dass er aber in jedem Falle angerufen hätte und Tammy Sue nie so in Sorge versetzen würde. Außerdem hatte sie Schmorbraten gemacht. Ich fragte ihn, ob ich zu ihm raufkommen solle und irgendetwas tun könne, aber er meinte nein, Tammy Sue und er hätten überall herumtelefoniert, und sie würden jetzt rausfahren, um nach ihm zu suchen.« Sie rührte ihren Kaffee um. »Er sagt, Larry besitze eine Reihe von Apartments in der Valley Avenue, in denen seine auswärtigen Künstler wohnen. Sie wollen dort hinfahren.« Sie legte ihren Löffel nieder. »Sie haben nichts davon gesagt, dass sie unterwegs auch in die Straßengräben schauen wollten, aber ich bin mir sicher, dass sie das tun werden.«

Ich schob meinen French Toast beiseite. »Das klingt wirklich nicht gut, oder?«

»Das klingt total beängstigend. Ich habe Virgil erzählt, dass ich auf dem Weg zu meinem Kampfsportkurs war, und er sagte, ich solle da ruhig hin, dass ich nichts tun könne, aber mir war einfach nicht danach.«

»Nun, vielleicht ist Larry ja gar nichts passiert. Vielleicht hat er eine Nachricht hinterlassen, die gelöscht wurde, oder irgend so etwas.« Little Miss Sunshine glaubte nicht ein Wort von dem, was sie sagte.

»Ich hoffe es.« Schwesterherz sah mich an. »Geht es dir besser heute früh?«

»Mir ging es besser.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Wir schwiegen, beide in Gedanken versunken, für einen kurzen Moment.

»Vielleicht hat er eine Freundin«, überlegte ich.

»Ich glaube nicht.«

»Aber möglich ist es.«

»Ich bezweifle das.« Sie beäugte mein French Toast. »Hast du noch mehr davon?«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber im Kühlschrank sind ein paar Hefeschnecken. Stell sie fünfzehn Sekunden in die Mikrowelle.«

»Ich mag Tammy Sue«, sagte sie, während sie zwei Hefeschnecken in Papierhandtücher wickelte und in die Mikrowelle schob. »Sie ist so unkompliziert. Sie meinte, dass die langen sonnenblumengelben Brautjungfernkleider großartig sein würden.« Die Mikrowelle machte »ding«. Sie nahm die Hefeschnecken heraus und kam an den Tisch zurück.

Schwesterherz war also nicht die Einzige, die hier versuchte, sich zu vertragen.

Sie blies auf die Hefeschnecke und nahm dann einen Bissen. »Wir sind den Bach im Tannehill Park entlanggegangen, da kam eine dicke Wassermokassinschlange aus dem Wasser gekrochen, woraufhin sie eine Pistole aus ihrer Tasche zog und auf die Schlange schoss, bevor diese auch nur blinzeln konnte.« Schwesterherz schluckte und trank etwas von ihrem Kaffee. »Sie hat sie nicht getroffen, aber in Angst und Schrecken versetzt. Und uns auch. Ebenso wie Debbie, die im Auto saß und Bruderherz stillte. Der schreit wahrscheinlich noch immer.«

»Sie hat einfach eine Pistole gezogen und abgedrückt?«

Schwesterherz nickte. »Sie hat ein Training absolviert. Sie sagte, wenn sie die Schlange hätte treffen wollen, dann hätte sie das auch getan. Und ich denke, dass das stimmt. Es war der Schlange nur noch nicht bestimmt zu gehen.«

»Eine Stieftochter, die man gern haben muss.«

»Das stelle ich allmählich auch fest. Sie wollte mit mir heute Nachmittag zum Smith Lake hoch, um mir eine Hütte zu zeigen, aber jetzt, wo ihr Mann vermisst wird, wird es damit vermutlich nichts.«

»Du willst ein Anwesen am See kaufen?«

»Vielleicht.« Schwesterherz stopfte sich den Rest der Hefeschnecke in den Mund und wischte ihre Hände an einem Papierhandtuch ab. »Weißt du, was ich vergessen habe? An Deena habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.«

»Wer ist Deena?«

»Virgils andere Tochter, die in Texas lebt. Ich habe einfach völlig vergessen, dass er drei Kinder hat, und er hat kein Wort darüber verloren, als ich über die Hochzeit sprach. Ich muss sie einladen. Und sie hat zwei kleine Mädchen. Wenn Fay und May mit von der Partie sind, dann denke ich, dass die beiden auch dazugehören. Allerdings meint Tammy Sue, dass Deena zu Panikattacken neigt und vielleicht kein Interesse hat. Ich muss sie aber dennoch fragen.«

»Panikattacken?«

»Ja, Tammy Sue sagt, dass sie gern in tiefe Ohnmacht und in Zuckungen verfällt. Die Arme, das klingt schrecklich. Aber sie ist jetzt in medizinischer Behandlung, und es geht ihr schon viel besser.«

»Glaubst du, sie trägt auch eine Pistole mit sich herum?«

Schwesterherz legte die Stirn in Falten und sah mich an. »Ich weiß nicht, Patricia Anne, aber eine Frau, die einem gleichzeitig Grundbesitz verkaufen, eine Schlange erschießen und einen Schmorbraten machen kann, hat was. Niemand von uns wäre dazu in der Lage. Und unsere Töchter auch nicht.«

Damit hatte sie mich. »Du heiratest in eine robuste Sippe ein«, sagte ich.

»Wenn man Elvis-Imitation und Panikattacken außer Acht lässt.«

»Nun, keine Familie ist perfekt.«

»Richtig.«

Wir grinsten uns an.

»Wo wir schon davon sprechen«, sagte Schwesterherz, »Marilyn hat sich nicht noch mal bei dir gemeldet, oder?«

»Nein, und an Marilyn ist nichts verkehrt.«

»Doch, ist es. Wenn sie mit gesundem Menschenverstand gesegnet wäre, hätte sie sich Charlie Boudreau schon vor Jahren geschnappt und hätte jetzt einen Haufen Kinder.«

»Sie sagte, sie könne mit ihm nicht leben.«

»Das ist nur eine Entschuldigung.«

Keine Chance, ich wurde nicht schlau aus ihr. Ich stand auf und stellte mein Geschirr in die Spülmaschine.

»Hast du deine Verhaftung mittlerweile verdaut?«

»Fred hat dafür gesorgt, dass es mir besser geht. Er hat gesagt, er wolle zum Polizeirevier gehen und sie alle verprügeln. Und dann hat er mir eine heiße Schokolade mit Marshmallows gemacht, und wir haben zusammen ›Wer wird Millionär?‹ geschaut.« Ich schloss die Spülmaschine. »Ich gehe heute Morgen rüber zu Bernice Armstrong. Sie hat einen Schaukelstuhl, von dem sie sagt, er sei perfekt für Haley.«

»Soll ich dich hinbringen? Du bekommst das Ding nicht in dein Auto, falls du dich dafür entscheidest.«

»Bist du sicher, dass du nicht zu deinem Karatekurs gehen willst?«

»Ich bin nicht in der Stimmung. Zieh dich an, während ich einen Anruf tätige, um zu hören, ob Larry aufgetaucht ist.« Sie griff nach dem Telefon. »Ich sag dir, ich hoffe, er ist irgendwo und in einem Stück.«

Ich teilte diesen Wunsch von ganzem Herzen.

Die Armstrongs leben in einem wundervollen alten Teil von Birmingham mit Namen Forest Park. Die meisten Häuser hier wurden Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, große Häuser auf ebenem Grund und üppigem Rasen mit riesigen alten Bäumen. Viele der frei stehenden Garagen waren wahrscheinlich ursprünglich für Kutschen gebaut. Es gibt Bürgersteige und kleine Parks, und die Fahrt durch dieses Viertel ist eine Reise in eine vornehmere Zeit.

Das Haus der Armstrongs ist ein dreistöckiges dunkles Backsteingebäude, das ein ganzes Stück vom Gehweg zurückgesetzt ist. Als Mary Alice und ich in die Auffahrt einbogen, war dort eine Gartenpflegefirma bei der Arbeit. Ein junger Mann kreiste auf einem Sitzrasenmäher, einer jätete das Unkraut rund um die Bäume, und einer pflanzte rote und weiße Begonien in ein dreieckiges Blumenbeet zwischen Auffahrt und Gehweg.

»Die Dinger werden erfrieren«, informierte ihn Mary Alice, als wir auf dem Weg zur Haustür an ihm vorbeiliefen. »Nördlich von Montgomery pflanzt man keine Blumen vor dem ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond, der auf den 21. März folgt.«

Er blickte lächelnd auf. »Manchmal hat man Glück, Lady. Und Begonien sind recht robust.«

»Sie sehen hübsch aus«, versicherte ich ihm. Und zu Schwesterherz sagte ich: »Das mit dem ersten Vollmond ist das Datum von Ostern.«

»Was der richtige Zeitpunkt zum Pflanzen ist. Du entgehst damit dem Brombeer-Winter.«

Sie war zwar ein wenig durcheinander, aber sie hatte recht. Zur Brombeerblüte gibt es bei uns im tiefen Süden einen letzten Kälteeinbruch. Dieser fällt immer auf Ostern und macht nicht nur die Brombeerblüten, sondern auch alles andere, was um diese Zeit schon blüht, zunichte.

Wir gingen durch den Frühlingsduft von frisch gemähtem Gras und klingelten an der Haustür. Schwesterherz betrachtete das gepflegte Anwesen. »Das Versicherungsgeschäft von Jerry Armstrong muss gut laufen«, sagte sie. »Aber habe ich nicht gehört, dass er krank sei oder so etwas?«

»Er hatte eine Operation am offenen Herzen. Es geht ihm aber wieder gut. Haley war die Operationsschwester, weshalb ihr Bernice auch den Schaukelstuhl schenken will. Sie sagt, Haley sei wundervoll gewesen.«

»Hmmm. Weißt du, Maus, wir müssen heute noch entscheiden, wie wir ihren Empfang gestalten wollen. Es ist nur noch ein paar Wochen, bis sie und Neffe nach Hause kommen.«

»Deren. Nicht denen ihren.«

Schwesterherz blickte mich finster an. Eine Sekunde lang dachte ich, sie würde mich gleich in den Arm kneifen, etwas, das sie seit sechzig Jahren beherrschte, und zwar ohne einen blauen Fleck zu hinterlassen. Es hat etwas mit der Art zu tun, wie sie ihre Finger rollt. Es schmerzt wie die Hölle, und man hat keinen Beweis dafür, dass Fräulein Unschuldig irgendetwas getan hat.

Glücklicherweise ging die Haustür auf.

»Hallo, ihr beiden«, sagte Bernice. »Kommt rein. Day, Dusk und ich trinken gerade Kaffee im Wintergarten. Kommt mit nach hinten.«

Wir traten in die Eingangshalle und kreischten vor Schreck. Ein Monster stand dort, den Arm zum Angriff erhoben. Schwesterherz und ich hielten uns aneinander fest. (Später würden wir beide schwören, wir hätten einander beschützen wollen.)

»Oh, tut mir leid«, sagte Bernice ruhig. »Ich habe vergessen, euch vor Maurice zu warnen. Ich weiß, es ist stillos, ihn gleich hier an der Eingangstür zu platzieren, aber wir haben noch nicht entschieden, wo wir ihn aufstellen wollen, und sind erst einmal nur bis hier gekommen. Ihr würdet nicht glauben, wie klobig er ist und wie schwer.«

Ich warf einen kurzen Blick über Mary Alice’ Arm und sah, dass Maurice ein Grizzlybär war, größer als alle Bären, die ich je in einem Zoo gesehen hatte. Auf seinen Hinterbeinen aufgerichtet stand er zum Angriff bereit. Nur die Glasaugen bewahrten uns vor der Gewissheit, dass diese 15 Zentimeter langen Klauen uns jeden Moment zerreißen würden.

»Es ist ein ausgestopfter Bär«, sagte ich, Schwesterherz von mir schälend.

»Mein Gott«, sagte sie, als sie die Augen öffnete. »Was zum Teufel soll das?«

»Ich bitte um Entschuldigung.« Bernice streckte den Arm in die Höhe und tätschelte Maurice’ Wange. Ein Stück Fell rutschte über seinen Bauch. »Der Arme. Er lässt Haare und fällt auseinander. Aber Jerry hält ihn hoch in Ehren. Sein Onkel hat ihn ihm vermacht, als er letzten Monat starb. Angeblich soll er ihn als Junge in Alaska geschossen haben, aber wie ich Onkel Hardy kenne, ist der arme Bär wohl eher eines natürlichen Todes gestorben, und Onkel Hardy ist zufällig über ihn gestolpert. Zumindest hoffe ich das.«

Mary Alice und ich schauten zu Maurice, und er sah mit gläsernem Blick zurück. Mein Herz beruhigte sich allmählich, und ich hoffte, Schwesterherz ging es genauso.

»Ich weiß, er ist geschmacklos hier in der Eingangshalle«, wiederholte Bernice. »Ich meine, wie viele Leute in Birmingham haben einen kompletten ausgestopften Grizzlybären bei sich zu Hause, noch dazu, wo es sich um eine vom Aussterben bedrohte Art handelt? Es ist peinlich. Aber was willst du machen, wenn dein Ehemann etwas wundervoll findet und es ein Geschenk seines toten Onkels ist?«

Mary Alice streckte die Hand aus und berührte Maurice. Fell schwebte zu Boden. »Mach ihn doch kaputt.«

Bernice schüttelte den Kopf. »Jerry würde eine weitere Herzattacke bekommen. Ich verstehe die Männer einfach nicht. Ihr?«

»Glücklicherweise ist das nicht nötig.« Auf dem Weg durch die Eingangshalle blieb Schwesterherz kurz stehen, um Maurice erneut zu tätscheln.

Day und Dusk standen in eine Unterhaltung vertieft am Fenster, als wir den Wintergarten betraten. Allerdings schien Day den größten Teil des Gespräches zu bestreiten. Es war gespenstisch, wie sehr ihr Äußeres zu ihren Namen passte. Die blonde Day trug einen jadegrünen Hosenanzug, die dunkelhaarige Dusk ein dunkles Gymnastiktrikot und Strumpfhosen. Sie blickten beide auf.

»Habe gehört, wie Sie Maurice begrüßt haben«, sagte Dusk grinsend. »Mama sollte wirklich die Leute warnen.«

»Ich schicke ihn mit dir nach New York zurück«, sagte Bernice. »Er ist besser als all die Ketten und Riegel, mit denen du deine Tür beschwerst.«

»Das kannst du aber laut sagen. An ihrer Tür hängt so viel Metall, dass man sie kaum aufbekommt.« Day zeigte auf ein kleines Korbsofa. »Setzen Sie sich, ich hole Ihnen Kaffee.«

»Ich mache das«, bot Dusk an. »Du musst zurück zur Arbeit.«

Day warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich sollte wohl lieber, aber ich habe überhaupt keine Lust. Liebe Damen, kommen Sie mich in meiner Bank besuchen. Wir haben die besten Bewertungen für unsere Geldanlagen.«

Bernice umarmte sie kurz. »Geh mit deinen Waren anderswo hausieren.«

»Wiedersehen, die Damen. Ich ruf dich später an, Mama.« Als sie aus der Tür ging, hörten wir sie zu Maurice sagen, er solle sich benehmen.

Die zierliche Dusk schenkte jeder von uns eine Tasse Kaffee ein und reichte uns Zucker und Milch.

»Geht es Ihnen wieder gut?«, fragte ich, während ich eine Serviette entgegennahm.

»Viel besser, danke.«

»Es war der Schock, diesen Griffin Mooncloth tot zu sehen«, sagte Bernice. »Möchte jemand von euch Kekse oder so was?«

Wir schüttelten beide den Kopf.

»Uns hat das auch geschockt«, sagte Schwesterherz. »Wir saßen in der ersten Reihe, und er ist uns fast in den Schoß geplumpst.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und stellte dann die Tasse auf den Tisch. »Da fällt mir ein: Kennen Sie Larry Ludmiller, Dusk?«

Dusk hatte sich in einem Korbsessel zusammengerollt – in einer Haltung, wie sie nur Tänzer zuwege brachten. Es sah aus, als hätte sie keine Beine.

»Diesen Veranstaltungsagenten?«, wollte sie wissen. »Ich bin ihm schon mal begegnet. Das ist alles. Warum?«

»Er scheint verschwunden zu sein. Er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Bernice blickte alarmiert auf. »Es denkt aber niemand, dass es mit diesem Moonflower-Fall zu tun hat, oder?«

»Mooncloth, Mama«, sagte Dusk. Bernice zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, wer was denkt«, sagte Schwesterherz. »Ich weiß nur, dass man versucht, ihn zu finden, und dass alle sagen, dass ihm das überhaupt nicht ähnlich sieht. Sie machen sich Sorgen.«

»Vielleicht ist ihm ein Unglück zugestoßen«, meinte Dusk. »Sein Auto könnte in einer Böschung liegen oder so. Erinnert ihr euch noch an die Frau, die von der Straße im Shelby County abgekommen ist und deren Auto wochenlang mit Kudzu zuwuchs?«

»Oh, ganz gewiss nicht.« Bernice schob ihren Kaffee beiseite. »Kennt ihr beide ihn?«

»Er ist der Schwiegersohn von Virgil Stuckey. Virgil und ich heiraten im Mai.« Schwesterherz wandte sich an mich. »Weißt du noch das genaue Datum?«

Ich verneinte achselzuckend.

»Virgil ist noch bis Ende dieses Monats Sheriff des St. Clair County«, erklärte Schwesterherz. »Dann geht er in den Ruhestand.«

»Was für eine Überraschung, Mary Alice.« Bernice strahlte. »Das ist ja wundervoll. Wann ist denn das alles passiert?«

»Kürzlich.« Es war das Erste, was ich sagte, seit wir uns hingesetzt hatten. Die anderen drei blickten mich überrascht an, als hätten sie vergessen, dass ich da war.

»Du wirst es nicht glauben, Bernice. Er sieht Cary Grant ziemlich ähnlich«, sagte Schwesterherz. »Und die Hochzeit wird in der kleinen Kirche im Tannehill Park stattfinden.«

Selbst bei einem so starken Gefühl wie der Liebe war es nicht nachvollziehbar, wie eine Kombination aus Williard Scott und Norman Schwarzkopf sich in Cary Grant verwandeln konnte. Für mich der Beweis dafür, dass Liebe wirklich blind macht.

»Los, erzähl mir alles darüber«, sagte Bernice.

Schwesterherz erzählte also alles, auch von dem Hochzeitskleid und den sonnenblumengelben und lilafarbenen Gewändern der Brautjungfern. Bernice schien entzückt, und selbst Dusk machte einen begeisterten Eindruck. Einen zu begeisterten, befand ich, als sie an der Stelle, an der Fay und May Rosenblüten in die Luft warfen, in die Hände klatschte. Auch ihr Gesicht kam mir zu gerötet vor. War sie noch immer krank? Oder nahm sie irgendetwas ein? Manche Menschen reagierten allergisch auf Magenmittel. Vielleicht war es das.

Mary Alice und Bernice waren in die Unterhaltung über die Hochzeit vertieft, und ich beobachtete Dusk. Natürlich heimlich. Auf einen zufälligen Beobachter würde sie entspannt wirken, wie sie sich da in dem Sessel zusammengerollt hatte. Aber mir fiel auf, dass sie ständig in Bewegung war, ihr Haar zurückstrich, an ihrem Bein herumklopfte, das unter ihr abgewinkelt war.

Ich war daher nicht so überrascht wie die beiden anderen, als sie plötzlich hochsprang, sich entschuldigte und den Raum verließ.

»Alles in Ordnung mit dir?«, rief Bernice ihr hinterher.

»Ja«, kam es von der Treppe.

»Nein, es ist nicht alles in Ordnung mit ihr«, sagte Bernice betrübt. »Dieser Mord nimmt sie immer noch sehr mit. Ich wünschte, sie würde darüber reden, aber das tut sie nicht. Nicht einmal mit Day.«

Ich stellte meine Kaffeetasse auf den Tisch. »Es hat sie mit Sicherheit fürchterlich erschüttert.«

Bernice seufzte. »Mir wäre lieber, sie würde jetzt noch nicht nach New York zurückkehren. Aber sie sagt, dort gebe es eine neue Show, für die sie vortanzen wolle. Und wenn Dusk sich zu etwas entschließt, dann ist sie unerbittlich.«

»Wie gut kannte sie diesen Mooncloth?«, fragte Schwesterherz.

»Nicht allzu gut. Er ist ihr natürlich in der Tanzschule begegnet, aber tatsächlich kannte ihn Day besser als Dusk. Day hat ihn kennengelernt, als sie Dusk in New York besuchte, und ist ein paarmal mit ihm ausgegangen. Sie hielt eine Menge von ihm. Sie hat gesagt, er sei der letzte Mensch auf der Welt, bei dem sie sich hätte vorstellen können, dass ihn jemand ermordet.« Bernice schüttelte den Kopf. »Es ist so traurig. Es wird einen Gedenkgottesdienst für ihn geben in New York, deshalb fliegt sie zusammen mit Dusk zurück. Ich bin froh, dass sie noch ein paar Tage bei ihr ist.« Bernice blickte in Richtung Treppe. »Ich mache mir nach wie vor Sorgen um Dusk. Um die Wahrheit zu sagen, denke ich, dass sie eine Essstörung haben könnte. Habt ihr bemerkt, wie schrecklich dünn sie ist? Ich kriege sie aber nicht dazu, zum Arzt zu gehen.«

»Patricia Anne hat immer eine Essstörung gehabt«, sagte Schwesterherz mitfühlend.

»Habe ich nicht.« Ich rieb meine Stirn. Ich sollte besser Aspirin nehmen.

Schwesterherz blickte mich traurig an. »Sie spielt das Leugnungsspiel.«

»Ich fürchte, dass Dusk dies ebenfalls tut«, sagte Bernice. »Nun aber genug davon. Möchtet ihr den Stuhl anschauen gehen?«

»Ich esse«, sagte ich, als wir die Treppen nach oben stiegen. »Ich esse eine Menge.« Aber manchmal spricht man einfach ins Leere.

Bernice führte uns zwei Treppen hoch. Als wir auf der zweiten kurz stehen blieben, um Atem zu schöpfen, konnten wir Dusk mit jemandem reden hören. Sie klang ziemlich verärgert.

Ihre Zimmertür stand halb offen, sodass Bernice ihren Kopf hineinstreckte. »Alles okay?«

»Ich versuche nur, unsere Flugtickets klarzumachen, Mama.«

»Mit Zuckerbrot kommst du weiter als mit Peitsche, Dusk.« Bernice schloss die Tür, und wir gingen weiter nach oben, vermutlich eine junge Frau hinter uns lassend, die angesichts der Bemerkung ihrer Mutter mit den Augen rollte.

»Mama hat uns das ständig erzählt«, sagte Mary Alice. »Stimmt’s nicht, Patricia Anne?«

Ich nickte.

»Meine auch. Ich habe mich immer gefragt, was eigentlich Zuckerbrot war.« Bernice öffnete die Speichertür, und wir traten ein. Das Haus war größer als meines, aber der Dachboden war der gleiche. Eine alte Nähmaschine, eine Schneiderbüste, Koffer. Bernice ging in eine Ecke und zog ein Tuch von etwas, das ich sofort als den perfekten Stuhl wahrnahm. Ich hatte etwas ganz anderes erwartet. Ich denke, ich hatte eine kleinere Version von Präsident Kennedys Schaukelstuhl im Kopf. Aber dies hier war ein kleiner, gepolsterter aus Mahagoni. Die Armlehnen waren sehr tief angebracht, sodass Haley sich keine Sorgen machen musste, dass Joanna sich den Kopf anstoßen könnte. Das Polster war aus zartblauem Brokatstoff mit einem Blumenmuster in Rosa und Dunkelblau.

»Meine Güte!«, sagte ich, während ich mich daraufsetzte. »Der ist wundervoll, Bernice.«

»Ich glaube, sie bezeichnen ihn als Damen- oder Boudoirschaukelstuhl oder irgendwas Elegantes in der Art«, sagte sie. »Ich denke einfach, dass es der perfekte Baby-Wiegestuhl ist.«

»Bist du sicher, dass du dich von ihm trennen willst?«

»Ich finde den Gedanken wundervoll, dass Haley darauf sitzt.«

»Sie wird es zu schätzen wissen.« Und das würde sie. Ich schloss die Augen und schaukelte eine Minute lang, bis Schwesterherz ihn ausprobieren wollte. »Stabilitätstest.«

Ich habe schon die Beine von Stühlen auseinanderbrechen sehen, wenn Schwesterherz auf ihnen Platz nahm. Dieser hier tat es nicht. Er bestand den Test.

»Mama?«, rief Dusk die Treppen hinauf. »Ich fahre runter ins Alabama Theatre und hole da meine Tasche, die ich neulich liegen gelassen habe. Da ist mein gesamtes Bühnen-Make-up drin.«

»Okay, Schatz. Die Schlüssel sind in meiner Handtasche. Sei vorsichtig.« Bernice drehte sich zu uns zurück und lächelte angesichts unserer offenkundigen Begeisterung. »Habe ich hier einen Abnehmer gefunden?«

Ich nickte und half dabei, Schwesterherz hochzuziehen. »Du hast eine sehr dankbare Abnehmerin gefunden. Aber falls Day oder Dusk doch noch ihre Meinung ändern, lass es mich wissen.«

»Schön wär’s. Jetzt lass ihn uns die Treppen runterbringen.«

Der Stuhl war nicht breit, aber ihn zwei Treppen hinunterzumanövrieren war nicht einfach. Ich ging vorneweg, Schwesterherz hinterher, und Bernice ermahnte uns, vorsichtig zu sein. Nach der ersten Treppe hatte ich das physikalische Gesetz entdeckt, dass die Person am tiefsten Punkt der Last das meiste von ihr trug.

»Vielleicht wäre es besser, du trägst den Sitz auf dem Kopf und gehst vorwärts«, schlug Schwesterherz vor.

Ich antwortete nicht darauf.

Dusk stand in der Eingangshalle und grinste uns an, während wir versuchten, nicht gegen das Geländer zu schlagen.

»Ich dachte, du bist weg«, sagte ihre Mutter außer Atem. Stellvertretend für aktive Mithilfe, vermutete ich, denn ihre Beteiligung an dem Stuhltransport hatte ausschließlich darin bestanden, uns Anweisungen zu geben.

»Dein Auto springt nicht an.« Dusk streckte den Arm aus, nahm Schwesterherz und mir den Stuhl ab und stellte ihn auf den Boden.

»Verdammt. Wahrscheinlich die Batterie. Oder die Elektronik.« Bernice fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Ich sage es euch, ich bin mal an einem Nachmittag um halb fünf den Highway 280 hinuntergefahren, und das Auto hat einfach seinen Geist aufgegeben. Sogar die Servolenkung ging nicht mehr. Gott weiß, wie ich das bei dem ganzen Verkehr gemanagt habe, aber ich fuhr im Leerlauf an ein Hardee’s-Schnellrestaurant heran. Ich dachte, es sei der Vergaser, aber die Frau, die mir einen Pfirsichmilchshake machte, damit ich ein Aspirin nehmen konnte, sagte, sie wette, es sei die Elektronik, Vergaser würden gar nicht mehr hergestellt. Und tatsächlich war es das auch. Ich musste mich abschleppen lassen. Ich weiß allerdings nicht, was mit den Vergasern passiert ist. Ihr?«

»Gibt es sie nicht mehr?«, fragte ich.

»Vielleicht nicht in deinem Auto.« Schwesterherz wandte sich an Dusk. »Wir bringen Sie ins Alabama Theatre. Wir müssen ohnehin durch die Innenstadt.«

»Danke, Mrs Crane. Und ich finde bestimmt jemanden, der mich nach Hause bringt.«

»Ruf deinen Papa an, wenn nicht«, sagte Bernice. »Und geh nicht ins Theater rein, wenn niemand da ist.«

»Okay, Mama.«

»Wir haben ein Auge darauf.« Ich umarmte Bernice, dankte ihr ein weiteres Mal, und wir trugen den Stuhl hinaus zum Van meiner Schwester. Der junge Mann, der die Begonien gepflanzt hatte, war nun dabei, Büsche zu stutzen. Er kam herüber zu uns, um uns zu helfen. Mary Alice hatte recht. In meinem Auto wäre auf keinen Fall Platz für uns und den Stuhl gewesen.

»Wer war der junge Mann, mit dem Sie neulich Abend getanzt haben, Dusk?«, fragte Mary Alice, als wir an einer Ampel hielten.

»Er heißt Bobby Miller und studiert an der Alabama School of Fine Arts. Er ist wundervoll, nicht wahr? Und dabei ist er erst achtzehn Jahre alt.«

»Wundervoll.« Schwesterherz und ich stimmten ihr bei.

»Ich versuche ihn zu überreden, dass er nach New York kommt und das College sein lässt. Aber vermutlich will er nicht. Seinem Vater missfällt es, dass er Tänzer ist. Er hält ihn für ein Weichei.«

Ich dachte daran, mit welcher Leichtigkeit er Dusk hochgehoben hatte. Da war nichts von einem Weichei gewesen. Ich verspürte den altgewohnten Ärger, der alle Lehrer überkommt, wenn Eltern darauf bestehen, dass ihre talentierten Kinder dem Pfad folgen, von dem sie, die Eltern, beschlossen haben, dass er der richtige sei. Und zum millionsten Male wünschte ich mir, dass Kunst einen höheren Stellenwert hätte.

»Sie können mich einfach am Nebeneingang rauslassen«, sagte Dusk und zeigte auf eine Tür an der Seite des Alabama Theatre. Sie verschwand nahezu hinter der verschnörkelten Muscheldekoration, die das Gebäude außen wie innen zierte.

»Wir warten, ob jemand da ist«, sagte Mary Alice.

»Waren Sie je hinter der Bühne?«, fragte Dusk. »Würden Sie gerne wissen, wie es da aussieht? Sie haben sogar noch ein paar Kostüme von Tallulah Bankhead da hinten. Und die herrlichsten alten Filmplakate, die Sie je gesehen haben.«

Mary Alice und ich schauten einander an. »Ist dir danach, Maus?«

Selbst wenn ich halbtot gewesen wäre, hätte ich diese Chance ergriffen. Ich bin geradezu süchtig nach alten Filmen. Und das Alabama war immer schon das märchenhafteste Theater der Welt gewesen.

»Park das Auto«, sagte ich.

Wir stellten es auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, überquerten verkehrswidrig die Fahrbahn, um zur Seitentür des Theaters zu gelangen, und Dusk bat klopfend um Einlass.

Niemand antwortete, woraufhin sie noch einmal klopfte, lauter. Nach wie vor keine Reaktion. Mary Alice ergriff den Türknauf und drehte ihn. Die Tür ging auf, und wir traten in einen engen Korridor. Dusk knipste den Lichtschalter an, woraufhin ein paar von der Decke baumelnde Sechzig-Watt-Birnen die Betonmauern und den Zementboden beleuchteten. Alle Ansprüche an Grandezza waren an der Tür zurückgelassen worden.

»Es wird gleich besser«, versprach sie. Sie lief ans Ende des Ganges, öffnete eine weitere Tür und rief: »Hallo? Ist da jemand?«

»Wer ist da?«, rief eine männliche Stimme.

»Ich bin’s, Dusk Armstrong. Sind Sie das, Mr Taylor?«

»Was machen Sie denn hier, Dusk?« Mr Taylor tauchte aus dem Dunkel auf. Sein dünnes rötliches Haar stand ab, als habe er darauf geschlafen. Was jedoch unsere Aufmerksamkeit fesselte, war das Stück Stoff, das er in der Hand hielt. Es sah wie ein altes Unterhemd aus, und es war voller Blut.

»Was ist los?«, fragte er, als er uns im Gänsemarsch zurückweichen sah. Ich kann nur ahnen, wie erschrocken wir ausgesehen haben mussten. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. »Oh, dieser Lappen hier. Das ist Farbe, meine Damen.« Er hielt ihn hoch, damit wir ihn inspizieren konnten. »Nur Farbe. Ich bessere die Stellen an der Wurlitzer-Orgel nach, auf die dieser beklagenswerte Mann neulich Abend gefallen ist. Er hat ihr nicht nur ein paar Kratzer versetzt, sondern glattweg eine Kante abgeschlagen. Das muss allerdings von jemandem, der sich mit Holzarbeiten auskennt, repariert werden. Ich beseitige nur die Kratzer und poliere dann das Ergebnis.« Er trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie rein. Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.«

Wir folgten ihm aufgeregt. Er war älter, als er mit dem Make-up im Gesicht auf der majestätisch nach oben schwebenden Wurlitzer-Orgel ausgesehen hatte. Vermutlich war er Ende sechzig.

Dusk stellte uns vor und sagte, dass sie ihre Schminktasche holen wolle.

»Gehen Sie nur zu. Ich war dabei zu überprüfen, ob der Lift an der Wurlitzer-Orgel in Ordnung ist.« Er wandte sich an Schwesterherz und mich. »Möchten die Damen vielleicht mal damit fahren?«

»Mein Gott, ja«, sagte Schwesterherz.

Dusk grinste angesichts unserer Begeisterung. Sie hatte ihre Kindheit nicht damit verbracht, im Alabama das Wunder der sich vom Boden erhebenden Wurlitzer-Orgel zu erleben. »Ich hole mein Schminkzeug«, sagte sie.

Wir waren auf der Ebene des Orchestergrabens und folgten Mr Taylor durch einen Flur, der mit einem grauen, strapazierfähigen Teppich ausgelegt und in einer Farbe gestrichen war, in der ich mir mein Brautjungfernkleid vorstellte: Violett. Ich hoffte, dass man die Farbe genommen hatte, weil sie von einer Produktion übrig war, und nicht, weil sie irgendjemand extra ausgesucht hatte.

»Mir gefällt, was Sie anhaben«, sagte Mr Taylor zu Schwesterherz. »Proben Sie für ›Der König und ich‹?«

»Ich betreibe Kampfsport.«

»Das ist gut. Eine Frau sollte sich selbst zu schützen wissen. Meine Schwester hat sich eine Pistole besorgt, aber sie hat sich beim Schießunterricht den großen Zeh weggeschossen.«

»O Gott, ich nehme an, das beeinträchtigt sie beim Gehen«, sagte ich.

»Nicht wirklich. Allerdings hat sie Probleme, Sandalen zu tragen.«

Schwesterherz warf mir einen Blick zu. Wir waren am Orchestergraben angekommen, den ich noch nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Er bestand aus einem Durcheinander von umgedrehten Stühlen und einigen kaputten Instrumenten.

»Da ist überall Polizei-Absperrband drum herum«, sagte Mr Taylor. »Wir können aber unten durchkriechen. Das machen alle, die ihre Musikinstrumente hier holen. Der Kontrabass ist allerdings ruiniert.«

»Wir wissen das«, sagte ich. »Wir waren hier und haben in der ersten Reihe gesessen, als dieser Kerl runtergestürzt ist.«

»Ich habe mir vor Schreck fast in die Hosen gemacht. Geben Sie jetzt bitte auf die Farbe acht. Sie ist nur ganz oben am Rand, aber seien Sie vorsichtig.«

»Du grinst wie ein Honigkuchenpferd«, flüsterte mir Mary Alice zu. Ich fühlte mich nicht angegriffen, weil sie es genauso tat.

Wir ließen uns auf der Orgelbank nieder wie zwei Zehnjährige.

»Sind Sie fertig? Ich drücke jetzt auf den Knopf.«

»Aber wir brauchen Musik, und keiner von uns beiden spielt Orgel«, sagte Mary Alice. »Können Sie nicht mit uns hochfahren?«

»Da ist nicht genug Platz. Wir wäre es damit, wenn ich ›How Great Thou Art‹ pfeife und Sie mitsingen?«

Das war zwar nicht majestätisch, aber immer noch aufregend. Mr Taylor drückte auf einen Knopf und begann zu pfeifen. Schwesterherz und ich spürten, wie die Wurlitzer-Orgel den Boden verließ.

»Singen Sie«, wies uns Mr Taylor an.

»›Oh Lord, my God‹«, begann ich mit zittriger Stimme zu singen, während wir uns an den anderen Instrumenten vorbei erhoben und das Absperrband zerrissen.

Ich blickte hinüber zu Schwesterherz, was ein Fehler war. Sie zuckte mit den Mundwinkeln.

»Was ist los mit dir?«, fragte ich.

Sie platzte laut lachend heraus. »Oh, Maus, schau uns an. Ich denke, das ist eines der lustigsten Dinge, die wir je erlebt haben.«

»Singen Sie beide!«, rief Mr Taylor und fuhr fort zu pfeifen.

Wir mussten uns festhalten und lachten diesmal so sehr, dass uns die Tränen kamen. Zwei alte Damen, die auf einer nach frischer Farbe riechenden Wurlitzer-Orgel gen Himmel fuhren, während ein alter Mann eine Hymne dazu pfiff.

Wir lachten so laut, dass unsere Schreie wie Betriebsgeräusche klangen, wie ein Quietschen im Hebemechanismus der Orgel.

Die Orgel stoppte ihre Höhenfahrt mit einem leichten Ruck. Einen Moment lang herrschte Ruhe, und dann vernahmen wir eindeutige Schreie. Schwesterherz und ich blickten seitwärts von der Bank herunter.

Dusk hielt den Arm von Mr Taylor umklammert und zeigte in Richtung der Garderoben. »Wählen Sie die Notrufnummer. Er ist tot.«

»Wer ist tot?«

Sie stürzten beide davon und ließen uns in der Luft hängen.

»Larry? Glaubst du, es ist Larry?« Voller Panik drückte Schwesterherz alle Knöpfe an der Konsole. »Verdammt.«

Und alle Knöpfe, die sie nicht drückte, probierte ich. Eine von uns erwischte schließlich die magische Taste, und die Orgel begann sich zu senken. Wir sprangen herunter und rannten los, noch bevor sie den Boden erreicht hatte.

»O Gott, ich weiß, dass es Larry ist«, sagte Schwesterherz.

Wir rannten den Flur entlang in die Richtung, in die Dusk und Mr Taylor verschwunden waren. Eine offene Tür und Licht verrieten uns, wo sie waren. Sie knieten neben Larry Ludmiller, der zusammengekrümmt und blutverschmiert auf dem Boden lag. Dusk wrang schluchzend die Hände, und Mr Taylor hielt einen Baseballschläger in die Höhe.

»Ich glaube, er ist tot«, sagte er.