12
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Debbie mich aus dem Polizeirevier raushatte. Ich glaube, sie sprach mit allen dort, bevor sie in Margarets Büro zurückkam und mir mitteilte, dass es mir jetzt freistand zu gehen. Bis dahin waren Margaret und ich gute Freundinnen geworden.
»Ihre Tante ist unschuldig wie ein neugeborenes Kind«, sagte Margaret zu Debbie, als diese endlich auftauchte.
»Natürlich ist sie das.« Debbie betrachtete Margarets Körperumfang. »Apropos neugeborene Kinder, halten Sie noch bis heute Abend durch?«
Margaret seufzte und griff nach dem Maalox. »Weiß der Geier. Ich habe gehört, Sie haben diesmal einen Jungen bekommen. Bei mir wird es auch einer. Sind Jungs sehr anders?«
»Sie müssen beim Windelwechseln sehr viel vorsichtiger sein.«
Margaret lächelte, kippte das Mittel gegen Sodbrennen hinunter und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Ich will jetzt einfach, dass er rauskommt. Uns geht hier der Platz aus.«
Wir kannten alle das Gefühl. Im letzten Monat der Schwangerschaft hat man das bange Gefühl, die Natur könnte einem einen Streich gespielt haben, und man würde ewig schwanger sein.
»Halten Sie durch«, sagte Debbie.
Margaret streckte ihr die weiß belegte Zunge heraus.
»Bin ich wirklich frei?«, fragte ich Debbie, als wir den Flur hinuntergingen.
»Sie haben mir recht gegeben, dass der Mordverdacht ziemlich weithergeholt war, nachdem halb Birmingham dich in der ersten Reihe hat sitzen sehen, als dieser Mooncloth umgebracht wurde.«
»Gut.«
»Sie haben aber nach wie vor ein paar Fragen zu dem Messer, Tante Pat. Dazu, wie es in deine Handtasche gelangen konnte. Tim Hawkins sagte, er würde am Nachmittag rüberkommen, um noch mal mit dir zu reden. Er sagte, ihm sei klar gewesen, dass dir nicht nach Hierbleiben war.«
»Die haben mich festgenommen, Debbie. Mir meine Rechte vorgelesen, mich in Handschellen gelegt.«
»Ich habe es gehört, Tante Pat. Tut mir leid.«
Wir traten in einen wundervollen Frühlingstag hinaus. Debbie fragte, ob ich irgendwo anhalten und zu Mittag essen wollte, aber mir war nicht danach. Nicht nur, dass ich es mit der Nebenhöhle hatte, ich war auch deprimiert. Es gibt geschmacklos, gewöhnlich, und es gibt unterste Schublade. Unter Mordverdacht festgenommen und in Handschellen abgeführt zu werden dürfte zur letztgenannten Kategorie gehören. Großmama Alice drehte sich in diesem Moment wahrscheinlich gerade im Grabe um, ungeachtet der Tatsache, dass ich unschuldig war. Auf ihrer Liste zur untersten Schublade standen solche Dinge wie das Kauen auf einem Zahnstocher oder, was Gott verhüte, das Rauchen in der Öffentlichkeit. Verglichen damit wäre für das Verhaftetwerden eine ganz neue Kategorie erforderlich.
»Ich habe nachgedacht«, sagte ich, als wir die Auffahrt zur Autobahn in Richtung Red Mountain hochfuhren. »Dieser Griffin Mooncloth ist Russe, er hat sich abgesetzt, und er wurde ermordet. Wie kommt es, dass das Außenministerium nicht involviert ist? Oder das FBI oder so was?«
Debbie schaute, ob die Spur frei war, und fuhr dann auf die Autobahn. »Ich glaube, sie denken, dass dies keine politische Angelegenheit ist. Nimm all diese illegalen Ausländer, die in den Geflügelfarmen oben in Nordalabama arbeiten. Wenn einer von denen erdolcht wird, dann ist es an der Lokalpresse herauszufinden, wer der Täter ist.«
»Das stimmt. Aber dieser Mooncloth war bedeutend genug, um an einem kulturellen Austausch teilzunehmen. Und die Russen gehen ziemlich streng damit um, was sie ihren Bürgern erlauben.«
Debbie überholte einen Lastwagen, der mit riesigen Stahlspulen beladen war, die bedrohlich auf und ab hüpften. Ich atmete erleichtert aus, als wir an ihm vorbei waren.
»Ich weiß nicht, Tante Pat. Fast alle russischen Eiskunstläufer leben jetzt hier. Und ich wette: Wenn du auf die Ensembleliste der größten Ballettkompanien schaust, dann ist die Hälfte der Namen russisch. Und ich denke, alle sind sich ziemlich sicher, dass der Mord an Griffin Mooncloth kein politischer war. Jemand hatte ihn persönlich auf der Abschussliste.«
»Du hast recht. Ich habe zu viele Filme gesehen, die vom Kalten Krieg handeln.«
Ich blickte zum Red Mountain hoch, und meine Depression setzte wieder ein. Es sah nackt und bloß aus ohne die Statue von Vulcanus, der dort seine Fackel hochgehalten und dem gesamten Süden den nackten Hintern gezeigt hatte. Wir brauchten ihn wieder. Der Vulcanus Park war geschlossen, aber neulich nachts hatten sich ein paar Teenager hineingeschlichen und der abmontierten Statue die Fußnägel rot lackiert. Wenn er nicht bald wieder auf seinem Podest stünde, würde es sicher noch mehr Vandalismus geben. Wer auch immer die glänzende Idee gehabt hatte, die größte Eisenstatue der Welt mit Beton zu füllen, sollte seinen Kopf untersuchen lassen. Zumal man im Haupt der Statue auch noch ein Loch gelassen hatte, durch das Wasser eindringen und gefrieren konnte.
Ich rieb mir die Stirn.
»Kopfschmerzen?«, fragte mich Debbie.
Ich nickte.
»Er hatte eine hübsche Stimme. Kaum einen Akzent.«
»Griffin Mooncloth?«
Debbie seufzte und fuhr auf die Abbiegespur. »Er hat auf meinem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen, dass er einen Termin brauche. Als ich ihn zurückrief, hatte ich seinen Anrufbeantworter dran. Ich nannte ihm 15 Uhr am nächsten Tag als Termin und sagte, dass er mich zurückrufen solle, wenn das nicht okay sei. Das war an dem Tag, an dem er ermordet wurde.«
»Er hatte einen Anrufbeantworter?«
Debbie nickte. »Das war sicher eines von diesen tragbaren Dingern, die du an jedes Telefon anstecken kannst. Ich habe die Polizei angerufen und es ihnen erzählt, als ich hörte, was mit ihm passiert war. Habe ihnen die Nummer gegeben.«
»Er wohnte also nicht im Hotel?«
»Es war ein Direktanschluss. Einige dieser Business-Suite-Motels haben das allerdings auch.« Debbie nahm die Ausfahrt. »Ich wüsste so gern, was er gewollt hat und wie er an meinen Namen gekommen ist. Er sagte mir nur, ich sei ihm empfohlen worden.«
»Hmmm.« Ich schloss die Augen. Ich war fast zu Hause, wo ich in meinen Bademantel schlüpfen, eine Dose Nudel-mit-Huhn-Suppe öffnen und eine weitere Tablette vom Antibiotikum nehmen würde. Muffin und ich würden uns dann die ›Rosie-Show‹ oder einen Film auf ›Lifetime‹ ansehen.
»Mama ist bei dir«, sagte Debbie.
Ich öffnete die Augen. Mary Alice und Tammy Sue Ludmiller standen im Vorgarten und unterhielten sich mit Mitzi.
»Wo um alles in der Welt hast du gesteckt?«, fragte Schwesterherz, als ich dem Auto entstieg. »Mitzi hat gesagt, du hättest das Haus mit zwei Herren in Anzügen verlassen.«
Tammy Sue sagte: »War das nicht ein Filmtitel? ›Zwei Männer in Anzügen?‹«
Schwesterherz schüttelte den Kopf. Ich denke, es war ›Zwei Männer und ein Baby‹.«
»›Drei Männer und ein Baby‹«, korrigierte sie Mitzi. »Und sie ging mit zwei Männern in Anzügen weg. Ich habe sie aus meinem Küchenfenster gesehen. Sie ging ganz gekrümmt, und ich rannte schnurstracks hinaus, um zu schauen, was mit ihr los war, aber sie waren schon weg. Ich musste mich ja vorher anziehen, was mich eine oder zwei Minuten gekostet hat.« Mitzi wandte sich mir zu. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Patricia Anne.«
Alle drei blickten mich fragend an, welche Erklärung ich wohl für die Sorgen hatte, die sie sich gemacht hatten.
»Ich wurde wegen Mordverdacht verhaftet und war auf dem Polizeirevier.«
»Du meine Güte!«, rief Mitzi und griff sich an die Brust. »Und das bei der Nebenhöhle.«
»Es war wegen des Messers«, erklärte Debbie, während sie um das Auto herumkam. »Aber jetzt ist alles in Butter.«
In Butter? Alles war in Butter? Lieber Gott. Ich hatte diesen Ausdruck jahrzehntelang nicht gehört.
Tammy Sue rollte mit den Augen. »Die denken, sie hat diesen Mooncloth ermordet? Das ist lächerlich. Sie saß direkt in der ersten Reihe.«
»Sie haben so ziemlich ausgeschlossen, dass sie ihn ermordet hat«, sagte Debbie.
»Nun, das will ich hoffen. Und außerdem«, fuhr Tammy Sue fort, »konnte Larry ja einen Blick auf die Person erhaschen, die es getan hat, und zwar just in dem Moment, als sie Beine schwingend in Richtung Bühnenrampe liefen, also kann Mrs Hollowell es nicht gewesen sein.«
»Patricia Anne ist ohnehin nicht kräftig genug, um ein Schnappmesser in jemanden hineinzurammen. Sie war immer schon schwach wie ein junges Kätzchen mit ihren Essproblemen«, sagte Schwesterherz.
Die Art, wie sie über mich sprachen, gab mir zunehmend das Gefühl, unsichtbar zu sein. Ich streckte mich zu meiner vollen Höhe von 1,55 Metern und verkündete, dass ich jetzt ins Haus gehen würde, um Aspirin und mein Antibiotikum zu nehmen und eine Dose Suppe zu öffnen.
»Aber wir wollten dich zum Mittagessen in den Tannehill Park mitnehmen. Ich möchte Tammy Sue die Kirche zeigen und von ihr wissen, was sie über den Empfang denkt.«
Offenkundig machte Schwesterherz Fortschritte bei ihrer Demnächst-Schwiegertochter, indem sie sie in ihre Hochzeitspläne einbezog.
»Ich möchte mitkommen«, sagte Debbie. »Geht das? Ich muss nur kurz zu Hause haltmachen und Bruderherz stillen. Kann ich da unten zu euch stoßen?«
»Wir fahren einfach bei dir vorbei und nehmen ihn mit. Wie wäre das?« Schwesterherz wandte sich an Mitzi. »Willst du auch mitkommen, Mitzi? Ich brauche jeden nur möglichen Input. Zum Beispiel, ob lange Kleider ein Problem sind oder nicht.«
»Lass mich nur schnell meine Handtasche holen.«
Einen Moment lang erwog ich, ins Auto zu steigen und mit ihnen zu fahren. Dann fiel mir ein, dass Tim Hawkins am Nachmittag vorbeikommen wollte, um ein paar Fragen zu stellen. Also winkte ich ihnen hinterher und ging hinein, um meine Suppe warm zu machen.
Auf meinem Anrufbeantworter waren drei Nachrichten, zwei von Fred und eine von Bernice Armstrong. Fred wollte wissen, wie es mir gehe, und Bernice bedankte sich für meinen Anruf am Vorabend, in dem ich mich nach Dusk erkundigt hatte. Es tue ihr leid, dass sie den Anruf verpasst habe. Dusk fühle sich sehr viel besser und würde wahrscheinlich in wenigen Tagen nach New York zurückkehren. Ich nahm mir vor, sie zurückzurufen, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.
Ich rief Fred an und sagte ihm, dass alles in Ordnung sei mit mir. Ich hatte beschlossen, dass ich seine Heimkehr abwarten würde, bevor ich ihm von meiner Verhaftung erzählte. Das würde mehr als einen Telefonanruf erfordern. Bernice’ Leitung war besetzt, weshalb ich mir meine Nudel-mit-Huhn-Suppe warm machte und mich an den Küchentisch setzte. Ich war hungrig, stellte ich fest, als ich den ersten Löffel voll kostete. Hier an meinem Küchentisch herrschte Normalität. Die Sonne schien durch das Dachfenster im Wohnzimmer, Woofer markierte seinen Baum im Garten, und Muffin lag ausgestreckt auf dem Sofa. Ich bröselte ein paar Cracker in die Suppe und entspannte mich zum ersten Mal an diesem Tag. Handschellen? Recht auf Aussageverweigerung? Stimmen-Analysator? Der gesamte Morgen fing an, so irreal zu werden wie eine Reise zum Mars.
Aber jemand hatte eine Mordwaffe in meiner Handtasche versenkt. Das war real. Ich konnte sie noch immer in meiner Hand fühlen – kalt, metallen –, den wie eine Krone geformten Verschluss vor mir sehen, das herausfahrende Geräusch der Klinge hören. Ich zitterte und zwang mich dazu, an angenehmere Dinge zu denken. Haley. Joanna.
Ich war so sehr in meine Gedanken vertieft, dass mich das Klingeln des Telefons zusammenfahren ließ.
»Mrs Hollowell?«, sagte eine tiefe männliche Stimme, als ich abnahm. »Hier ist Larry Ludmiller. Ist Tammy Sue zufällig bei Ihnen? Ich weiß, dass sie mit Mrs Crane unterwegs ist, und habe deshalb bei dieser zu Hause angerufen. Tiffany sagte mir aber, sie sei wahrscheinlich bei Ihnen.«
»Sie sind auf dem Weg zum Mittagessen in den Tannehill Park«, erklärte ich. Ich gab ihm die Autotelefonnummer meiner Schwester. Er bedankte sich bei mir und legte auf. Ich dachte erst Stunden später wieder an diese Unterhaltung. Zu diesem Zeitpunkt schien sie mir nicht wichtig.
Tim Hawkins tauchte gegen vier Uhr auf. Ich hatte vorher ein kurzes Mittagsschläfchen gemacht, und das Antibiotikum schien anzuschlagen. Ich fühlte mich besser.
»Haben Sie Ihre Handschellen dabei?«, fragte ich ihn, als er die Tür öffnete.
»Nein, Ma’am. Die Sache tut mir so verdammt leid, Mrs Hollowell.« Er wurde tatsächlich rot. »Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise.«
»Ich weiß. So sind die Regeln.«
»Ja, Ma’am. Meine Mama würde einen Anfall bekommen. Ich bin sicher, dass Sie sich noch an sie erinnern. Sie war Elternbeiratsvorsitzende. Hat dafür gesorgt, dass die Bühnenbeleuchtung angebracht wurde. Die Spots.«
»Bisschen klein geraten? Spalt zwischen den Schneidezähnen?«
»Das ist sie.«
»Wie geht es ihr?«
»Gut.«
»Bestellen Sie ihr schöne Grüße. Sagen Sie ihr, dass sich immer noch alle in der Schule an dieser Beleuchtung erfreuen.«
Wahrend wir auf diese Weise plauderten, führte ich Tim nach hinten ins Wohnzimmer und bedeutete ihm, er möge auf dem Sofa Platz nehmen. Er lehnte den Kaffee, den ich ihm anbot, ab und zog sein Notizbuch heraus.
»Mrs Hollowell«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie nichts mit der Erdolchung zu tun haben, aber wir müssen herausfinden, wie das Messer in Ihre Handtasche geraten ist.«
»Absolut«, pflichtete ich ihm bei.
»Haben Sie eine Theorie?«
Ich erzählte ihm alles über die Dinnerparty zu Hause bei Mary Alice und wie die Tasche auf dem Tisch gestanden hatte. Ich nannte die Namen der Leute, die Zugang zu ihr gehabt hatten, und sagte ihm, wie sehr mir der Gedanke zuwider sei, dass es einer von den Gästen gewesen sein könnte, weil meine Schwester beabsichtigte, Virgil Stuckey zu heiraten, und sie allesamt mit ihm verwandt seien.
Tim notierte die Namen und räumte ein, was für ein guter Mann Sheriff Stuckey war. »Ich habe in mehreren Fällen mit ihm zusammengearbeitet«, sagte er. »Wissen Sie, an wen er mich erinnert? An Willard Scott.«
Ich gab zu, dass er mich sowohl an Willard als auch an Norman Schwarzkopf erinnerte und dass er in der Tat ein guter Mann war.
»Timmy«, sagte ich ihm, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, was ich über Virgil junior, Larry, Tammy Sue und Olivia wusste, und das war nicht allzu viel, »wissen Sie, was Griffin Mooncloth in Birmingham gemacht hat?«
»Nein, Ma’am.«
Er log. Dreißig Jahre Unterrichtserfahrung sind besser als jeder Lügendetektor oder Stimmen-Stress-Analysator, wenn es darum geht, eine Lüge zu erkennen.
»Er hat einen Termin mit meiner Nichte vereinbart, die Anwältin ist, brauchte also juristischen Rat.«
»Ja, Ma’am. Ihre Nichte hat uns angerufen. Wir überprüfen das. Was wir jetzt herausfinden müssen, ist, wer von diesen Personen das Messer gehabt haben könnte. Ich denke, das würde uns eine Menge sagen.«
Uns eine Menge sagen? Ich sah Timmy an, um zu erkennen, ob er es ernst meinte. Es war so.
Ich entgegnete: »Jeder von ihnen hatte Zugang zu meiner Handtasche, da sie ja direkt auf dem Spieltisch stand. Aber wissen Sie, was keinen Sinn für mich ergibt? Die Tatsache, dass, wer immer es auch war, ein paar Tage lang ein blutiges Schnappmesser mit sich herumgetragen hat. Warum wurde es nicht einfach irgendwo weggeworfen, in einen Graben oder so? Warum hat man es in meine Tasche gesteckt?«
»Weil man versuchen wollte, Ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben?«
Erneut prüfte ich seinen Gesichtsausdruck. Ja, er meinte es ernst.
Ich schüttelte den Kopf. »Alle wussten, dass ich im Publikum saß.«
»Vielleicht wollte man jemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben?«
»Indem man mir das Messer unterjubelte?«
»Es sind schon seltsamere Dinge passiert.«
Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, was, entschloss mich aber, nicht zu fragen. Ich rieb mir den Kopf, der wieder zu schmerzen begann. Wie seltsam sich dieser Tag entwickelte.
Ich wiederholte einfach, was ich ihm zuvor schon gesagt hatte. Alles, was ich wusste, war, dass Virgil junior ein Elvis-Imitator war und Larry Ludmiller so etwas wie ein Künstleragent; Olivia, seine Schwester, schien völlig absorbiert von Virgil junior, und Tammy Sue verkaufte Immobilien. Wir hatten ein nettes Abendessen mit Steaks, weil meine Schwester und Virgil den Kindern von ihrer geplanten Heirat erzählen wollten. Lediglich Virgil senior hatte früher weggemusst, und Tiffany, die patente Putzfee, war zu einer Verabredung verschwunden, aber sie wusste nichts über die Vorgänge, da war ich mir sicher.
Timmy sah mich an, als erwartete er mehr.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist alles.«
Timmy klappte sein Notizbuch zu und stand auf. »Danke, Mrs Hollowell.«
»Ich habe Ihnen nicht viel erzählt, oder?«, sagte ich, während ich ihm in Richtung Tür folgte.
»Eigentlich doch.«
»Was?«
Er beugte sich zu mir hin und küsste mich auf die Wange. »Erzählen Sie meiner Mutter nicht, dass ich Sie verhaftet habe.« Und dann war er bereits weg, um sich auf halbem Weg noch einmal winkend umzudrehen.
Was zum Teufel hatte ich ihm erzählt?
Die Sonne stand tief am Himmel, aber es war noch immer angenehm. Das Beste für meine Kopfschmerzen, entschied ich, war ein Spaziergang. Ich blickte Timmy hinterher, als er davonfuhr, und ging, nach wie vor verwirrt, los, um Woofers Leine zu holen.
In Mitzis Wintergarten brannte Licht. Die Gruppe war also zurück aus Tannehill. Diesmal sah es so aus, als würde Schwesterherz tatsächlich heiraten. Ich blieb stehen, damit Woofer einen Telefonmast beschnuppern konnte, und ließ diese Tatsache auf mich wirken. Es hatte immer Männer im Leben meiner Schwester gegeben, abgesehen von ihren drei Ehemännern, deren Zeit mit ihr nur kurz war. Aber schön, wie sie mir stets in Erinnerung ruft. Männer lieben sie, lieben sämtliche sichtbaren 113 Kilo an ihr. Und ich kann das verstehen. Ja, sie ist eine alte Nervensäge, wie Fred sagt, aber sie hat eine Lebensfreude, die ansteckend und wundervoll ist. Ich hoffte, Virgil würde das zu schätzen wissen. Aber sicher würde er das.
Ich ging den Gehsteig entlang und kickte ein paar Pinienzapfen aus dem Weg, während ich über das Abendessen neulich und das Schnappmesser nachdachte. Der Gedanke war erschreckend, dass womöglich eine dieser Virgil so nahestehenden Personen dafür verantwortlich war, dass das Messer in meiner Tasche gesteckt hatte. Im Rücken von Griffin Mooncloth. Mich schauderte. Tammy Sue hatte neben mir gesessen; sie schied also aus. War Olivia im Alabama Theatre gewesen? Virgil junior und Larry ja, mit Sicherheit. Dicht neben Griffin.
Aber welches Motiv könnten sie haben? Nach eigener Aussage hatten Virgil junior und Larry keine Ahnung, wer Griffin Mooncloth war. Wusste es Olivia? Gab es da irgendeine Verbindung, von der Tim Hawkins Kenntnis hatte und die ich ihm während unseres Gesprächs bestätigt hatte? Ich dachte über Olivia nach und darüber, wie sie an Virgil junior geklebt hatte.
»Es ergibt keinen Sinn«, sagte ich zu Woofer, der sich nach mir umblickte und zustimmend nickte. »Ein Mann wird mitten unter tausend Menschen ermordet, und niemand bekommt mit, wie es passiert.« Ich hielt inne. »Nun, Larry Ludmiller sagt, er habe ganz flüchtig etwas gesehen, aber Tammy Sue meint, er könne ohne seine Brille nichts erkennen.«
Woofer blickte mich an, als würde auch er darüber rätseln.
»Und wenn Dusk Armstrong nicht in einer Tanzklasse mit diesem Mooncloth gewesen wäre, hätte kein Mensch ihn identifizieren können. Zumindest nicht sofort.«
Woofer seufzte und setzte sich. Es war in der Tat ein Rätsel. Aber mein Nachdenken über Dusk Armstrong hatte mir in Erinnerung gerufen, dass ich den Anruf ihrer Mutter nicht beantwortet hatte. Außerdem war es kühler im Freien, als ich gedacht hatte.
»Ich habe draußen in der Kälte nichts zu suchen, Woofer«, sagte ich. »Ich fange mir noch eine Lungenentzündung ein.«
Er trottete friedfertig mit mir zum Haus zurück. An manchen Tagen gingen wir eine Meile spazieren, an manchen nur um einen Block. Aber immer wartete ein Leckerbissen auf ihn.
»Dusk geht es viel besser«, sagte Bernice auf meine Frage hin. »Sie wollte nicht, dass ich sie zum Arzt bringe, konnte aber heute schon wieder etwas essen. Vielleicht war es ja ein Virus, aber ich denke, es war der Schock darüber, dass dieser Mann, den sie kannte, in ihrem Beisein im Alabama Theatre ermordet wurde. Ich wäre Gott weiß wie mitgenommen, wenn ich jemand Bekannten zu Gesicht bekäme, erdolcht und mausetot, ganz zu schweigen davon, dass er in einen Orchestergraben gestürzt ist.«
Ich stimmte zu, dass einem dies gelinde gesagt an die Nerven gehen könne, und sagte ihr, dass ich froh sei darüber, dass Dusk sich wieder besser fühlte.
»Was ich dir aber noch sagen wollte, ist, dass ich den wundervollsten Schaukelstuhl gefunden habe, den du dir vorstellen kannst. Mitzi hat mir erzählt, dass du einen für Haley suchst. Es ist einer, den ich für Dawn gekauft hatte, als sie das erste Mal schwanger war. Ein Mann hat ihn für Prime Time Treasures angefertigt. Du weißt, das ist dieser Kunsthandwerksladen in Homewood, in dem ältere Leute ihre Arbeiten verkaufen. Ich war so aufgeregt, als ich ihn damals fand. Ich schwöre dir, Patricia Anne, er ist absolut perfekt, um darin ein Baby zu wiegen. Und bequem. Er quietscht sogar ein kleines bisschen. Egal, das war jedenfalls mein Mitbringsel für Dawns Baby-Geschenkparty. Stell dir vor, ich habe ihn sogar einpacken lassen damals. Du hast noch nie so viel Papier und Klebeband gesehen, und dann musste ich mir noch Jerrys Van ausleihen, weil ich ihn nicht in mein Auto bekam.« Bernice hielt kurz inne, um Atem zu holen. »Und kannst du es fassen, dass Mary Lou Rider, Dawns Schwiegermutter, das gleiche Geschenk mitbrachte? Von all den Dingen in Birmingham, die man für Babys erstehen kann, hatten wir beide das Gleiche gekauft. Dawn hatte natürlich das Gefühl, sie müsse den behalten, den sie von Mary Lou bekommen hatte. Wollte ihre Gefühle nicht verletzen, was ich verstehen konnte. Aber glaub nicht, dass ich auch nur ein Fünkchen Unterschied gesehen hätte.«
»Du konntest ihn nicht zurückbringen?«
»Nein, aber das war okay. Ich dachte, dass Day oder Dusk ihn einmal nehmen würden, aber die sagen mir, ich sollte es aufgeben. Keine der beiden plant, Kinder zu haben. Sie gehen beide völlig in ihrer Karriere auf.«
»Vielleicht ändern sie ja noch ihre Meinung.«
»Das bezweifle ich. Aber falls doch, kann ihnen Dawn ja ihren Schaukelstuhl vorbeibringen. Ihre Kinder sind jetzt acht und zwölf. Kannst du das glauben?«
Ich konnte mir plastisch vorstellen, wie Bernice jetzt den Kopf schütteln würde, genau wie ich, wenn ich an meine beiden Enkelsöhne Charlie und Sam in Atlanta dachte, die in Windeseile auf das Teenageralter zusteuerten.
»Komm doch morgen früh mal rüber«, fuhr Bernice fort. »Er steht oben auf dem Speicher, und ich bin nicht beleidigt, wenn du ihn nicht so toll findest wie ich. Aber ich mag den Gedanken, dass Haley vielleicht ihr Kleines darin schaukelt. Du glaubst nicht, wie wunderbar sie zu uns allen war, als Jerry seine Herzoperation hatte, Patricia Anne. Ich hoffe, sie gibt ihren Krankenschwesterberuf nicht auf.«
Nichts ist schöner, als wenn man solch nette Dinge über die eigenen Kinder hört. Ich dankte Bernice und sagte ihr, dass ich definitiv am nächsten Morgen zu ihr rüberkommen würde, so es die Nebenhöhlen erlaubten. Ich legte lächelnd auf, nahm eine Dose Rindereintopf aus der Speisekammer, öffnete eine Dose Cracker für die Garnierung und hatte das Abendessen fertig, als Fred hereinkam.
»Riecht gut hier«, sagte er. Er umarmte mich und ging zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen.
»Ich bin heute festgenommen worden«, sagte ich.
»Wirklich?« Er machte die Dose auf, nahm einen ordentlichen Zug und entschwand in Richtung Flur.
Ich wartete.
Wenig später war er zurück. Er sah erschrocken aus. »Du bist was?«
»Dafür setzen wir uns besser«, sagte ich.