* 14

 

Prüfe alle Dinge, und halte fest an dem, was wahr ist.

 

Frederick Bligh Bond, aus: Das Tor der Erinnerung

 

Faith bestand darauf, dass es ihr nichts ausmache, allein zu bleiben. Jack hatte angeboten, sie zu Winnie mitzunehmen, doch es gab zu viele Dinge, über die sie noch nicht sprechen konnte. Jedenfalls nicht mit Winnie - solange sie sich nicht sicher war, wie viel Winnie wusste und ob Garnet für ihren Unfall verantwortlich war. Und jetzt war Garnet tot.

  Tot. Allein in Jacks Haus sagte sich Faith das Wort immer wieder vor in dem verzweifelten Bemühen, ihm einen Sinn abzugewinnen. Garnet hatte gelebt - morgens hatte sie den Katzen vorgesungen, wenn sie glaubte, dass niemand sie hörte; sie hatte in alles, was sie kochte, Zucchini getan, obwohl sie wusste, dass Faith sie verabscheute; sie hatte auf dem Klo zerfledderte alte Exemplare der National Geographie gelesen; sie hatte eine Puppensammlung besessen, die sie, in Seidenpapier eingeschlagen, in einem Karton in ihrem Schlafzimmerschrank aufbewahrte.

  Und jetzt lebte sie nicht mehr.

  Faith verbrachte die erste Stunde nach Jacks Abfahrt damit, sich auf dem alten Fernseher im Wohnzimmer eine stumpfsinnige Komödie anzuschauen, doch sie gab es auf, als sie von dem Schnee auf der Mattscheibe Kopfschmerzen bekam. Einmal hatte sie Jack gefragt, warum er nichts von seinen Sachen behalten hatte, als er wieder nach Glastonbury gezogen war, und er hatte geantwortet, sie hätten zu viele Erinnerungen absorbiert, wie die Emulsion auf einem Film. Er hatte alles verramscht.

  Würden Garnets Habseligkeiten die Erinnerung an sie bewahren? Faith hatte sie in ihrer Werkstatt beobachtet, hatte gesehen, wie behutsam sie mit ihrem Werkzeug umgegangen war. Sie hatte diese Sachen geliebt, und sie hatte ihre Bücher geliebt und ihren Umhang und ihre farbenfrohen Kleider.

  Faith ging im Haus auf und ab, fuhr mit der Fingerspitze über die mit einer Staubschicht bedeckten Möbel, und ihre Gedanken flatterten rastlos hin und her. Sie fühlte sich, als habe jemand sie auseinander genommen und die Einzelteile falsch wieder zusammengesetzt.

  Ohne einen bewussten Entschluss gefasst zu haben, ging sie die Treppe hoch, ganz langsam, mit einer Hand das Gewicht ihres Bauchs abstützend. Sie war noch in keinem der oberen Zimmer gewesen, bis auf das, welches Jack ihr zugewiesen hatte. Jetzt öffnete sie nacheinander alle Türen, die vom Flur abgingen, und schaute in die Zimmer. Zuerst kam ihres, dann ein winziges Zimmer, dem man noch ansah, dass ein kleiner Junge darin gewohnt hatte. Das große Zimmer neben ihrem enthielt ein hohes Himmelbett und roch nach Jack und auch ein wenig nach Winnie. Die beiden übrigen Zimmer waren mit Kisten, Bücherstapeln, Papieren und diversen Möbelstücken voll gestopft.

  Sie fragte sich, wie es wohl gewesen sein mochte, in diesem Haus groß zu werden, und rief sich die helle, moderne Doppelhaushälfte ihrer Eltern ins Gedächtnis. Dabei überkam sie plötzlich ein intensives Gefühl des Heimwehs, das sie jedoch augenblicklich unterdrückte; stattdessen dachte sie darüber nach, was sie wohl tun würde, wenn ihr Baby da war. Wie konnte sie über diesen Tag hinausdenken?

  Sie schloss alle Türen und ging nach unten. Sie würde sich irgendwie nützlich machen, würde ihnen etwas zu essen machen, um es ihnen zu servieren, sobald sie nach Hause kämen. Sie kramte in den Regalen und fand eine Dose mit Hühnerbrühe, eine Packung getrocknete Erbsen, Reis und ein paar Gewürze; alles wahrscheinlich nicht mehr taufrisch, doch sie würde wohl eine ganz passable Suppe daraus zaubern können.

  Gerade hatte sie die Erbsen zum Einweichen in einen Topf mit Wasser geschüttet, als es an der Tür klingelte. Das musste Nick sein, dachte sie, und watschelte - von Gehen konnte kaum noch die Rede sein - so schnell sie konnte in die Diele. Gespannt riss sie die Tür auf - doch da stand nicht etwa Nick, sondern Inspector Greely, und neben ihm eine Frau in Zivilkleidung.

  »Wir hatten gehofft, Sie vielleicht zu Hause anzutreffen, Miss.«

  »Jack ist nicht da.« Faith wollte die Tür wieder zumachen.

  »Nein, nein, wir sind wegen Ihnen hier. Dürfen wir hereinkommen?«

  Als Faith zögerte, weil sie sich nicht sicher war, ob sie sich weigern konnte, fügte Greely hinzu: »Natürlich nur, wenn Sie es nicht vorziehen, dass wir Sie im Beisein Ihrer Eltern befragen.«

  »Ich bin siebzehn«, gab sie gereizt zurück. »Ich kann schon für mich selbst sprechen.«

  »Dann wollen wir uns doch gleich hier ein wenig unterhalten.« Der Inspector trat ein, und Faith wurde schmerzlich bewusst, dass sie sich selbst in eine Zwickmühle manövriert hatte.

  Sie führte die Besucher ins Wohnzimmer und ließ sie auf den Polstermöbeln mit den verschlissenen Samtbezügen Platz nehmen, inmitten der Fotos von Jacks Verwandtschaft in ihren silbernen Rahmen.

  »Das ist Detective Constable O’Toole.« Greely deutete mit dem Kopf auf die Frau, die strahlend lächelte, ohne Faith dabei in die Augen zu sehen. Sie hatte blondes Haar mit viel Haarspray drin und reichlich Schminke im Gesicht, die gut zu ihrem falschen Lächeln passte.

  »Und Sie sind?«, fuhr Greely fort. »Wir können Sie ja nicht immer nur Miss nennen.« Seine Begleiterin zog unauffällig ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Handtasche.

  »Faith.«

  »Wir brauchen auch Ihren Nachnamen, für die Akten. Es sei denn, Sie würden diese kleine Unterhaltung lieber auf dem Polizeirevier führen.«

  »Wills. Der Name ist Wills.«

  »Und Ihr angemeldeter Wohnsitz? Das ist die Adresse, mit der Sie bei der Sozialversicherung und so weiter registriert sind.«

  Nachdem Faith ihnen widerstrebend die Adresse ihrer Eltern genannt hatte, lehnte Greely sich bequem auf dem Sofa zurück und verschränkte die Finger über dem Bauch. »So, nachdem das nun erledigt ist, würden wir gerne mit Ihnen über Ihren Freund Nick Carlisle reden. Er sagt, er sei am Nachmittag des Tages, an dem Miss Todd starb, zu deren Haus gefahren, um Sie, Miss Wills, zu suchen; er habe Sie aber nicht angetroffen. Ist das korrekt?«

  Faith nickte vorsichtig.

  »Nun, das ist ja alles schön und gut, bis auf ein kleines Detail. Niemand scheint eine befriedigende Erklärung dafür geliefert zu haben, wo Sie sich aufgehalten haben in der Zeit zwischen, na, sagen wir fünf Uhr und kurz vor Mitternacht, als Sie vor Mr. Montforts Haustür auftauchten.«

  »Ich - ich bin spazieren gegangen. Die Wellhouse Lane hoch in Richtung Gipfel.« Faith sah ihre offen ungläubigen Mienen, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. »Dann habe ich mich unwohl gefühlt und habe mir einen Platz zum Ausruhen gesucht. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber als ich aufwachte, war es dunkel.«

  »Und dann?«

  »Ich bin zurückgegangen. Garnets Lieferwagen war weg, und das Haus war leer. Ich dachte, sie müsste sich aufgemacht haben, um nach mir zu suchen. Also habe ich gewartet. Sie kam aber nicht.«

  »Wieso haben Sie sich dann entschlossen, nicht weiter zu warten?«

  »Ich... Es war schon spät... und ich... hatte Angst.«

  »Also haben Sie sich schließlich Hilfe suchend an Mr. Montfort gewandt.« Irgendwie ließ Greely es so klingen, als ob das etwas Unanständiges sei.

  »Er ist mein Freund, und ich dachte, er würde wissen, was zu tun wäre. Daran ist doch nichts Falsches.«

  »Nein, Miss Wills, daran nicht. Wenn es denn so gewesen ist.« Greely bleckte die Zähne und lächelte kalt.

  »Was meinen Sie damit?« Faith spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg.

  »Damit meine ich, dass Sie ein paar Dinge ausgelassen haben. Ich glaube, Sie waren dort, als Nick kam. Ich glaube, dass Sie und Nick sich mit Miss Todd gestritten haben und es zu einem Handgemenge kam. Vielleicht wollten Sie ihr nicht wirklich wehtun, aber Unfälle lassen sich nicht immer vermeiden, das wissen wir alle.«

  Faith konnte ihn nur entgeistert anstarren.

  »Und dann, als Sie merkten, dass sie tot war, gerieten Sie in Panik. Sie halfen Carlisle, die Leiche zum Lieferwagen zu tragen, und legten sie hinten auf die Ladefläche. Dann fuhr er den Wagen auf die andere Seite des Tor, stellte ihn dort ab und kam zurück, um sein Motorrad zu holen.

  Ach ja, und dann beschlossen Sie gemeinsam, dass nur Sie zu Mr. Montfort gehen und so tun würden, als seien Sie schon ganz außer sich vor Sorge, weil Miss Todd nicht nach Hause gekommen sei, obwohl Sie die ganze Zeit haargenau wussten, wo sie war.«

  Faiths Hände und Füße waren taub vor Kälte, und ihre Zunge fühlte sich wie gelähmt an. »Nein. Das ist nicht wahr. Nichts von alledem ist wahr. Das ist verrückt -«

  »Haben Sie und Carlisle Miss Todd wegen Reverend Catesbys Unfall zur Rede gestellt? Oder war es etwas anderes? Miss Todd war eifersüchtig auf Sie und Carlisle, nicht wahr? Vielleicht wollten Sie dem ein Ende setzen.«

  »Nein! Ich habe Nick an dem Tag überhaupt nicht gesehen! Und selbst wenn Nick dort gewesen wäre - Nick würde niemals irgendjemand wehtun!«

  »Nicht einmal, um Sie zu schützen? Und wenn Sie nun Miss Todd wegen Reverend Catesby zur Rede gestellt hatten und diese Sie angegriffen hatte, um Sie zum Schweigen zu bringen? Und dann kam Nick zufällig vorbei und rettete Sie.«

  »Ich habe überhaupt nicht mit Garnet gesprochen! Und ich habe Nick nicht gesehen!«, beharrte Faith.

  Greely betrachtete sie eingehend; seine Miene schien plötzlich Mitgefühl auszudrücken. »Wissen Ihre Eltern, wo Sie sind, Miss Wills?«

  »Nein.«

  »Na, das ist aber doch wirklich zu schade, finden Sie nicht? Ein junges Mädchen in Ihrem Zustand« - sein Blick streifte ihren Bauch - »braucht nun mal die Unterstützung seiner Eltern. Aber vielleicht sind sie ja mit Mr. Carlisle nicht einverstanden, ist es das?«

  »Ich... er - Das geht Sie nichts an.«

  »Nein? Nun, mein Rat an Sie, Miss Wills, ist, dass Sie sich bei Ihren Eltern melden sollten. Ich fürchte, Sie werden nicht ohne Rechtsbeistand auskommen. Und wenn ich Ihr Vater wäre, würde ich Ihnen sagen, dass es die Sache nicht wert ist, wenn Sie Ihr Leben - und das Ihres Kindes - ruinieren, indem Sie Carlisle decken. Ich bin sicher, wir könnten da zusammen mit dem Staatsanwalt eine Lösung finden.« Er stand auf. »Wir werden uns bald wieder sprechen. Bleiben Sie ruhig sitzen, wir finden schon nach draußen.«

  Faith blieb sitzen, nachdem sie gegangen waren. Das Baby bewegte sich, versetzte ihr Tritte unmittelbar oberhalb des Beckens, aggressive kleine Stöße. Faith legte die Hände auf den Bauch, flüsterte »Schsch, schsch, ist ja schon gut« und schaukelte stumpfsinnig vor und zurück. Allmählich ließen die Tritte nach und hörten schließlich ganz auf. »Es wird schon alles gut«, sagte Faith leise, um das Baby wie auch sich selbst zu beruhigen. Aber wie?

  Greely war fest entschlossen, ihr und Nick den Mord an Garnet anzuhängen, und er würde weiter nach Beweisen suchen, die seine Theorie stützten. Es war ihre Schuld, dass Nick in diese Sache hineingezogen worden war, und es lag in ihrer Verantwortung, einen Weg zu finden, seine Unschuld zu beweisen.

  Wenn sie doch nur Garnets Sachen durchsuchen könnte, und ihre Papiere. Sicherlich hatte Garnet irgendetwas hinterlassen, irgendeinen Hinweis darauf, wer ihren Tod gewollt hatte.

  Morgen würde sie darauf bestehen, wieder zur Arbeit zu gehen, und dann würde sie irgendeine Möglichkeit finden, wieder in das Bauernhaus hineinzugelangen. Und sie würde sich nicht erlauben, darüber nachzudenken, wozu Nick vielleicht fähig gewesen wäre, wenn er vergeblich nach ihr gesucht und geglaubt hätte, dass Garnet dahinter steckte.

 

Nick stand vor der Polizeiwache inYeovil und wusste nicht, wie er nach Hause kommen sollte ohne Motorrad oder Mitfahrgelegenheit.

  Als er an diesem Morgen vor dem Buchladen angekommen war, hatte Inspector Greely mit einer Polizistin in einem neutralen Wagen auf ihn gewartet. »Lassen Sie uns doch eine kleine Spazierfahrt machen, während wir uns unterhalten«, hatte Greely gesagt. »Es sei denn, Sie möchten lieber im Laden mit uns reden.«

  Nick war zu ihnen in den Wagen gestiegen. Aber dann hatten sie ihn von Glastonbury zum Polizeirevier inYeovil gefahren, und auf Nicks Proteste hatte Greely listig entgegnet, dass sie nur in seinem eigenen Interesse handelten, wenn sie alles vorschriftsmäßig abwickelten, mit Kassettenrekorder und allem Drum und Dran.

  Er hatte vor Wut gekocht, als sie ihn in das Vernehmungszimmer geführt hatten. In diesem kahlen, hässlichen Raum hatten sie ihm vier Stunden lang immer wieder dieselben Fragen gestellt und ihn dann endlich gehen lassen. Mit diesem Lächeln, das Nick mehr und mehr hasste, hatte Greely ihm versichert, dass sie bald etwas finden würden, was ihn mit dem Mord an Garnet Todd in Verbindung bringen würde. »Ach, und verlassen Sie nicht die Stadt«, hatte Greely mit munterer Stimme hinzugefügt, als sei es ihm gerade noch eingefallen.

  Immer noch randvoll mit Wut und Adrenalin, steckte Nick die Hände in die Hosentaschen und marschierte los. Als er an der A37 in Richtung Norden ankam, verließen ihn allmählich die Kräfte. Es fiel ihm ein, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

  Ein Lastwagen nahm ihn schließlich bis Glastonbury mit und setzte ihn am Kreisverkehr an der Straße nach Street ab. Aus purer Gewohnheit ging er die Magdalene Street entlang, doch als er sich dem Buchladen näherte, wurde ihm plötzlich klar, dass er keine Ahnung hatte, was er seiner Chefin erzählen würde.

  »Ach, ich bin nur ein bisschen von der Polizei in die Mangel genommen worden, irgend so ein Mord. Kein Grund zur Sorge.« Na prima.

  Hastig überquerte er die Straße, bog um die Ecke in die High Street ein und flüchtete sich in das Café Galatea.

  Jetzt, da er etwas zu essen bekommen konnte, musste er feststellen, dass er keinen Appetit mehr hatte. Stattdessen löffelte er nur reichlich Zucker in seinen Kaffee und nippte dankbar daran, während er sich die Hände an der Tasse wärmte. Es war ein normaler Samstagnachmittag in dem Café: ein halbes Dutzend Gäste entspannten sich beim Tee in den ruhigen Stunden zwischen Mittag- und Abendessen; ein in die Jahre gekommener Hippie in Batikklamotten und Sandalen saß, über die Computertastatur gebeugt, hinter der Theke; Melissa, die Bedienung, die auf Nick stand, warf ihm Schlafzimmerblicke zu.

  Aber innerhalb von nur vier Tagen war sein Leben zu einem Albtraum geworden, und niemand konnte ihm garantieren, dass für ihn je wieder so etwas wie Normalität einkehren würde.

  Wie zum Teufel hatte er sich in diesen Schlamassel hineinmanövriert? Und was wollte er jetzt tun? Wäre er besser gefahren, wenn er Superintendent Kincaids Rat ignoriert hätte - wenn er weiterhin geleugnet hätte, zum Haus gefahren zu sein? Aber Greely hatte ihm gesagt, sie hätten seine Fingerabdrücke gefunden, und die Spurensicherung würde seine Motorradreifen mit den Reifenspuren auf Garnets Hof vergleichen. Wenn das Ergebnis vorlag, würde er verdammt alt aussehen.

  Er hätte Greely von seinen Mutmaßungen über Garnet erzählen können, aber das hätte sein Motiv nur noch klarer erscheinen lassen.

  Es musste aber doch noch andere geben, die dasselbe über Garnet gedacht hatten wie er - es musste jemanden geben, der ihren Tod gewollt hatte. Und wenn er herausfinden konnte, wer es war, durfte er vielleicht noch hoffen, seine Haut zu retten.

 

Kincaid und Gemma bogen in Jacks Einfahrt ein, als dieser gerade aus seinem Volvo stieg. In der Küche wartete Faith auf sie, die Hände in die Hüften gestemmt, zornig rote Flecken auf den Wangen.

  »Mmh, das riecht aber gut.« Jack schnupperte anerkennend. »Ist schon eine ganze Weile her, dass wir etwas Vernünftiges -«

  Faith stürzte sich auf Kincaid und fuhr ihn an: »Wie konnten Sie nur? Sie haben Nick gesagt, er soll mit der Polizei reden, es könne ihm nichts passieren! Und das hat er auch getan, und jetzt halten sie ihn für einen Mörder!«

  »Faith, ich sagte zu ihm, es sei das Beste für ihn, und das glaube ich immer noch. Sie haben Nicks Fingerabdrücke im Haus gefunden und seine Reifenspuren im Hof. Mit Leugnen würde er alles nur noch schlimmer machen.«

  »Aber Sie sind Polizist. Können Sie Greely nicht sagen, dass es nicht stimmt, dass Nick niemals -«

  »Ich bin hier außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Ich kann dem Inspector meine Meinung sagen, aber ich kann ihm nicht vorschreiben, wie er seine Ermittlungen zu führen hat.« Kincaid hob die Hand, bevor sie ihn erneut unterbrechen konnte. »Ich sage Ihnen so viel: Ich glaube nicht, dass er irgendwelche handfesten Beweise hat, also kann er im Moment nicht mehr tun, als zu versuchen, Nick zu einer Aussage zu bewegen.«

  »Er glaubt, ich hätte ihm dabei geholfen. Wussten Sie das?«

  »Faith -«

  »Er sagte, ich würde einen Rechtsbeistand brauchen.«

  »Greely war hier?«

  Faith nickte.

  »Er hat Sie vernommen, ohne dass sonst noch jemand anwesend war?«

  »Er hatte eine Polizistin dabei.«

  Kincaid zögerte. Es war eine haarige Situation, da Faith dem Gesetz nach erwachsen war, aber Greely hätte einen besseren Weg finden können, damit umzugehen. »Sollte er wiederkommen, dann sagen Sie ihm, dass Sie sich nur mit ihm unterhalten, wenn Jack oder einer von uns dabei ist. Wenn er das ablehnt, sagen Sie ihm, dass Sie auf einer Rechtsvertretung bestehen. Das bedeutet, dass er Sie nur in Gegenwart Ihres Anwalts vernehmen darf. Verstanden?«

  »Aber ich habe keinen Anwalt!«

  Kincaid wandte sich an Jack. »Hast du jemanden, den du anrufen könntest?«

  »Eine alte Schulfreundin. Sie ist eine der besten Anwältinnen in ganz Somerset.«

  »Dann tu das doch einfach. Erkläre ihr die Situation.«

  Während Jack hinausging, um zu telefonieren, führte Gemma Faith zum Herd, auf dem die Suppe vor sich hin köchelte, und im Nu hatte sie das Mädchen dazu gebracht, ihr die Zutaten aufzulisten.

  Die Krise hätten wir fürs Erste entschärft, dachte Kincaid erleichtert. Aber hatte er da nicht gerade eine Riesendummheit begangen? Noch während er seine Unterstützung angeboten hatte, war ihm bewusst geworden, dass er sich durch seine Voreingenommenheit in eine äußerst heikle Lage brachte. Aber dieses Mädchen hatte offenbar etwas an sich, das in jedem, der mit ihr zu tun hatte, sämtliche Beschützerinstinkte zum Vorschein brachte. Mit Ausnahme von Greely, wie es schien.

  Es klingelte an der Haustür. Aus dem Nebenzimmer war gedämpft Jacks Stimme zu hören, also ging Kincaid zur Tür, gerüstet für einen diskreten Schlagabtausch mit DCI Greely.

  Doch es war ein Mann in mittleren Jahren, den er noch nie gesehen hatte, mit Strickjacke und Tweedhosen und einer ziemlich wirren grauen Mähne.

  »Jack? Oh, entschuldigen Sie. Ist Jack zu Hause?«

  »Ich bin sein Cousin, Duncan Kincaid. Jack telefoniert gerade, aber kommen Sie nur herein, er wird jeden Moment Zeit für Sie haben.

  »Simon Fitzstephen.«

  Kincaid schüttelte ihm ehrlich erfreut die Hand. »Jack spricht in den höchsten Tönen von Ihnen«, sagte er, während er Fitzstephen in die Küche führte.

  Faith sah von ihrer Arbeit auf und lächelte. »Simon! Ich habe Suppe gekocht, falls Sie zum Essen bleiben können.«

  »Ja, das wäre nett«, erwiderte Fitzstephen und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann begrüßte er Gemma, die Kincaid ihm vorstellte. »Ich habe Neuigkeiten für Sie alle, sobald Jack Zeit hat. Kommt Nick auch?«

  »Er hat nicht angerufen.« Faiths Stimme zitterte.

  »Die Polizei hat Nick vernommen«, erklärte Kincaid Fitzstephen.

  Fitzstephen sah Faith an. »Wegen Garnet?«

  »Ja, leider«, antwortete Kincaid. »Aber man hat ihn heute Nachmittag auf freien Fuß gesetzt. Die Beweise reichten nicht für eine Anklage aus.«

  »Simon! Ich dachte doch, ich hätte Ihre Stimme gehört. Freut mich, Sie zu sehen.« Jack blickte forschend in das Gesicht seines Freundes. »Alles in Ordnung?«

  »Ein wenig Gesellschaft könnte nicht schaden.« Fitzstephens Lächeln wirkte gequält. »Faith hat mich gebeten, zum Essen zu bleiben. Aber das ist nicht der Hauptgrund, weshalb ich gekommen bin. Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Ich wollte, dass wir alle dabei sind, aber ich denke, wir werden nicht auf Nick warten, da wir keine Möglichkeit haben, ihn zu erreichen. Und Garnet -« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe heute bei meinen Nachforschungen erstaunliche Fortschritte gemacht. Offenbar hat der Abt Thurstan im Jahre 1082 einen Steinmetz namens Hamlyn mit Reparaturarbeiten an der Abteikirche beauftragt.« Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Ziemlich vage, was? Kaum mehr als die Möglichkeit einer Verbindung. Aber zwanzig Jahre später machte eine gewisse Alys Montfort der Abtei ein wertvolles Geschenk, mit der Auflage, dass es in den Klosterakten vermerkt werden sollte, und zwar auch unter ihrem Mädchennamen, welcher Hamlyn lautete.«

  »Edmunds Alys?«, hauchte Jack.

  »Das ist meine Vermutung.«

  »Es gab also tatsächlich eine Verbindung zu meiner Familie - es handelt sich doch wohl um meine Familie?«

  »Ich denke, davon dürfen wir getrost ausgehen«, pflichtete Simon bei, »obwohl es mir noch nicht gelungen ist, alle Glieder der Kette zu identifizieren. Und ich finde, wir dürfen ebenfalls davon ausgehen, dass Alys Montfort wollte, dass irgendjemand in der Abtei sich an das Mädchen erinnerte, das sie einst gewesen war. Was, wenn wir nun auch noch annähmen, dass Edmund eine Abschrift seines kostbaren Chorals angefertigt und sie Alys zur sicheren Aufbewahrung übergeben hat?«

  »Sie glauben, dass der Choral in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde«, sagte Jack leise.

  »Ich glaube«, antwortete Simon ernst, »dass der Choral sich hier in diesem Haus befinden könnte.«

 

Als Winnie aufwachte, sah sie, dass Fiona an ihrem Bett saß und sie intensiv beobachtete.

  »Fiona!«

  »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es tut, deine Stimme zu hören. Ich wollte es Jack einfach nicht glauben.«

  »Wenn du nicht gewesen wärst...«

  »Was ich getan habe, war doch selbstverständlich. Kein Grund, mir übertrieben dankbar zu sein.« Augenzwinkernd fügte Fiona hinzu: »Vielleicht hatte ja dein Gott die Hand im Spiel.«

  »Wie kam es denn eigentlich, dass du mich gefunden hast?«

  »Ich hatte gemalt. Als ich an einen Punkt kam, wo ich eine Pause einlegen musste, habe ich einen Spaziergang gemacht. Und dann lagst du da auf der Straße.« Fiona zuckte mit den Achseln. »Klingt ganz einfach, wenn man es so betrachtet. Aber um ehrlich zu sein, es war ein ganz merkwürdiger Abend. Ich hatte die Abtei gemalt, was in all den Jahren, seit ich in Glastonbury bin, noch nie vorgekommen war. Und als ich dann aus dem Haus ging, hatte ich so ein Gefühl, als ob irgendwo etwas auf Messers Schneide stünde.«

  Winnie betrachtete ihre Freundin aufmerksam. »Fiona - da war doch noch etwas anderes, habe ich Recht?«

  »Ich habe das Kind gemalt. Wieder einmal. Aber diesmal war etwas anders. Das Mädchen schien geschützt, geborgen im Schoß der Abtei. Und«, fuhr Fiona fort, »ich hörte Singen. Du weißt ja, was für ein Augenmensch ich bin - ich höre die Dinge nicht, ich sehe sie. Aber das hier - es ist so frustrierend, weil ich nun mal nicht musikalisch bin -, ich kann es nicht beschreiben. Schlimmer noch, ich kann es auch nicht in meinem Kopf hören. Ich weiß nur, dass es das Schönste war, was ich je erfahren habe.«

  »Aber Jack und ich - wir -«

  »Ich weiß. Jack hat mir von eurem Choral erzählt. Was ich nicht verstehe ist, welche Rolle ich dabei spiele - oder warum du mich an diesem Abend besuchen wolltest.«

  »Ich wünschte, ich könnte mich erinnern!«

  »Winnie...« Fiona runzelte die Stirn. »Das mit Garnet tut mir so Leid. Ich weiß, dass ihr Freundinnen wart.«

  »Ich verstehe, dass manche Leute sie vielleicht für schwierig gehalten haben. Sie hatte...«

  »Sehr dezidierte Ansichten.«

  »Ja. Sie hatte etwas Elementares an sich. Aber du und Bram, ihr habt sie ja auch gekannt. Das hatte ich vergessen.«

  »Garnet hat schon damals ihre Ansichten sehr leidenschaftlich vertreten. Aber zu der Zeit war es natürlich noch >in<, radikal zu sein. Ich finde, wir sollten es ihr hoch anrechnen, dass sie ihren Überzeugungen treu geblieben ist, anders als die meisten von uns. Bram und ich haben unser Engagement gegen bürgerliche Annehmlichkeiten eingetauscht.«

  »Ich habe sie an diesem Nachmittag gesehen. Im Café - aber das weiß ich nur, weil man es mir gesagt hat. Ich komme mir vor, als wäre ich beraubt worden...«

  »Eine letzte Erinnerung?«

  Winnie konnte nur nicken.

  »Lass uns mal etwas ausprobieren«, schlug Fiona lebhaft vor. »Was ist deine letzte deutliche Erinnerung vor dem Unfall?«

  Winnie spürte, wie sie errötete.

  »Den Teil darfst du überspringen«, meinte Fiona lachend. »Hat Jack bei dir übernachtet?«

  »Ich - ich weiß es nicht.«

  »Ist er gewöhnlich über Nacht geblieben?«

  »Nein. Nicht im Pfarrhaus. Ich dachte, ich müsste ein gewisses Maß von Anstand wahren. Aber inzwischen... wäre es mir vollkommen schnuppe.«

  »Wir können ihn ja fragen. Er wird sich daran erinnern. Wie steht es mit dem Morgen danach? War er verregnet oder sonnig?«

  »Sonnig«, antwortete Winnie wie aus der Pistole geschossen und starrte Fiona daraufhin verblüfft an. »Woher habe ich -«

  »Was hast du nach dem Aufstehen gemacht?«

  »Mein Morgengebet gesprochen. Das ist einfach.«

  »Okay. Und was hattest du zum Frühstück?«

  »Toast und Tee.«

  »Dann hast du dich angezogen. Warum hast du das Fahrrad genommen und nicht den Wagen?«

  »Weil ich - weil es so ein schöner Tag war.«

  »Also, du hast dich aufs Rad geschwungen und bist losgefahren. Es war noch kühl, und die Morgensonne war angenehm. Wohin bist du gefahren?«

  »Nach Glastonbury.« Winnie lachte. »Das ist ja erstaunlich! Das wusste ich, ohne nachzudenken.«

  »Vom Pfarrhaus aus musst du zuerst zu dem Kreisel am Fuß von Wearyall Hill gekommen sein. Bist du rechts abgebogen, in Richtung Tor? Oder bist du geradeaus gefahren, in die Stadt rein?«

  »Ich bin geradeaus gefahren, in die Magdalene Street. Die Abtei! Ich bin zur Abtei gefahren! Ich - ich - ich kann mich verdammt noch mal nicht erinnern! Danach ist einfach alles weg.«

  »Schsch! Versuch nicht, es zu erzwingen. Wir sind ja schon ein Stück weitergekommen.«

  Winnie sank auf ihr Kissen zurück. »Warum sollte ich zur Abtei gefahren sein?«

  »Vielleicht sollten wir noch einmal ein Stück zurückgehen. Was ist mit dem Abendessen -«

  »Andrew! Du weißt doch, wie gemein Andrew zu Jack war!« Winnie hatte das Gefühl, als ob ein kaltes Gewicht auf ihrer Magengrube lastete, als die Erinnerung an die Szene sie überwältigte. »Er hat sich in letzter Zeit so merkwürdig benommen. Er ist noch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen, seit ich nicht mehr auf der Intensivstation liege. Und als ich noch bewusstlos war, wollte er sowieso nicht zu mir reinkommen. Das haben die Schwestern mir erzählt. Er hat sich verändert, Fi.«

  »Wirklich? Oder könnte es sein, dass du jetzt einfach Dinge erkennst, die du bisher erfolgreich ignoriert hast?«

  »Ich - ich weiß nicht. Er hat wohl schon immer ein bisschen zu sehr an mir gehangen und war schnell gekränkt... Nach dem Tod unserer Eltern sind wir zu den Eltern meines Vaters gezogen. Aber sie waren schon ziemlich alt - mein Vater war ein spätes Einzelkind -, und sie waren so sehr mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt, dass für uns in ihren Gefühlen kein Platz war. Ich musste Andrew Mutter und Schwester sein. Er war so hilflos.« Wie er sich an sie geklammert und verzweifelt bei ihr Trost gesucht hatte, wenn er aus den Albträumen erwacht war, die ihn über Jahre gequält hatten -

  »Wie alt warst du da?«

  »Dreizehn. Andrew war elf. Danach hatte er eine so schreckliche Angst davor, irgendetwas zu verlieren, was ihm etwas bedeutete - ich nehme an, sein Interesse an der Vergangenheit rührt daher. Das war etwas, was ihm niemand wegnehmen konnte.«

  »Ihr hattet eine ganz spezielle Beziehung«, sagte Fiona nachdenklich. »Und ihr habt beide nie geheiratet.«

  »Ich dachte nie - wir waren so gute Freunde, da hatte ich nie das Bedürfnis. Ich wusste nicht - ich hätte doch nie damit gerechnet, dass Jack in mein Leben treten würde. Oh, Fi, ich war so mit mir selbst beschäftigt in den letzten Monaten, mit meinen eigenen Gefühlen! Und wenn ich überhaupt einmal ernsthaft über Andrew nachgedacht habe, dann war es so etwas in der Richtung: >Er wird schon damit zurechtkommen.< Aber es sitzt sehr viel tiefer, und das hätte ich wissen müssen.«

  »Winnie, du kannst dir doch nicht Andrews Fehler zum Vorwurf machen!«

  »Ich glaubte ihn zu kennen, aber allmählich beginne ich sogar daran zu zweifeln. Er ist zu Garnets Haus gefahren, am Tag nach ihrem Tod. Warum sollte er so etwas tun?«

  »Sie war bekannt für ihre archäologischen Arbeiten -«

  »Er sagte, er habe sie wegen Fliesenarbeiten in seiner Küche aufgesucht. Ausgerechnet Andrew!« Winnie schüttelte den Kopf. »Das gibt mir zu denken...«

  »Was denn?«, hakte Fiona nach, als ihre Freundin nicht weiterredete.

  »Mir sind da in den letzten paar Monaten im Pfarrhaus einige Dinge aufgefallen. Papiere waren durchwühlt, Sachen sind verschwunden. Wenn - wenn Andrew... mir nun nachspioniert hat?« Winnie zwang sich, Fiona in die Augen zu sehen. »Ach, Fi. Welche Gewissheit bleibt uns denn überhaupt noch, wenn wir nicht einmal den Menschen trauen können, die wir am meisten lieben?«

 

Der Regen, der sich den ganzen Tag über angekündigt hatte, war ausgeblieben, doch nachdem die Nacht hereingebrochen war, wurde die Luft trüber und feuchter, fast schon an der Grenze zum Nebel. Zu der Zeit, als Gemma und Kincaid wieder bei ihrer Pension ankamen, waren Straßenlampen und Autoscheinwerfer von einem dunstigen Schimmer umgeben.

  Als Gemma aus dem Wagen stieg, wurde sie von einer plötzlichen Unruhe erfasst. »Gehen wir noch nicht gleich rein. Es ist so ein schöner Abend.«

  »Sollen wir einen Spaziergang machen? Uns die Sehenswürdigkeiten von Glastonbury bei Sternenlicht anschauen?«, schlug Kincaid vor. »Oder würdest du lieber noch auf ein Bier in den Pub gehen?«

  Sie lachte. »Du bist ja so romantisch. Ein Spaziergang wäre nicht schlecht, und dann können wir ja weitersehen.«

  Sie gingen durch das Tor hinaus, und als sie auf die Magdalene Street traten, hakte Gemma sich bei ihm ein. »Ich versuche mir die ganze Zeit vorzustellen, wie das wohl gewesen sein muss vor achthundert Jahren. Es scheint so furchtbar lange her, und trotzdem hat sich an den Gefühlen der Menschen gar nicht so viel geändert.«

  »Alys und Edmund?«

  »Ja. Und wir wissen noch nicht einmal, ob sie wirklich existiert haben.«

  »Mit so einer Aussage könntest du in allerhand philosophische Schwierigkeiten geraten. Da gibt es den subjektiven Ansatz: >Existieren sie wirklich, wenn wir nur an sie glauben?< Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter lauern noch größere Gefahren. >Besitzen wir eine Seele? Gibt es ein Leben nach dem Tod?<«

  »Wie kannst du nur so leichtfertig daherreden?«, schalt Gemma und kniff ihn in den Arm.

  »Ein Abwehrmechanismus, Schatz. Das sind Gefilde, die ich lieber meide, trotz meiner soliden anglikanischen Erziehung.«

  Sie sah zu ihm auf, unsicher, ob er noch immer im Scherz redete. Er sprach nur wenig über solche Dinge, aber als sie ihn einmal ganz direkt gefragt hatte, woran er glaube, da hatte er geantwortet, er könne sich keinen Gott vorstellen, der all das zuließe, was er tagtäglich bei der Arbeit zu sehen bekam.

  »Was ist denn nun mit diesem Mord? Hast du deine Meinung über Nick geändert, nachdem Greely sich seiner Sache offenbar so sicher ist?«

  Kincaid ging eine Weile schweigend weiter, dann antwortete er: »Ich kann mir einfach nicht so recht vorstellen, dass Nick - oder Nick und Faith - einen vorsätzlichen Mord begehen würden. Und in diesem speziellen Fall wäre es, denke ich, ein bisschen schwierig gewesen, Garnet in einem Moment der Angst oder der Erregung zu ertränken.« Sie hatten inzwischen den Parkplatz der Abtei erreicht. »Ist das da Nicks Buchladen?«, fragte Kincaid und deutete auf die andere Straßenseite. »Jack erwähnte, dass sein Büro im Eckhaus im ersten Stock sei.«

  »Dann ist es direkt am Marktplatz. Lass uns doch mal drüber gehen. Ich erinnere mich, dass ich da einen großen Second-Hand-Buchladen gesehen habe.« Gemma nahm den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf und fragte: »Und was ist mit Andrew Catesby?«

  Kincaid runzelte die Stirn. »Kein Motiv. Welchen denkbaren Grund könnte er gehabt haben, Todd zu ermorden - eine Frau, die er anscheinend kaum kannte -«

  »Es sei denn, er wäre irgendwie auf die Idee gekommen, dass sie für die Verletzungen seiner Schwester verantwortlich sei. Aber er schien eher geschockt von der Vorstellung, dass irgendjemand Winnie absichtlich wehgetan haben könnte.«

  »Vielleicht ist er ein besserer Schauspieler, als wir glauben, und vielleicht ist er derjenige, der Winnie angefahren hat, aus einer Art abartiger Eifersucht heraus. Dann kam Garnet irgendwie dahinter, und er hat sie getötet, um sie zum Schweigen zu bringen.«

  »Jetzt verlegst du dich aber aufs Raten«, meinte Gemma, um dann in nachdenklicherem Ton fortzufahren: »Als du Winnie heute nach Faiths Eltern fragtest, hast du eine Möglichkeit nicht erwähnt. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass Faith deshalb nicht verraten will, wer der Vater ihres Kindes ist, weil -«

  »Weil sie von ihrem eigenen Vater missbraucht wurde? Das würde sicherlich erklären, weshalb sie sich weigert, nach Hause zurückzugehen.«

  »Und es könnte erklären, warum sie es so beharrlich ablehnt, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Vielleicht fürchtet sie, ihr Baby könnte einen genetischen Defekt haben.«

  »Es könnte nicht schaden, wenn wir uns einmal mit den Eltern unterhalten würden«, stimmte Kincaid zu. »Ich werde Greely einbeziehen, um sicherzugehen, dass er keine Einwände hat, und mir Namen und Adresse besorgen. Du kannst davon ausgehen, dass er diese Information Faith heute entlockt hat.«

  »Aber wenn Faith so ein Geheimnis um ihre Familie gemacht hat, wie ist Nick dann an ihre Adresse gekommen? Vergiss nicht, er sagte, er sei sogar nach Street gefahren, um sich das Haus ihrer Eltern anzusehen.« Dann setzte Gemma enttäuscht hinzu: »Oh, die Buchhandlung hat geschlossen.«

  »Das ist auch gut so. In deiner Wohnung ist gar kein Platz für noch mehr Bücher. Aber was Nick betrifft, hast du Recht. Da frage ich mich allmählich, was er uns noch alles verschwiegen hat.« Er blieb stehen und schnupperte übertrieben. »Rieche ich da etwa Fisch und Chips?«

  »Erzähl mir nicht, dass du schon wieder hungrig bist.«

  »Es war doch nur eine Suppe, und außerdem ist das schon Stunden her.«

  »Zwei, höchstens drei«, verbesserte Gemma lächelnd. Faith hatte das Beste aus Jacks mageren Vorräten gemacht, aber ihre Suppe ergab keine sehr üppige Mahlzeit für fünf Personen.

  Sie hatten Jack mit seinen Grübeleien über die Folgerungen aus Simons Hypothese allein gelassen. Wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass eine Abschrift des alten Manuskripts über Jahrhunderte im Besitz von Jacks Familie geblieben war, dann sah sich Jack mit der enormen Aufgabe konfrontiert, das ganze Gerümpel, das sich in seinem Elternhaus angesammelt hatte, zu durchwühlen.

  Der Imbiss war ein Stück weiter, dort, wo der Marktplatz in die Fußgängerzone überging. Die Tür des Ladens stand offen, als zusätzlicher Anreiz für potenzielle Gäste. Es war ein sauberes, hell erleuchtetes Lokal mit einem richtigen Restaurant im hinteren Teil.

  »Willst du dich setzen?«, fragte Gemma.

  »Nein. Lass uns weitergehen. Irgendwie schmeckt Fisch mit Chips nicht richtig, wenn man es nicht aus Zeitungspapier isst.«

  Als sie das Lokal mit ihren dampfenden Papiertüten wieder verlassen hatten, wandte sich Kincaid in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Lass uns die High Street entlanggehen.«

  Sie spähten durch die Bleifenster des alten Gasthauses George & Pilgrims. Die Gaststube war voll, und das Stimmengewirr war sogar durch die geschlossenen Fenster zu hören. Das Gebäude sah in der Tat sehr alt aus, mit seiner echten Fachwerkfassade und den verwitterten, geschwärzten Balken.

  »Ob Edmund dieses Lokal gekannt hat?«, fragte Gemma.

  »Ein gutes Jahrhundert nach seiner Zeit, schätzungsweise. Nicht, dass es ihm erlaubt gewesen wäre, ein Gasthaus zu besuchen. Es wurde für die Unterbringung der Pilger und der hochrangigen Gäste des Abts erbaut, für die im Kloster selbst kein Platz war.«

  Sie gingen weiter, vorbei am Café Galatea und den New-Age-Läden, bis Gemma plötzlich wie angewurzelt vor dem Schaufenster einer Galerie stehen blieb. Vor einem Hintergrund aus schwarzem Samt stand ein einzelnes Gemälde im weichen Lichtkegel eines Strahlers. Leuchtende, geflügelte Wesen schwebten über einer Stadt, die im Mondlicht dalag und in der winzige Menschenwesen ahnungslos ihren Geschäften nachgingen. Die Vision war von atemberaubender Schönheit, die Farben glühten wie lebende Juwelen, doch die Gesichter der Wesen waren wild und wirkten wie aus einer anderen Welt. Es erfüllte sie mit leichtem Unbehagen. »Schützen diese Kreaturen die Menschen«, fragte sie leise, »oder haben sie anderes im Sinn?«

  »Fiona Finn Allen.« Kincaid hatte ihr über die Schulter gesehen, um die Signatur der Künstlerin lesen zu können. »Das ist Winnies Freundin, die Frau, die sie nach dem Unfall gefunden hat.« Er trat einen Schritt zurück, um die Schrift über dem Schaufenster lesen zu können. »Galerie Allen.« Sie gingen weiter, und er bemerkte: »Ich denke, es zeigt nur, wie sehr wir mit uns selbst beschäftigt sind, wenn wir auch nur vermuten, dass wir für diese Geistwesen eine Rolle spielen könnten. Und wenn es nun Wirklichkeitsebenen gibt, die wir nicht wahrnehmen können und die nichts mit menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu tun haben?«

  Gemma warf ihm einen überraschten Blick zu. »Ich glaube, allmählich beginnt dir Glastonbury auch zu Kopf zu steigen. Oh, schau mal«, fügte sie hinzu und blieb erneut stehen, diesmal, um durch das Fenster einer Bäckerei zu spähen, wo die leeren Bleche darauf warteten, mit frühmorgendlichen Backwaren gefüllt zu werden. Sie wurde plötzlich von einer heftigen Sehnsucht nach Toby erfasst, der das Wochenende bei Gemmas Eltern verbrachte, um in ihrer Bäckerei »auszuhelfen«, wie er es nannte. Zu Kincaid gewandt, sagte sie: »Du weißt ja, dass ich morgen zurückfahren muss.«

  »Und ich kann mir nicht vorstellen, Jack ausgerechnet jetzt im Stich zu lassen. Ich hoffe, Doug Cullen kommt noch eine Weile alleine klar.«

  »Was wird der Chef dazu sagen?«, fragte Gemma. Sie meinte Chief Superintendent Denis Childs.

  »Ich werde ihn morgen zu Hause anrufen und ihm die Situation erklären. Ich könnte bis Bath mit dir fahren und mir dann ein Auto mieten.«

  »Nein«, sagte Gemma, nachdem sie die Sache durchdacht hatte. »Ich brauche das Auto in den nächsten Tagen nicht. Wenn wir Faiths Eltern einen Besuch abgestattet haben, kannst du mich nach Bath fahren, mich in den Zug setzen und das Auto behalten.«

  Als er protestieren wollte, wehrte sie ab. »Nein, wirklich. Ich will mit dem Zug fahren. Dann habe ich nichts mit den Wochenendurlaubern am Hut, die sonntags die Straßen nach London verstopfen.« Das entsprach der Wahrheit und war als Argument stichhaltig genug, um Kincaid zum Schweigen zu bringen, doch was für sie tatsächlich den Ausschlag gegeben hatte, war die Aussicht auf die paar Stunden im Zug, in denen sie von sämtlichen Verpflichtungen und Forderungen frei sein würde.

  »Du könntest ja ein paar Hintergrundinformationen sammeln.«

  »Neben den dreitausend anderen Dingen, die am Montagmorgen zu erledigen sind. Aber mach mir ruhig heute Abend eine Liste.«

  In vertrautem Schweigen gingen sie weiter die High Street entlang. Die New-Age-Läden wichen allmählich prosaischeren Geschäften: einem Waschsalon, einem Lebensmittelladen, einer Apotheke und diversen Maklerbüros.

  Als sie am oberen Ende anlangten, drehten sie sich um und blickten über die Straße hinweg, die zu ihren Füßen sanft abfiel. »Das Alltägliche und das Erhabene Seite an Seite«, bemerkte Kincaid.

  »Du wirst mir fehlen«, sagte Gemma spontan, getrieben von einem Impuls, der sich dem rationalen Denken entzog.

  Kincaid legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie Seite an Seite die Straße hinunterzugehen begannen. »Glastonbury hat offenbar eine heilsame Wirkung auf dich. Ich muss dich öfter hierhin mitnehmen.«

  Jetzt, dachte Gemma. Jetzt bot sich ihr die perfekte Gelegenheit. Nur ein, zwei Sätze, und sie würde alles hinter sich haben.

  Aber sie war sich immer noch nicht hundertprozentig sicher, solange sie noch keinen Test gemacht hatte, und sie würde sich unbedingt einen in der Apotheke besorgen, sobald sie wieder in London war.

  Sie hatten an diesem Wochenende so gut harmoniert - weit weg von ihren beruflichen und privaten Anforderungen in London, vereint durch die gemeinsame Arbeit an einem Fall, wenn auch inoffiziell. Warum sollte sie den Zauber zerstören?

  Zumal, da sie noch eine gemeinsame Nacht vor sich hatten unter dem rosafarbenen Baldachin im Akazienzimmer.