5

Der Mann sah aus wie Ende dreißig. Er war gut gekleidet, und während ich mit offenem Mund dastand, zog er ein weißes Taschentuch hervor und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Vielleicht waren es auch Tränen.

Sicher hatte er nicht gesagt, dass er meine Nichte befruchten wolle. Vielleicht hatte die Musik dieser Cock-Fight-Gruppe am Abend vorher mein Gehör geschädigt. Ich klopfte mir leicht auf die Ohren und fragte erneut: »Was?«

»Ich bin Charles Boudreau, Mrs Hollowell, Marilyns Galan.«

Nicht Freund. Galan. Mein ganzes Leben lang waren Männer keine Galane gewesen. Wollte er mich veralbern?

»Hat sie mich erwähnt?« Er hatte die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte, sie waren von einem dunklen, seelenvollen Braun, mit Wimpern, für die jede Frau töten würde.

»Nicht dass ich mich erinnere.«

»Ist sie hier? In Birmingham?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Er griff in seine Tasche und reichte mir eine feuchte Visitenkarte durch den Türspalt.

»Also, wenn sie hier auftaucht, sagen Sie ihr dann bitte, dass ich im Tutwiler Hotel bin und dass ich, falls es nicht schon zu spät ist, bereit und willens bin. Nicht nur willens, sondern freudig erregt. Begierig. In ekstatischer Erwartung.«

Ich warf einen Blick auf die Karte. Charles Steward Boudreau, Anwalt, Kanzlei Boudreau und Partner, Lafayette, Louisiana.

»Ich werde es ihr sagen, Mr Boudreau.«

»Ich bin Ihnen überaus zu Dank verbunden, Ma’am.«

Ich schwöre, er machte eine leichte Verbeugung, bevor er sich umdrehte und zu dem roten Nissan zurückkehrte, den er am Bordstein geparkt hatte, wobei er so langsam ging, als würde der Himmel nicht eimerweise Wasser auf ihn herabschütten. Er sah so durchgeweicht aus, dass ich einen Moment lang darüber nachdachte, ihn zurückzurufen und ihm eine heiße Schokolade zu kochen.

Lass niemals Fremde in dein Haus, sagte mein gesunder Menschenverstand.

Aber er sieht so bemitleidenswert aus, überlegte ich.

Der Mann ist durchgeknallt. Wer sonst tritt an deine Haustür und verkündet, dass er gekommen sei, um deine Nichte zu befruchten?

Vollkommen verrückt, stimmte ich zu. Besser, man bittet ihn nicht ins Haus.

Ich ging ins Wohnzimmer und wählte Debbies Nummer.

»Hast du Marilyn je von einem Charles Boudreau aus Lafayette, Louisiana, sprechen hören?«, fragte ich, als sie dranging.

»Der Name sagt mir irgendetwas. Warum?«

»Er ist hier, um sie zu befruchten.«

»Bei dir zu Hause?«

»Ich weiß nicht, wo das Ereignis stattfinden soll. Aber er ist im Tutwiler abgestiegen. Wir sollen ihr sagen, dass er willens, freudig erregt, begierig, in ekstatischer Erwartung sei.«

»Was?«

Ich wiederholte die Adjektive und fügte hinzu, dass er darüber hinaus die Befürchtung hege, es sei zu spät.

»Was bedeutet das: ›zu spät‹?«

»Glaub mir. Ich habe keinerlei Vorstellung.«

»Vielleicht ist sie ja schon schwanger, und das ist es, was ich Mama nicht sagen soll.«

»Könnte sein.«

»Aber Marilyn ist die Vernünftigere von uns. Sie würde nicht einfach so hoppla hopp schwanger werden wie ich.«

»Du hast es dir genau überlegt, Liebes. Du wolltest Kinder, und die Samenbank der University of Alabama war eine gute Lösung. Du hattest damals keine Ahnung, dass ein paar Jahre später Henry auftauchen würde.«

»Richtig. Und wenn ich es nicht getan hätte, hätte ich heute nicht meine wundervollen Mädchen.«

»Daran wollen wir nicht einmal denken. Aber hör zu, wenn Marilyn sich bei dir meldet, lass es mich wissen. Bis dahin erwähne ich die Sache erst einmal nicht gegenüber deiner Mutter.«

»Ich auch nicht. Sie wäre schnurstracks unten im Tutwiler, um Charles Boudreau in die Mangel zu nehmen.« Debbie hielt kurz inne. »Klingt nach Cajun, dem New-Orleans-Dialekt, oder?«

»Möglich. Er hat zauberhafte dunkle Augen.«

»Marilyn hat immer sehr gut aussehende Männer an Land gezogen.«

»Du warst da auch nicht so schlecht.«

»Stimmt. Auf die guten alten Zeiten, Tante Pat.«

Wir legten beide lachend auf.

Ich putzte meine Zähne, kämmte meine Haare und trug ein wenig Lippenstift auf, das minimale Pflichtprogramm, wie ich fand, falls ich auf dem Weg zu Philips Haus von einem Laster umgenietet werden sollte. Jede Frau auf der Welt weiß, dass man saubere Unterwäsche tragen muss, falls man von einem Lastwagen umgefahren wird. Aber der Lippenstift war vielleicht eine Südstaaten-Spezialität. Man wollte hübsch aussehen, wenn die Feuerwehrmänner die Haustür mit Rettungsscheren aus den Angeln hoben oder wenn die Sanitäter mit einem zum wartenden Hubschrauber eilten, der einen zum Carraway- oder Universitätshospital fliegen würde. Der Zustand deiner Unterwäsche mochte zu diesem Zeitpunkt zweifelhaft sein, aber, verdammt, deine Lippen würden korallenrot schimmern, und das hatte doch etwas für sich.

Der Regen hatte kein bisschen nachgelassen. Wenn das so weiterging, würde der Village Creek rechtzeitig über die Ufer getreten sein, um die Wetterfrösche in den Fünf-Uhr-Nachrichten auf den Plan zu rufen. Einer von ihnen würde unter einem riesigen Schirm stehen, auf den der Regen prasselte. »Schauen Sie«, würden sie aufgeregt ausrufen und auf die Geröllmassen deuten, die der ansteigende Bach mit sich führte. Vor Jahren bereits hatte die Stadt die Häuser gekauft, die von Überflutung bedroht waren, aber der Anblick ist nach wie vor eine beliebte Aufnahme fürs Fernsehen. Ich habe einen Reporter gesehen, der auf eine im Wasser schwimmende Schaumstoffkühlbox deutete, während die Blitze nur so um ihn herum zuckten. »Schauen Sie!«

Ich zog meinen alten gelben Vinylumhang mit der Kapuze aus dem Schrank im Flur und rannte zu meinem Auto. Der Umhang ist nicht das Outfit, das ich gern tragen würde, wenn ich nach der sprichwörtlichen Kollision mit dem sprichwörtlichen Lastwagen aus meinem Auto gezogen würde. Ich denke, ich sehe darin aus, als würde ich Werbung für Fischstäbchen machen. Aber das war jetzt ein Tag für Regenumhänge.

Philips Haus (auch ich würde noch lange brauchen, um es als das von Haley anzusehen) ist nicht weit weg von dem, das Mary Alice gehört, und liegt in einem Viertel namens Redmont. Das ist ein wundervoller alter Teil von Birmingham oben auf dem Red Mountain, von wo aus man einen Blick über die ganze Stadt hat. Die Stahlbarone bauten ihre Häuser dort oben. Aus ihren Fenstern konnten sie nachts die Hochöfen ihrer Fabriken das Tal erleuchten sehen. Philips Großvater, der dieses Haus gebaut hatte, war zwar keiner dieser Industriekapitäne gewesen, aber er hatte eine der ersten Banken von Birmingham gegründet und die Konten der Stahlfirmen sehr gut verwaltet. Sein Vater und sein Onkel Philip (Mary Alice’ zweiter Ehemann) waren in die Fußstapfen ihrer Väter getreten und hatten die Bank weitergeführt. Die jüngere Generation hatte sie jedoch verkauft. Schwesterherz und Debbie hatten ordentlich was abbekommen von dem Erlös. Debbie war damals noch ein Kind – außerdem war sie noch nie der Typ, dem man mit Wohlstand imponieren konnte, aber Fred hatte Tränen gelacht, als Schwesterherz in unsere Küche geplatzt war, mit einem Scheck gewedelt und dann ausgerufen hatte, dass sie, Gott sei ihr Zeuge, nie wieder hungern müsste.

»Dir ist dein ganzes Leben lang nicht eine Mahlzeit entgangen«, prustete er.

»Und jetzt wird das immer so sein, dank meines geliebten Philip.«

Zu der Zeit war sie mit ihrem geliebten Roger verheiratet, der noch reicher war als Philip.

Ich bog in die kreisrunde Auffahrt ein und blickte auf das Haus. Aus dunklem Backstein gebaut, war es ein gewöhnliches großes Haus, das keinem speziellen Architekturstil zuzuordnen war. An einem regnerischen Tag wie dem heutigen sah es geradezu düster aus, und ich dachte an den Unterschied zwischen diesem und dem Haus, das Haley und Tom besessen hatten. Es war ganz weiß gewesen, mit ein paar farbigen Akzenten, orangefarbenen Küchenstühlen, abstrakten Bildern. Sie hatte es einen Monat, nachdem Tom ums Leben gekommen war, verkauft und war in eine Wohnung gezogen. Jetzt studierte ich dieses Gebäude hier und versuchte herauszufinden, wie man es einladender und gemütlicher machen konnte. Eine Hollywoodschaukel auf der vorderen Terrasse würde schon Wunder bewirken.

Als ich mein Auto verließ, hielt ein neuer Mercedes hinter mir, und Yul Brynner stieg aus. Wir gingen beide auf die Veranda zu.

»Ich habe dein Auto gesehen«, sagte Schwesterherz, als ich die Tür aufschloss. »Ich war gerade auf dem Heimweg.«

Ich blickte zu dem Mercedes zurück. »Wie macht sich dein neues Auto?«

»Ich vermisse meinen Jaguar. Vielleicht muss ich den hier wieder austauschen – und ich pfeife drauf, ob es der Wirtschaft im Lande hilft.«

Schwesterherz war einige Monate zuvor mit ihrem geliebten Jaguar gegen einen Briefkasten gefahren (sie schwört, dass alles meine Schuld war), und Virgil hatte sie dazu überredet, den Mercedes zu kaufen, weil er in Alabama hergestellt wurde. Dass er in der Lage war, sie zu etwas zu überreden, war für mich der erste Hinweis gewesen, dass sie es wirklich ernst mit ihm meinte.

»War dein Training gut?«

Wir traten in die dunkle Eingangshalle. Ich zog mir den gelben Vinylumhang über den Kopf und versuchte, dabei nicht allzu viel Regenwasser zu versprühen.

»Sagen wir mal, wenn ein großer Mann von hinten käme und versuchen würde, sich an mir zu vergreifen, dann könnte ich ihn hochheben und ins Jenseits befördern.«

»Das klingt gut.« Ich schaute mich um, um einen Platz für den Umhang zu finden, und legte ihn schlussendlich auf einer Fußmatte hinter der Tür ab.

Mary Alice nickte und sah sich um. »Ich erinnere mich gar nicht, dass es hier so düster war. Ich schwöre, ich war hier auf Partys, und da sah es gut aus, und es roch auch gut.«

»Nun, Philip hat jahrelang allein hier gelebt nach Lorraines Tod, und die letzten sieben Monate war alles zugesperrt.«

»Allerdings.« Sie schnüffelte. »Haley wird alle Hände voll zu tun haben. Es riecht schrecklich.«

»Nur muffig. Lass uns die Heizung hochdrehen.« Ich ging den Flur hinunter, um den Thermostat höher zu stellen. Schwesterherz folgte mir und blieb stehen, um ins Badezimmer zu schauen.

»Igitt. Schwarz. Und schau dir mal diese Hirsche auf der Tapete an, Maus. Sehen die nicht tot aus?«

Ein beruhigendes Klicken war zu hören, als die Heizung ansprang. Gut. Ich ging zu Schwesterherz ins Badezimmer und sah mir die gemusterte Tapete an. Hellbraune und weiße Hirsche, die in einem dunkelgrünen Wald lagen.

»Sie ruhen sich nur aus«, sagte ich. »Es war anstrengend für sie, den ganzen Tag durch den Wald zu springen.«

»Durch den Wald zu springen. Zum Teufel. Sie sind so tot wie Bambis Mutter.«

»Sind sie nicht. Abgesehen davon ist nirgendwo Blut.«

»Das ist auf der Seite, die wir nicht sehen können, so wie bei diesem Moonflower-Typen gestern Abend.«

»Mooncloth.« Mich fröstelte. »Komm, wir machen uns einen Tee.«

Schwesterherz folgte mir in eine ausgesprochen hübsche Küche. Fenster auf beiden Seiten erlaubten einen wunderbaren Blick auf das Tal, und wenn Vulcanus wieder auf seinem Sockel stünde, würde Haley auch ihn sehen können, die majestätische Seitenansicht.

»Hast du mit Virgil noch weiter über die jüngsten Ereignisse gesprochen?« Ich suchte vergeblich nach einem Teekessel, füllte schließlich zwei Tassen mit Wasser und stellte sie in die Mikrowelle.

»Er sagt, sie wüssten nichts weiter.« Sie hielt mit fragendem Blick zwei Packungen mit Teebeuteln hoch, die sie ausfindig gemacht hatte.

Ich deutete auf ihre rechte Hand. »Zitronentee.«

»Ist wahrscheinlich so alt wie die Berge.«

»Wird uns aber wärmen.« Ich hatte einen schweren blauen Pullover über mein T-Shirt gezogen, aber mir war noch immer kalt.

»Was tun sie?«, fragte ich. »Reden sie mit all den Elvissen?«

Die Mikrowelle machte »ding«, und wir gingen mit unserem Tee an den Küchentisch. Unter uns lagen das Jones Valley und die Stadt Birmingham in Regen und Nebel gehüllt.

»Und mit Dusk Armstrong. Offenkundig hat sie nicht gewusst, dass Griffin Mooncloth hier in Birmingham war. Sie habe ihn überhaupt wenig gekannt, sagt sie.«

»Nun, irgendjemand hat ihn gekannt und konnte ihn nicht leiden.« Ich trank mit kleinen, vorsichtigen Schlucken den Zitronentee. Er war köstlich.

Schwesterherz rührte ihren Tee mit dem Finger um. »Und sie müssen ihm das Messer bei der Revuetanz-Szene in den Rücken gerammt haben, denn er war Teil der Formation, und ihm schien nichts zu fehlen, als sie sich nach vorne zum Bühnenrand bewegte.«

»Was das Ganze auf die Elvisse rechts und links von ihm einengt, meinst du nicht?«

»Genau das habe ich Virgil gesagt, aber er meinte, nein, jeder habe sich an ihn heranschleichen können, während sie sich zu einer Reihe aufstellten. Der zu seiner Linken war Larry Ludmiller, erinnere dich, der Mann von Tammy Fay.«

»Tammy Sue.«

Mary Alice zuckte mit den Schultern.

»Und wer stand rechts von ihm?«, fragte ich.

»Das hat Virgil nicht gesagt. Aber egal, wer es war, ich denke, er hat ihn nicht gekannt. Den Mooncloth-Knaben meine ich.«

»Nun, Larry kannte ihn auch nicht, oder?«

»Er sagt, er habe ihn noch nie in seinem Leben gesehen. Er habe sich gefragt, wer zum Teufel das sei, als er auf die Bühne getanzt kam.«

»Seltsam.« Ich schlürfte vorsichtig den heißen Tee.

»Das habe ich Virgil auch gesagt. Ich sagte: ›Virgil, vielleicht lag hier ein schwerer Fall von Elvis-Neid vor.‹«

»Elvis-Neid?« Ich spuckte fast den Tee aus.

Schwesterherz runzelte die Stirn angesichts meiner Reaktion.

»Elvis-Neid?«, wiederholte ich, nachdem ich heruntergeschluckt hatte. »Ist das irgendein psychologisches Problem, das zu gewalttätigem Verhalten führt?«

»Woher sollte ich das wissen?«

Ich rieb mir die Stirn. Irgendwie waren Kopfschmerzen im Anzug.

Wir fuhren beide hoch, als die Türglocke ging. Mary Alice vergoss Tee über ihr Yul-Brynner-Gewand und murmelte: »Scheiße.«

»Wer könnte das sein?«, fragte ich.

»Wahrscheinlich so ein Pfadfindermädchen, das Plätzchen verkauft. Ist das nicht die Jahreszeit dafür?«

»Während der Schulzeit und im strömenden Regen? Du spinnst.«

»Schau mal nach.«

Einen Moment lang dachte ich, es könnte Charles Boudreau sein, der mir auf seiner Suche nach Marilyn gefolgt war.

Die Glocke ging erneut. Zum zweiten Mal an diesem Tag blickte ich durch einen Türspion. Diesmal war ich entzückt angesichts dessen, was ich dort erspähte. Ich öffnete Officer Bo Mitchell vom Birmingham Police Department die Tür.

»Bo! Kommen Sie herein.« Ich machte Anstalten, sie zu umarmen, aber sie wehrte ab.

»Ich bin nass wie ein begossener Pudel.« Sie trat ein. »Wissen Sie, irgendetwas sagte mir gleich, dass Sie das sind, als der Anruf einging.«

»Welcher Anruf?«

»Wegen Einbruchdiebstahls. In diverser und vielfältiger Form. Ich sagte mir: ›Bo, diverse und vielfältige Form klingt nach Patricia Anne und Mary Alice. Da wette ich drauf.‹«

»Wovon reden Sie?«

»Von der Alarmanlage, Patricia Anne. Die, bei der Sie dreißig Sekunden haben, um den Code einzugeben, bevor wir anrufen. Was wir auch getan haben; aber Sie haben nicht geantwortet.«

»Oh, Mist.« Ich rannte zurück in die Küche, öffnete die Tür zur Speisekammer und drückte 5-7-7-2.

»Was ist los? Wer ist das?« Schwesterherz stand an der Spüle und rubbelte mit einem feuchten Papierhandtuch auf ihrem Kampfkleidungsoberteil herum.

Bo grinste, als sie Schwesterherz in ihrer Aufmachung sah. »Sollen wir tanzen, dum dum dum?«

Schwesterherz wirbelte herum. »Hey Bo, ich nehme Kampfsportunterricht.«

»Gut, Sie werden es im Gefängnis gebrauchen können, weil Sie wegen Einbruchs verhaftet sind.«

»Verdammt. Die Alarmanlage. Warum haben Sie uns nicht angerufen?«

»Haben wir. Das Telefon ist abgestellt.«

»Das ist eine weitere Sache, die ich erledigen muss.« Ich griff in meine Tasche, zog mein kleines Notizbuch heraus und schrieb: Telefongesellschaft anrufen. »Sie kommen am 1. April nach Hause, Bo. Und Haley ist schwanger.«

»Na so was!« Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. »Junge oder Mädchen? Weiß sie es überhaupt?«

»Ein Mädchen.« Ich nahm eine weitere Tasse aus dem Schrank, füllte sie mit Wasser und stellte sie in die Mikrowelle. »Sie heißt Joanna, weil sie vom Papst gesegnet wurde.«

»Joanna Paula?«

»Hmmm.« Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich nahm einen Teebeutel aus der Schachtel. »Zitronentee?«

Sie nickte und wand sich aus ihrem Regenmantel.

»Was haben Sie gemacht, Bo?«, fragte Schwesterherz, während sie neben ihr Platz nahm.

»Heute Nachmittag? Einen Hund aus dem Village Creek gefischt. Möchte eine von Ihnen einen Hund? Woofer könnte Gesellschaft gebrauchen, Patricia Anne!«

»Er ist zu alt, um noch das Teilen zu lernen, Bo.« Ich reichte ihr die Tasse mit heißem Wasser und den Teebeutel.

»Ich denke, Joanie nimmt ihn, wenn niemand anderes Ansprüche auf ihn erhebt. Er hat sie abgeschleckt, als sie ihn in ein Handtuch gewickelt hat.«

»Sie sitzt aber nicht draußen im Auto, oder?« Joanie Salk ist Bos Partnerin. Joanie ist groß, dünn und weiß. Bo ist klein, mollig und schwarz, wenngleich nicht mehr so mollig wie zu der Zeit, als wir sie kennengelernt haben. Sie hat beschlossen und arbeitet darauf hin, der erste weibliche Polizeichef von Birmingham zu werden. Ich vermute, sie wird es schaffen.

»Nein. Sie macht einen Kurs an der Universität. Ich habe sie abgesetzt, soll Ihnen aber allen einen schönen Gruß bestellen.«

»Sie wussten wirklich, dass wir das waren?«, fragte Schwesterherz.

Bo grinste und schlürfte ihren Tee. »Ich vermute, sie waren gestern Abend auch alle im Alabama Theatre, als dieser Elvis-Typ umgebracht wurde, stimmt’s?«

»In der ersten Reihe«, gestand ich. »Woher wissen Sie das?«

»Das ergibt sich daraus, wie oft Sie über Leichen stolpern. Sie wissen doch, dass die Leute schon so weit sind, Sie nicht mehr zu ihren Partys einzuladen?«

Schwesterherz warf mir einen bösen Blick zu. »Das ist Patricia Annes Schuld. Ich bin, bevor sie in Rente ging, nicht einer einzigen Leiche begegnet.«

Ich schlug mit einer Papierserviette nach Yul Brynner.

Bo lachte schallend auf.

»Wie bitte?«, fragten wir beide.

»Ich habe Sheriff Stuckey unten in der Polizeistation getroffen, das ist alles. Er hat mir von gestern Abend erzählt. Ein netter Mann, Mary Alice.«

»So nett, dass ich ihn im Mai heirate.«

»Oh, welch eine Überraschung!« Bo bewegte ihren Teebeutel in der Tasse hin und her. »Glückwunsch.«

»Danke. Sie bekommen eine Einladung.«

»Sie hat vor, die Hochzeitsgäste in Violett und Sonnenblumengelb zu stecken«, brummte ich.

»Mein Gott, das will ich um keinen Preis verpassen.« Bo legte ihren Teebeutel auf den Untersatz und lächelte mich an. »Ich wette, Sie sind das Violett, Patricia Anne.«

»Sie benimmt sich auch wie eine Närrin deswegen«, sagte Schwesterherz. »Sie wissen, was für eine beige Person sie ist.«

»Ich bin nicht beige«, sagte ich und deutete auf meinen blauen Pullover.

»Beige ist doch nichts Schlechtes.« Bo nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Mmm, ist der gut.«

»Hat die Polizei irgendetwas über den Mann herausgefunden, der gestern Abend ermordet wurde?«, fragte ich. »Zum Beispiel, was er hier gesucht hat? Wir haben gehört, dass keiner der anderen Elvis-Darsteller ihn kannte.«

»Da wissen Sie mehr als ich. Sie waren dabei, als es passiert ist. Alles, was ich getan habe, war, Hunde aus dem Village Creek zu fischen.«

»Wir sahen ihn nur in den Orchestergraben stürzen«, sagte Schwesterherz. »Das hat aber gereicht, um die ganze Nacht Albträume zu haben.«

»Mir ging es genauso. Wir dachten, er hätte einen Herzanfall gehabt. Dass er erstochen wurde, davon wussten wir nichts.«

Bo nickte. »Wahrscheinlich mit einem Schnappmesser, so wie die Stichwunde aussah. Ein Schnappmesser liegt gut in der Hand, und man kann in nur einer Sekunde so viel Schaden damit anrichten.«

Schwesterherz und ich stellten beide unsere Teetassen ab.

»Sie haben es noch nicht gefunden?«, fragte ich.

»Nicht dass ich wüsste. Ich stelle nur Vermutungen über das Schnappmesser an. Wir haben den Bericht noch nicht.«

»Aber irgendjemand hätte doch voller Blut sein müssen, oder? Ich meine, mit einem Schnappmesser im Griff hätte man die Hände doch direkt am Körper des Opfers, oder nicht? Und alle Elvisse hatten weiße Anzüge an. Das müsste doch leicht zu überprüfen sein.«

»Da muss überhaupt nicht viel Blut geflossen sein«, sagte Bo. »Ein Hieb, dann einmal kurz hoch und quer und wieder raus. Das geht wirklich schnell, und Sie erwischen dabei die Aorta, die innen blutet, nicht außen.«

»Mein Gott«, sagte Schwesterherz. Sie hatte eine grünliche Farbe angenommen. »Wechseln wir das Thema. Das ist ja grausig.«

»Himmel, das ist wahr«, pflichtete Bo ihr bei. »Erzählen Sie mir von der Hochzeit.«

Was Schwesterherz tat, bis ins Detail. Details, von denen ich bislang noch gar nichts gewusst hatte. Ich bin sicher, dass sie sich die erst beim Erzählen ausgedacht hat. Kein vernünftiger Mensch würde seine Hochzeitsfeier auf einer Weide planen. Es gibt das Wort bukolisch, und es gibt das Wort idiotisch. Was mich betraf, hatte Schwesterherz sich für Letzteres entschieden.

Bo trank ihren Tee aus und sagte, sie müsse zurück an die Arbeit. Wahrscheinlich säßen wieder Leute auf ihren Autodächern unter der Brücke an der Fifth Avenue und warteten auf ihre Bergung. Gott weiß warum, aber jedes Mal, wenn es schlimm regnete, schien es alle dorthin zu ziehen. Sie zog ihren Regenmantel an und sagte uns, wir sollten uns benehmen. Wir versprachen es. Erst als sie weg war, fiel mir ein, dass ich ihr nicht von Griffin Mooncloths Verabredung mit Debbie erzählt hatte. Aber sicher hatte Debbie bereits angerufen und Bericht erstattet.

»Ich geh mal hoch und schaue nach, ob da ein Schaukelstuhl ist«, sagte ich. »Welches Zimmer sie wohl für das Baby nehmen?«

»Das kleine neben dem Schlafzimmer. Das, was Philip als Büro nutzt und wo all das Computerzeug herumliegt.«

»Natürlich.« Wir grinsten einander an. Dr. Philip Nachman standen einige große Veränderungen in seinem Leben bevor.

»Ein Schnappmesser«, sagte Mary Alice, als wir die Treppen hochgingen. Klingt nach ›West Side Story‹, oder? Mit all den Schlägereien. Irgendwie wie von gestern.«

»Von gestern, ha. Die Kids an der Schule nennen die Dinger Schnipser. Und sie lassen sich leichter verbergen als Pistolen.«

»Du steckst einfach voller Wissen, hab ich recht?«

»Du bist auch voll davon.« Ich erwartete, dass sie mir einen Klaps auf den Allerwertesten geben würde. Aber die Spitze war ihr offenkundig entgangen. Ich hatte mich gerade wieder entspannt, als sie »Yaa!« brüllte.

Ich übersprang zwei Stufen, um dem zu entgehen, was meine plötzlich zu Chuck Norris mutierte Schwester mir anzutun gedachte.

»Es funktioniert, stimmt’s?«, sagte sie lächelnd.