* 21

 

...frage ich mich oft, ob das Leben von Avalon sich je wieder regen wird, oder ob wir nie wieder mehr als eine Touristenattraktion und eine Marktstadt sein werden.

Werden diese toten Knochen sich Stück für Stück zusammenfügen, wie in Buckfastleigh geschehen? Man spricht davon, dass eine große neue Abtei im Schatten der alten entstehen soll... Und ich zumindest hoffe... verstockte Ungläubige, die ich bin, dass ich einmal ihr Angelusläuten von meiner hohen Veranda aus hören werde.

 

Dion Fortune, aus: Glastonbury

 

Kincaid wartete allein vor dem Abteil in der Notaufnahme auf Nachrichten von Gemma. Als der Arzt endlich herauskam, stand er auf. »Ist sie -«

  »Es geht ihr gut«, teilte ihm der Arzt mit. Seine Stimme klang munter, aber er wirkte irgendwie abwesend.

  »Aber was hat sie denn? Ist sie krank?«

  »Ah, nicht direkt. Aber warum gehen Sie nicht zu ihr rein und sprechen selbst mit ihr?«

  Er fand Gemma im Bett; sie trug ein Blaugeblümtes Krankenhausnachthemd, ihr Haar war offen und fiel ihr bis auf die Schultern. Er ging auf sie zu, setzte sich auf den Bettrand und sagte nur: »Was fehlt dir? Sag’s mir.«

  Sie lächelte zaghaft. »Mir fehlt eigentlich nichts. Ich bin einfach nur schwanger.«

  »Schwanger?«

  »Das kommt ziemlich häufig vor, weißt du, wenn man die Sachen macht, die wir so gemacht haben.«

  »Aber - wie lange schon?«

  »Acht bis zehn Wochen, meint der Doktor. Ich hätte es dir wohl eher sagen sollen. Ich war mir nur nicht sicher... und ich wusste nicht, wie es dir damit gehen würde... oder wie es mir damit eigentlich ging.«

  »Das Baby - wird es gesund sein?«

  »Die Plazenta ist ein wenig angerissen, aber es ist nichts allzu Ernstes. Ich muss zu einem Spezialisten, und der Doktor meint, ich sollte ein bisschen kürzer treten, als ich es gewohnt bin. Ich sollte in der nächsten Zeit besser keine Berge im Regen erklimmen oder Babys auf die Welt bringen.«

  Gemma schwanger? Von ihm? Kincaid schüttelte den Kopf, versuchte das Wunder zu begreifen, das ihm widerfahren war. Aber was hatte sie damit gemeint, als sie gesagt hatte, sie sei sich nicht sicher, wie es ihr damit gehe? »Gemma - dein Job - ich weiß, wie viel er dir bedeutet. Wie wirst du -«

  »Ich weiß es nicht«, sagte sie versonnen. »Aber heute Abend, als ich dachte, ich würde dieses Kind verlieren, da wurde mir klar, was für mich das Allerwichtigste ist.«

  Kincaid brachte kein Wort hervor. Er nahm nur ihre Hand in beide Hände.

 

An der Schwelle zu Faiths Krankenhauszimmer zögerte Winnie. Kincaid hatte ihr gesagt, dass Faith sich hartnäckig weigerte, gegen Andrew Anzeige zu erstatten, sodass die Polizei keine Handhabe hatte, ihn wegen des tätlichen Angriffs auf sie zu belangen. Doch wenn ihr Bruder deswegen Dankbarkeit empfand, dann hatte er sie jedenfalls noch nicht zum Ausdruck gebracht - im Gegenteil, er war noch nicht einmal bereit gewesen, über Faith zu sprechen. Bei ihren Besuchen blieb er stumm und gleichgültig.

  Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sich seine Genesung lange hinziehen könnte; Winnie vermutete, dass seine emotionale Heilung noch viel schwieriger sein würde - falls sie überhaupt möglich war. Aber sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben, und sie musste damit anfangen, dass sie die Dinge mit Faith regelte.

  Sie holte noch einmal Luft, dann öffnete sie die Tür und trat ein. Faith begrüßte sie mit einem Lächeln, und Winnie sagte Gott innerlich Dank dafür, dass dieses Mädchen in ihr Leben getreten war.

  Nachdem sie die kleine Bridget gebührend bewundert hatte, fragte sie: »Mit deinen Eltern - wie ist es gelaufen?«

  »Okay. Sie waren ganz hingerissen von Bridget, nicht wahr, mein Schätzchen«, gurrte sie dem Baby an ihrer Brust zu. »Aber ich kann nicht zu ihnen zurückgehen. Ich weiß nicht, wie wir zurechtkommen werden, Bridget und ich, aber ich weiß, dass ich in dieses Leben nicht mehr hineinpasse. Winnie - als ich herausfand, dass du Andrews Schwester bist, da hatte ich Angst, du könntest irgendwie erraten, von wem das Baby ist, und ich hatte doch versprochen, dass niemand es je erfahren würde -«

  »Es ist schon gut, Faith. Wir müssen jetzt an die Zukunft denken, und ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich könnte im Pfarrhaus ein bisschen Hilfe gebrauchen. Und selbst wenn Jack einzieht -«

  Faiths Gesicht strahlte. »Ihr werdet heiraten?«

  »Sobald es irgendwie geht«, gestand Winnie ein. »Aber selbst dann wird im Pfarrhaus noch genug Platz sein - es ist zwar ein zugiges altes Gemäuer, aber so lange, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst. Und wir sind schließlich eine Familie -«

  »Andrew. Er wird das nicht - ich meine, ich kann doch nicht -«

  »Aber sicher kannst du das tun. Andrew hat nicht darüber zu bestimmen, wer in meinem Haus wohnt.«

  »Aber -«

  »Mein Bruder steht so tief in deiner Schuld - das kann er nie wettzumachen hoffen. Aber für den Anfang kann er wenigstens für die kleine Bridget Unterhalt zahlen und sich an den Gedanken gewöhnen, dass wir alle irgendwie miteinander auskommen müssen.«

  Nachdem Winnie gegangen war, fiel Faith in einen tiefen und traumlosen Schlaf, und als sie aufwachte, wusste sie, was sie tun würde. Garnets Vermächtnis durfte nicht untergehen. Sie, Faith, würde ihr Werk mit Winnies Hilfe fortführen. Sie würde die Kunst der Fliesenherstellung erlernen.

  Sie grübelte immer noch über die Einzelheiten ihres Plans nach, als Nick an die Tür klopfte. Er war rührend um sie und Bridget bemüht, doch Faith fiel eine gewisse Verkrampftheit an seinem Benehmen auf, und sie spürte eine ungewohnte Distanz zwischen ihnen.

  »Nick, was ist los?«

  Er zögerte, bevor er ihren Blick erwiderte. »Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«

  »Was meinst du damit - dich zu verabschieden? Ich komme morgen nach Hause - das heißt, zu Jack nach Hause. Und dann hat Winnie mich gefragt, ob ich zu ihr ins Pfarrhaus ziehen möchte.«

  »Ich weiß«, erwiderte Nick. »Sie hat es mir gesagt. Aber ich gehe fort von Glastonbury. Ich muss zurück nach Northumberland, Faith, weil ich dort noch etwas zu erledigen habe.«

  Faith starrte ihn an. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie in ihrer Gedankenlosigkeit angenommen hatte, Nick würde immer dasein, so beständig wie die Sonne und der Mond.

  »Aber... du kommst doch wieder, nicht wahr?«, fragte sie, bemüht, mit fester Stimme zu sprechen.

  »Ich weiß es noch nicht. Aber wenn ich alles so hinkriege, wie ich denke, dann will ich vielleicht versuchen, einen Platz im Priesterseminar zu bekommen. Ich dachte - ich dachte eigentlich, jemand, der so viel Mist gebaut hat wie ich, könnte niemals Priester werden, aber Winnie sagt, man kann die Fehler anderer nur verstehen, wenn man selbst schon welche gemacht hat. Praktische Lebenserfahrung hat sie es genannt.« Er lächelte. »Schau nicht so schockiert drein. Es ist das, was ich immer schon gewollt habe; ich habe nur eine Weile gebraucht, um mir selbst darüber klar zu werden.«

  »Aber... Pater Nick?« Sie musterte ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Nick ein Priester, wie Winnie? »Naja...«, sagte sie zögernd, »ich denke, ich könnte mich dran gewöhnen.«

 

Gemma und Kincaid hatten alles, was sie über den Mord an Garnet Todd und Bram Allens Selbstmord wussten, an DCI Greely weitergegeben. Seine Leute hatten bereits Garnets fehlenden Ohrring in der Nähe des Teichs oberhalb ihres Hauses gefunden, ebenso wie eine Strähne von Garnets langem grau meliertem Haar, die sich in einem Knopf der Jacke verfangen hatte, die Bram Allen am Abend der Tat getragen hatte.

  Jetzt saßen sie vor dem Kamin in Jacks Wohnzimmer, tranken Tee und diskutierten die Ereignisse der vergangenen Tage. Andrews Hündin Phoebe, die vorübergehend aus seinem Haus auf Hillhead gebracht worden war, hatte sich auf Gemmas Füßen zusammengerollt.

  »Wird Fiona darüber hinwegkommen?«, fragte Kincaid.

  »Sie ist sehr stark«, antwortete Winnie. »Aber das hier... ich weiß nicht. Ich bin nie zwei Menschen begegnet, die einander mehr geliebt hätten.«

  »Auch wenn Bram nicht der war, für den sie ihn gehalten hat?«

  »Ich bin mir nicht sicher«, meinte Winnie zögernd, »ob das eine Rolle spielt. Und wer von uns ist denn jemals ganz und gar ehrlich gegenüber anderen?«

  Gemma dachte an ihre eigene Unfähigkeit, mit Duncan über das zu sprechen, was ihr am meisten am Herzen lag. »Was ist mit Edmund? Glaubt ihr, dass er jetzt weiß, dass Alys und ihr gemeinsames Kind überlebt haben?«

  »Ich hoffe es«, antwortete Jack. »Nach achthundert Jahren hat er endlich seinen Frieden verdient.«

  »Wie die kleine Sarah Kinnersley«, sagte Winnie leise.

  »Was wirst du mit dem Manuskript machen?«, fragte Kincaid.

  »Zuerst einmal werde ich es studieren«, entgegnete Jack, ohne zu zögern. »Ich werde einige Experten wegen des Chorals um Rat fragen, und auch Konservatoren. Das Manuskript selbst ist erstaunlich gut erhalten, und wir wollen, dass das auch so bleibt.«

  »Du willst es nicht länger geheim halten?«

  »Ich denke, ein knappes Jahrtausend ist lange genug, meint ihr nicht auch? Die Menschen sollten davon erfahren - wer weiß, wozu das noch gut sein kann?«

  »Es ist aber doch eine ziemliche Verantwortung, oder?«, meinte Gemma nachdenklich. »Wenn es das ist, was du vermutest.«

  »Aber in Glastonbury hat es immer schon Leute gegeben, die sich um die Bewahrung unseres kulturellen Erbes bemüht haben«, warf Winnie ein. »Denkt nur an die Mönche und an Bligh Bond, und den Chalice Well Trust... Wir würden nur eine bewährte Tradition fortführen. Ich glaube, dass Edmund das gewollt hätte.«

  »Was ist mit Simon?«, fragte Kincaid. »Ich fürchte, wir haben ihm Unrecht getan, ganz gleich, welcher Verfehlungen er sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hat.«

  »Ja, das kann sein...« Ein leichtes Lächeln spielte über Winnies Lippen. »Wenn ich auch erfahren habe, dass er schon mit jemandem über die Veröffentlichung von Edmunds Mitteilungen gesprochen hat, ohne vorher Jack zu fragen.«

  »Unter dem Schafspelz steckt also immer noch ein Wolf.«

  »Ich bin sicher, er hatte vor, es mir zu sagen«, beharrte Jack - und machte damit klar, dass er und Winnie genügend Meinungsverschiedenheiten haben würden, um ihr gemeinsames Leben auf Dauer spannend zu gestalten.

  »London wird uns im Vergleich zu Glastonbury todlangweilig Vorkommen«, meinte Kincaid grinsend. »Trotzdem denke ich, wir sollten allmählich Zusehen, dass wir nach Hause kommen.«

  »Wartet.« Jack stand auf. »Ich hab noch was für Gemma.« Er ging hinaus und kam kurz darauf mit einem flachen, in Papier eingeschlagenen Paket zurück.

  »Für mich?«, fragte Gemma und nahm es neugierig entgegen. Als sie die Schnur gelöst und das Papier zurückgeschlagen hatte, erblickte sie ein Ölgemälde eines Jagdspaniels, der sie mit ebenso seelenvollem Blick ansah wie Phoebe. »Oh«, hauchte sie. »Das ist wunderbar.«

  »Siehst du, ich hab’s nicht vergessen«, sagte Jack, an seinen Cousin gewandt.

  »Aber der ist nicht halb so wunderbar wie du, was, mein Schatz?«, flüsterte Gemma, die sich vorgebeugt hatte, um Phoebes seidige Ohren zu kraulen. Sie dachte an ihre Wohnung, die ohnehin schon zu klein war - einen Hund zu halten war nie in Frage gekommen, sosehr Toby sie auch deswegen bestürmt hatte. Aber jetzt sah sie sich mit noch wesentlich größeren Herausforderungen konfrontiert, und sie fühlte sich mit einem Mal befreit. Es schien ihr, als sei plötzlich alles möglich, und die Aussicht auf die unvermeidlichen Veränderungen, die ihr bevorstanden, erfüllte sie mit brennender Erwartung. Was war nur mit ihr geschehen?

  Konnte es sein, so fragte sie sich, dass die Magie von Glastonbury noch ganz andere Wirkungen gezeitigt hatte, als sie sich hatten träumen lassen?

 

Sie standen unter den großen steinernen Bögen der Abteikirche. Es war ein wunderbarer Novembernachmittag, doch die Sonne senkte sich bereits zum Horizont, und in der Luft lag der erste Hauch der Abendkühle. Es war kurz vor Toresschluss, das Gelände war fast menschenleer, und bald würden auch sie gehen müssen.

  »Hier«, sagte Winnie zu Jack und ging zwischen den Überresten des Kirchenschiffs hindurch zum Chor. »Ich denke, er sollte an dieser Stelle gesungen werden, so wie es ursprünglich gedacht war.«

  »Und an dem Ort, an dem die Mönche ihr Blut vergossen haben, um ihn zu schützen«, pflichtete Jack ihr bei, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo einst der Altar gestanden hatte. »Ist das möglich? Wäre es machbar?«

  »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. In ganz England - und auch im Rest der Welt - gibt es Chöre, die sich um eine solche Chance reißen würden. Aber...«

  »Was?«, drängte er, als er sah, wie sie die Stirn runzelte.

  »Ich denke, der Choral sollte in Glastonbury gesungen werden, von gewöhnlichen Leuten aus Glastonbury, Es kommt nicht auf Vollkommenheit an, sondern auf die Absicht, die dahinter steht.«

  Jack zog ein Blatt Papier aus der Tasche, das er mitgebracht hatte, um es ihr zu zeigen. »Das habe ich heute im Büro geschrieben.«

  »Edmund?«

  Er nickte und wollte ihr das Blatt geben, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, lies es mir vor, bitte. Ich stelle mir immer gerne vor, dass seine Stimme wie deine geklungen haben muss.«

  Jack mühte sich, in dem schwindenden Licht die kleine Schrift auszumachen, und begann stockend zu lesen: »In der Gemeinschaft herrscht große Freude. Der Geist lebt weiter, und was wir erträumt haben, reichen wir an euch weiter, als Symbol der großen Wahrheit, die da kommen wird.

  Doch ihr müsst stets wachsam sein, denn ob ihr auch die Tür verschlossen habt, das Gleichgewicht ist stets bedroht, und gefährlich ist der Fall. Zweifelt nicht an eurem Wert, denn diese Aufgabe ist euch in gutem Glauben anvertraut worden; und fürchtet euch nicht, denn wir werden mit euch wachen. Möget ihr wachsen im Geist und in der Freude.«

  Jack sah von dem Blatt auf. Die untergehende Sonne hatte den Himmel im Westen rot und golden gefärbt, und für einen Augenblick hätte er schwören können, dass er ein Echo von Stimmen hörte, die sich zum Gesang erhoben.