14

»O Gott«, ächzte Dusk, über Larry gebeugt. »Jemand muss den Notruf wählen.«

Mary Alice griff in ihre Tasche, zog ihr Mobiltelefon heraus und drückte den Notruf-Knopf. Dann reichte sie mir das Telefon und eilte aus dem Raum. Ich verstand das. Der Magen meiner Schwester und der Anblick von Blut haben noch nie zusammengepasst.

Unglücklicherweise hatten wir schon so viele Notfälle, seitdem ich in den Ruhestand gegangen bin, dass ich, ich schwör’s, mit den meisten Rettungsdienststellen per Du bin. Sie erkennen sogar meine Stimme. Es ist peinlich. Heute nahm jedoch jemand Neues ab, wofür ich dankbar war. Ich erklärte, dass ein schwer verletzter Mann im Alabama Theatre lag und wir unverzüglich Hilfe brauchten. Es brachte nichts, ihnen zu sagen, dass er mausetot war.

Ich legte auf, trat hinaus in den Flur und setzte mich auf den Boden. Ich bekam mit, wie sich Dusk und Mr Taylor aufgeregt unterhielten. Von weiter hinten im Flur konnte ich das Rauschen einer Toilette hören. Hoffentlich ging es Schwesterherz besser. Von mir konnte ich das nicht behaupten.

Ich schloss die Augen und versuchte mich auf mein Mantra zu konzentrieren. Diese hübschen weißen Abfallkörbe mit rosafarbenen Muscheln im Bed Bath & Beyond. Omm. Neue Duschvorhänge fürs Gästebad. Omm. Weiße Battenberg-Spitze. Omm. Die würde aber wahrscheinlich in der Feuchtigkeit des Bads schlapp in sich zusammenfallen. Und ich wollte meine Zeit nicht damit verbringen, Duschvorhänge zu stärken und zu bügeln. Omm. Omm. Ein paar neue Handtücher wären schön. Und ein paar von diesen Waschlappen, die Fred so sehr mochte. Die fühlten sich wie nichts an in der Hand. Und waren billig. Omm.

»Wo bist du?«, fragte Schwesterherz. »Bed Bath & Beyond? Rich’s?« Ich hatte einmal den Fehler begangen, ihr von meiner Flucht in den geistigen Wäschekauf zu erzählen.

»Bed Bath & Beyond«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich hatte gestern einen Fünf-Dollar-Gutschein in der Post. Sie haben einen Aktionsverkauf dieses Wochenende.«

Sie setzte sich neben mich auf den Boden. Keine leichte Aktion für eine 113 Kilo schwere sechsundsechzigjährige Frau. Sie bewerkstelligte es, indem sie sich an die Wand lehnte und langsam nach unten rutschen ließ. Sie lutschte ein Altoids; ich konnte den Pfefferminzgeschmack riechen.

»Mein Gott«, sagte sie. »Ich kann das einfach nicht glauben. Reich mir das Telefon. Ich denke, ich rufe besser Virgil an. Die arme Tammy Sue. Ich weiß nicht, wie sie damit fertigwerden soll.«

Ich brauchte sicher auch ein paar neue Topflappen. Ich hatte ein paar hübsche gesehen: ein kleiner Muffinmann mit Kochmütze, der einen Teller hochhielt. Sie hatten auch welche mit Kühen drauf. So schwarz-weiß gefleckte.

»Das Telefon?«

Ich gab es Schwesterherz.

Aus der Garderobe kam ein spitzer Schrei. »Er hat sich bewegt. Er hat seine Hand bewegt!«

Schwesterherz ließ das Telefon fallen. Ich blickte hinter die Tür. Dusk hatte ihren Finger seitlich an Larrys Hals gelegt. Mr Taylor kniete und rang die Hände.

»Ich fühle seinen Puls«, rief Dusk aus. »Er lebt. Ruft den Notarzt!«

»Das habe ich bereits getan.« Ich stand auf und ging langsam auf die vornübergebeugte Gestalt zu. »Sind Sie sicher, dass er am Leben ist?«

»Fühlen Sie!« Ich beugte mich nieder, und Dusk legte meinen Finger an Larrys Hals. Ein schwacher, dünner Puls. O Gott.

»Ich warte auf sie an der Seitentür«, sagte Mr Taylor. »Gott, ich war mir sicher, dass er hinüber war.« Er rannte nach draußen, wobei er beinahe mit Schwesterherz zusammenkrachte, die soeben in der Türöffnung aufgetaucht war.

»Ist er wirklich lebendig?«, fragte sie. »Nicht nur irgendwelche toten Muskeln, die zucken, wie Froschschenkel oder Hühner mit abgeschlagenem Kopf?«

Ich sagte: »Nicht sehr lebendig, denke ich. Aber er hat einen Puls.«

Schwesterherz betrat den Raum. »Vielleicht sollten wir Wiederbelebungsversuche oder so was machen.«

Dusk blickte zu ihr auf und sagte mit finsterem Blick: »Wir lassen ihn in Ruhe, bis die Sanitäter da sind.«

»Gute Idee«, pflichtete ihr Schwesterherz bei.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Rettungsdienst da war, aber es kam uns ewig vor. Alle drei beobachteten wir Larry, der sich nicht wieder bewegte. Gelegentlich fühlten Dusk und ich nach dem Puls, der nach wie vor vorhanden war, wenn auch schwach. Falls er atmete, und er musste natürlich atmen, dann war sein Atem so schwach, dass es keine erkennbare Bewegung seiner Brust gab.

»Jemand hat ihn direkt über dem Ohr getroffen. Seht ihr?«, sagte Dusk. »Wahrscheinlich mit diesem Baseballschläger.«

Schwesterherz verschwand wieder im Flur.

Ich glaubte Dusk aufs Wort und ergriff Larrys Hand, um sie zu rubbeln. Damit würde ich ihm sicher keine Verletzungen zufügen. Die Hand war kalt. Aber der Puls schlug an seinem Hals.

Und dann war der Raum voller Sanitäter, medizinischer Geräte, Kommandos. Wir wurden aufgefordert, im Flur draußen zu warten. Mr Taylor und Schwesterherz gesellten sich dort zu uns.

»Verdammt«, sagte er. »Verdammt. Er lag schon die ganze Zeit hier hinten, während ich an der Orgel gearbeitet habe.«

»Womöglich ist er schon seit gestern Abend hier«, sagte Schwesterherz.

Ich sah ihr Telefon auf dem Boden liegen und hob es auf. »Rufst du Virgil an?«

Sie griff zögernd danach. »Ich sollte das wohl besser. Was glaubt ihr, wohin sie Larry bringen?«

»In die Universitätsklinik«, sagte Mr Taylor. »Das ist die nächste Unfallklinik.«

Dusk brach plötzlich in lautes Schluchzen aus, das ihren dünnen Körper erschütterte. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, und ich bemerkte, dass sie blutbefleckt waren. Ich sah nach unten. Meine waren es auch.

»Kommen Sie«, sagte ich und legte meinen Arm um sie. »Lassen Sie uns das abwaschen.«

Schwesterherz informierte uns darüber, dass sich die Toiletten gleich den Flur hinunter links befanden.

Dusk und ich wuschen unsere Hände und Arme, und ich befeuchtete ein Papierhandtuch und fuhr ihr damit über das Gesicht, das so rot und heiß war, als wenn sie Fieber hätte.

»Sie waren mächtig tapfer da hinten«, sagte ich. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Ich wischte sie beiseite.

»Es ist alles meine Schuld«, flüsterte sie.

»Nein, ist es nicht. Es ist überhaupt nicht Ihre Schuld.«

»Aber Griffin ist nur wegen mir hier gewesen.« Sie schluchzte in das feuchte Papierhandtuch.

»Deshalb ist das, was passiert ist, noch lange nicht Ihre Schuld.«

Sie seufzte und wischte sich über das Gesicht. »Aber ich fühle mich so schuldig.«

»Der Fluch der Südstaaten-Frauen. Ich fühle mich schuldig, wenn es auf unser Picknick regnet.«

Dusk versuchte zu lächeln. »Nein, Mrs Hollowell. Dieses Schuldgefühl kenne ich auch. Aber Griffin ist meinetwegen gestorben. Ich war mit ihm verheiratet.«

»Sie waren was?« Es gab eine kleine Bank in der Toilette, auf die ich mich schwer fallen ließ. »Was?«

Dusk setzte sich neben mich und drückte sich erneut das Papierhandtuch gegen die Augen. »Es ist so. Niemand weiß es, abgesehen von Day und jetzt vielleicht der Polizei. Ich weiß, sie werden sicher denken, ich hätte ihn ermordet.« Sie beugte sich vor und ließ schluchzend den Kopf auf die Knie fallen.

Ich hatte Mühe, diese Nachricht zu verdauen. Das rote Samtpolster der Bank war abgenutzt, und an etlichen Stellen war gelblich-brauner Schaumstoff zu sehen. Bed Bath & Beyond hätte bestimmt ein paar passende Polster; sie winkten mir förmlich zu. Aber Dusks Stimme holte mich zurück.

»Es war ganz einfach«, sagte sie, während sie sich aufsetzte und sich das Gesicht abwischte. »Er wollte US-amerikanischer Staatsbürger werden, und ich bewunderte ihn so sehr.« Sie sah mich an. »Es ist alles mein Fehler.«

»Ihre Eltern wissen nichts davon?«

Sie schüttelte den Kopf. »Day weiß es, aber ich dachte nicht, dass ich das jemals Mama und Papa würde erzählen müssen. Sobald Griffin Staatsbürger sein würde, wollten wir uns scheiden lassen.« Sie lehnte den Kopf gegen die Wand. »Wir haben nie zusammengelebt, Mrs Hollowell.«

Ich versuchte zwei und zwei zusammenzuzählen. »War er deswegen in Birmingham gewesen? Um sich um die Scheidung zu kümmern?«

»O Gott, ich wollte, es wäre das gewesen.« Dusk nahm ein weiteres Papierhandtuch und befeuchtete es. Draußen hörten wir Schritte über den Gang huschen. Ich wollte plötzlich wissen, ob Larry noch am Leben war, wie seine Chancen standen.

»Warten Sie hier«, sagte ich mit meiner besten Lehrerinnenstimme und deutete auf die Bank. »Ich möchte den Rest der Geschichte hören, aber jetzt will ich wissen, wie es Larry geht.«

»Nicht allzu gut«, sagte Mary Alice, als ich sie fragte. Sie stand zusammen mit Mr Taylor am Ende des Flurs. »Sie haben seinen Kopf in irgend so ein Schaumstoffding gepackt und ihn an alles drangehängt, was es auf Erden gibt. Ich habe Virgil angerufen. Er will sich zusammen mit Tammy Sue mit uns in der Uniklinik treffen. Sie versuchen ihn aber erst einmal zu stabilisieren, bevor sie ihn transportieren.«

Mr Taylor rang erneut seine Hände. »Ich kann es einfach nicht glauben. Absolut nicht.« Er blickte an mir vorbei in den Flur. »Wo ist Dusk? Ist alles in Ordnung mit ihr?«

»Es geht ihr besser. Ich bleibe noch eine Weile mit ihr in der Toilette, bis sie sich ein wenig beruhigt hat.«

»Ich rufe Debbie an«, sagte Mary Alice und klappte ihr Mobiltelefon auf, »und erzähle ihr, was los ist.«

Debbie. Griffin Mooncloth hatte einen Termin mit Debbie vereinbart. Ich eilte zurück zur Toilette, wo Dusk noch immer auf der Bank saß, ganz meinen Anordnungen entsprechend. Sie blickte auf, auf Informationen wartend.

»Sie versuchen ihn ausreichend zu stabilisieren, bevor sie ihn transportieren«, sagte ich. »Das ist alles, was ich weiß.«

Sie nickte und biss sich wie ein Kind auf die Unterlippe. Sie sah aus wie eine Sechsjährige, stellte ich fest, verschwindend klein und mit verheultem Gesicht.

»Griffin Mooncloth hatte einen Termin mit meiner Nichte Debbie vereinbart«, sagte ich. »Ging es da nicht um die Scheidung?«

»Day hat sie empfohlen. Sie und Debbie sind zusammen zur Schule gegangen.«

Ich bedeutete ihr nickend, dass ich dies wusste.

»Egal, er wollte jedenfalls herausfinden, ob er mich an einer Scheidung hindern konnte. Er sagte, er liebe mich und wolle, dass wir verheiratet seien, richtig verheiratet.«

»Und wie sahen Sie das?«

»Ich mochte ihn gern, Mrs Hollowell, wirklich. Aber ich habe die Zeremonie auf mich genommen, um ihm einen Gefallen zu tun, und nicht, weil ich seine Frau sein wollte.« Noch mehr Tränen flossen in das feuchte Papierhandtuch. »Und als ich ihm sagte, dass ich die Scheidung wollte, fing er an, mich zu bedrohen. Er sagte mir, ich hätte ein Bundesgesetz gebrochen, indem ich ihn geheiratet hätte, damit er Staatsbürger werden konnte. Und das stimmte. Day und ich haben es nachgeschlagen.« Dusk blickte hoch. »Ich hätte eingesperrt werden können, Mrs Hollowell.«

»Aber er wollte sich trotzdem mit Debbie treffen? Dachte er immer noch, Sie würden sich von ihm scheiden lassen?«

Sie seufzte. »Ich denke, er versuchte herauszufinden, ob es irgendeinen einfachen, legalen Weg gab, die Scheidung zu verhindern. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er mich ins Gefängnis bringen wollte. Er war kein böser Mensch, Mrs Hollowell.«

»Aber er war sich nicht zu schade, Sie zu bedrohen.«

»Das stimmt.«

Wir schwiegen ein paar Minuten, beide in Gedanken versunken. Draußen im Flur waren Rufe zu vernehmen, vorbeihastende Menschen und vorbeirollende Apparaturen.

»Sie werden denken, ich hätte ihn umgebracht, stimmt’s? Aber das habe ich nicht, Mrs Hollowell«, sagte Dusk schließlich. »Ich weiß nicht, warum ich das nicht einfach von Anfang an zugegeben habe.«

»Das Schnappmesser war aber nicht Ihres, oder?«

»Um Himmels willen, nein.« Dusk wunderte sich offenbar allein schon über die Frage. »Ich wusste gar nichts davon. Ich wusste nicht einmal, dass Griffin bei diesen Elvis-Tänzern dabei sein würde. Das sieht ihm allerdings ähnlich. Er fand es sicher lustig, raus auf die Bühne zu gehen und zu improvisieren.« Dusk begann erneut zu weinen. »Er konnte sehr amüsant sein, Mrs Hollowell. Ich habe ihn nur einfach nicht geliebt. Nicht so wie Day.«

»Day war in Griffin Mooncloth verliebt?«

Das Schluchzen hörte auf. Dusk begriff, dass sie mehr verraten hatte, als sie hatte sagen wollen.

»Sie hatte ihn gern«, sagte sie vorsichtig und in dem Versuch, ihren Fehler zu vertuschen. »Sie hat ihn kennengelernt, als sie mich in New York besuchen kam. Das wollte ich damit sagen. Sie bewunderte seine Tanzkunst.«

Die Tür öffnete sich, und Schwesterherz schaute herein. »Sie haben das Mögliche getan. Sie haben ihn jetzt aufgeladen und gurten ihn gerade fest, um ihn zum Krankenwagen zu bringen. Ich fahre ihnen hinterher in die Uniklinik. Möchtest du mitkommen, Maus? Mr Taylor sagte, er würde dich und Dusk nach Hause bringen, wenn ihr nicht mitwollt.«

»Ich fahre mit Mr Taylor, wenn du nicht unbedingt willst, dass ich mit dir komme.«

»Was ich brauche, ist eine Valiumtablette und Maalox, und ich weiß, dass du das nicht hast.« Die Tür ging zu, um sich unverzüglich erneut zu öffnen. »Oh, ich vergaß. Die Polizei ist hier. Ein Mann namens Tim Hawkins sagte, er wolle dich sprechen.«

O Gott. Wir würden noch ewig hier sein.

Aber das war nicht der Fall. Wir warteten, bis wir die Transportliege den Flur hinunterrollen hörten, dann verließen wir die Toilette. Tim Hawkins und Mr Taylor unterhielten sich im Flur. Hinter ihnen, in der Garderobe, waren etliche Polizisten damit beschäftigt, zu messen und Fingerabdrücke zu suchen. Es lag ein Haufen Arbeit vor ihnen. Schwesterherz, Dusk, Mr Taylor und ich hatten gründliche Arbeit geleistet, was das Spurenhinterlassen betraf, die Begutachtung des Baseballschlägers und das Knien neben Larry eingeschlossen.

»Hallo, Mrs Hollowell. So trifft man sich wieder.« Tim grinste.

Ich bedachte ihn mit meinem Lehrerinnenblick. »Hallo, Timmy.«

Er wandte sich an Dusk. »Und Sie sind Dusk Armstrong und haben Larry Ludmiller gefunden?«

»Ich wollte meine Schminktasche holen.« Dusks Stimme zitterte. »Als ich die Garderobe betrat, bin ich über ihn gefallen.« Sie zeigte auf ihre Knie. »Wirklich über ihn gefallen. Ich habe den Lichtschalter angeknipst und mich umgedreht, und da lag er. Ich dachte, er sei tot.«

»Das haben wir alle gedacht«, sagte Mr Taylor.

»Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Und dann hat Dusk gesehen, wie er seine Hand bewegte.«

»Seine Finger.« Dusk hielt ihre Hand hoch. »Er bewegte seine Finger in dieser Weise.«

Tim Hawkins nickte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Armstrong. Ich werde mich mit Ihnen unterhalten müssen, aber wir haben hier alle Hände voll zu tun. Mr Taylor hat gesagt, er würde Sie nach Hause fahren.« Er drehte sich zu mir um. »Sie auch, Mrs Hollowell. Er kommt dann wieder und hilft uns hier. Führt uns herum. Okay?«

»Mit mir wollen Sie sich nicht noch einmal unterhalten, oder?«, fragte ich.

Tim zuckte mit den Achseln. »Vielleicht.«

»Kann ich meine Schminktasche haben?«, fragte Dusk.

»Tut mir leid. Später. Wir haben den Raum abgeriegelt.«

»Hören Sie, Sie kommen der Wurlitzer-Orgel aber nicht zu nahe, ja? Ich habe gerade die Stellen ausgebessert, auf die dieser Typ da neulich gefallen ist, und die Farbe ist noch nicht ganz trocken.« Mr Taylor blickte auf die geschäftigen Polizisten. »Ich schwöre es, in den letzten achtzig Jahren war ein gelegentlicher Herzinfarkt das Schlimmste, was hier passiert ist. Und angeblich hat zu Beginn von ›Vom Winde verweht‹ mal jemand eine Stinkbombe geworfen. Können Sie das glauben? Da sieht man’s mal wieder!«

Was es mal wieder zu sehen gab, war nicht klar, aber keiner von uns befragte ihn. Er sagte Tim Hawkins, dass er so schnell, wie er die Damen nach Hause gebracht hätte, wieder zurück sein würde. Wir folgten ihm nach draußen zu seinem einstmals schwarzen Chevrolet, der älter war als der meine und, wie Fred sagen würde, durchgeritten aussah.

»Schauen Sie nicht nach unten, wenn es Ihnen im Auto schlecht wird«, sagte er und öffnete die hintere Tür für mich. »Ich bin irgendwann über einen Betonklotz gefahren, der sich direkt durchgebohrt hat. Ich habe versucht, den Boden wieder flach zu klopfen, aber er ist zu rostig. Ich hatte vor, mir ein Stück Teppich zu besorgen, aber vielleicht wollen Sie ja Ihre Füße über das Loch stellen, damit keine Steine hochfliegen und Sie womöglich verletzen.«

»Vorne ist alles okay«, versicherte er Dusk.

So viel zu Alter vor Schönheit.

Ich rutschte auf die andere Seite der Rückbank, weg von dem Loch im Karosserieboden, aber eine Sprungfeder, die sich ihren Weg durch die Polsterung gebahnt hatte, sah zu gefährlich für meine guten grauen Hosen aus. Ich bewegte mich zurück auf die andere Seite und stellte meine Füße auf das Loch, dessen Ränder sich hochwölbten wie ein Tumor.

In der Zwischenzeit hatte Mr Taylor Dusk auf dem Vordersitz platziert. »Bequem?«, fragte er. Wenn ich eine kleinliche Person gewesen wäre, hätte ich nach vorn gegriffen und ihm die restlichen Haare vom Kopf gerissen, was mir ein Leichtes gewesen wäre. Stattdessen sank ich zwischen Schokoriegelpapier und Chipstüten (Mr Taylor favorisierte die Sorte saure Sahne und Schnittlauch) in den Sitz zurück und zwang mich dazu, mich zu entspannen.

Als wir aus der Parkbucht fuhren, griff Dusk in ihre Handtasche nach einem Papiertaschentuch.

»Mrs Hollowell«, sagte Mr Taylor, »schauen Sie mal auf der anderen Seite nach unten, und reichen Sie Dusk ihre Schminktasche.«

Tatsächlich lag da unten eine schwarze Tasche, die wie eine Arzttasche auf den Bildern von Norman Rockwell aussah. Sie war mir gar nicht aufgefallen. Ich hob sie hoch und reichte sie Dusk über den Sitz hinweg. Sie war so schwer, dass Estée Lauder persönlich darin hätte versteckt sein können.

»Oh, Mr Taylor«, sagte Dusk. »Wie haben Sie die denn rausbekommen?«

»Ich bin einfach mit ihr hinausspaziert, bevor die Polizei kam. Ich nehme an, sie haben jetzt alles abgesperrt.«

»Woher wussten Sie denn, dass das meine war?«

»Ich kannte sie noch aus den Tagen, in denen Sie bei den Sommerfest-Aufführungen mitgemacht haben. Sie waren so klein, und diese Tasche war größer als Sie.«

Dusk öffnete die Tasche und schaute hinein. »Alles da«, sagte sie. »Danke, Mr Taylor.«

»Bitteschön, Dusk.« Mr Taylor räusperte sich. »Wo wohnen Sie, Mrs Hollowell?«

Ich sagte es ihm, und er bog in die Twentieth Street ein. Wir fuhren am Uniklinikum vorbei. Ein Krankenwagen stand vor der Notaufnahme, und ein Patient wurde ausgeladen. Larry? Ich dachte an Tammy Sue und fühlte, wie es mir die Brust zusammenzog. Der Tag, an dem Haley in die Uniklinik gerufen wurde, als ihr Mann Tom von einem Betrunkenen überfahren worden war, schmerzte immer noch wie eine offene Wunde. Bitte, lieber Gott, lass Tammy Sue mehr Glück haben.

»Es heißt, Sie sind pensionierte Lehrerin, Mrs Hollowell.« Mr Taylors Stimme ließ mich zusammenfahren.

»Seit letztem Jahr«, sagte ich. »Ich habe Englisch an der Robert Alexander School unterrichtet.«

»Ich war auch Lehrer. Ich habe Musik an der North Jefferson County School gegeben, springe aber seit Jahren bereits im Alabama Theatre ein. Sie nennen mich den Wurlitzer-Substitut.« Er lachte ein wenig. »Wissen Sie, das ist, wie Vertretungslehrer zu sein.«

»Ich würde lieber an der Orgel einspringen als im Klassenzimmer.«

»Das stimmt, bei Gott. Ich liebe diese alte Orgel.«

»Sie sind gut darauf, Mr Taylor.«

Mr Taylor strahlte vor Freude über Dusks Kompliment.

Wir fuhren über den Berg, vorbei an Vulcanus’ verwaistem Sockel und an dem Club, in dem Mitzi und ich ein paar Tage zuvor zu Mittag gegessen und Bernice und Day Armstrong getroffen hatten.

»O mein Gott!«, rief ich aus.

Mr Taylor und Dusk zuckten zusammen.

»Was gibt’s?«, fragte Dusk und drehte sich zu mir um. »Was ist los?«

»Müssen Sie sich übergeben?« Mr Taylor fuhr das Auto vorsichtig an den Straßenrand.

»Nein, mir ist nicht schlecht. Mir geht es gut.« Mir war nur plötzlich eingefallen, dass meine Tasche an meinem Stuhl gehangen hatte, als Mitzi und ich zu Mittag gegessen hatten, dass Bernice sich zu uns gesetzt hatte und Day gekommen war, um ihr zu sagen, dass es Dusk schlecht gehe. Dass Day neben meinem Stuhl gestanden hatte, neben meiner offenen Tasche, und sich vorgebeugt hatte, um Mitzis Arm zu tätscheln. Daher kam das Schnappmesser. Ich fühlte es instinktiv.

»Mir geht es gut«, wiederholte ich. Was nicht stimmte. Teile des Puzzles fügten sich zusammen. Schreckliche Teile. Day, die Griffin Mooncloth liebte, der mit Dusk verheiratet war und mit dieser verheiratet bleiben wollte, so sehr mit ihr verheiratet bleiben wollte, dass er ihr damit drohte, sie eher den Bundesbehörden übergeben zu wollen, als sie zu verlieren. Day, die sich hinter die tanzenden Elvisse schlich, das Messer in Griffins Rücken rammte und es dort drehte und wand.

Und da war noch mehr. Larry Ludmiller hatte gesagt, er habe jemanden hinter der Tänzerreihe gesehen. Er hatte die Person nicht zu identifizieren vermocht, aber wie konnte Day sich dessen sicher sein, wenn sie seinen Blick erhascht hatte. Sie durfte kein Risiko eingehen.

Ich begann zu zittern. »Ich muss nach Hause«, sagte ich.

Zum Glück war es nicht weit, und Mr Taylor verlor keine Zeit.