Der Tor ist wahrhaftig der Hügel der Vision für jeden, der auch nur die geringste Neigung besitzt, sich einer anderen Welt zu öffnen. ... Manche sind bei ihrem ersten Besuch erstaunt, dass sie einen Hügel der Träume vor sich sehen, der ihnen schon im Schlaf erschienen ist. ... Oft erzählen Menschen, sie hätten den Turm von Licht umrahmt erblickt.
Ein warmes Glühen, wie von einem Ofen, entsteigt dem Untergrund in rauen Winternächten, und man hört Gesang aus den Tiefen des Hügels.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
Im Zug von Bath nach London fiel Gemma augenblicklich in einen tiefen Schlaf, in dem sie wirre, unzusammenhängende Träume hatte, durchzogen vom beständigen Rattern und Ruckeln des Zuges. Als sie erwachte, war sie benommen, und sie hatte das Gefühl, als sei da irgendetwas gewesen, was sie tun musste, doch es wollte ihr nicht wieder einfallen.
Die Erinnerung daran ließ ihr keine Ruhe, während sie mit der U-Bahn vom Bahnhof Paddington nach Islington fuhr und von dort ihre Eltern anrief, um sie zu bitten, Toby mit ihrem Wagen vorbeizubringen.
Als ihre Eltern eine Stunde später eintrafen, kletterte Toby mit einem nagelneuen Paar leuchtend grüner Gummistiefel aus dem Wagen und rief: »Mami, Mami! Ich hab Würstchen im Schlafrock gemacht! Und wir haben Kuchen für Halloween gebacken!«
Gemma hob ihn hoch und drückte ihn ungestüm an sich. »Du willst wohl in die Fußstapfen deines Opas treten, was?«
»Ich bin Bäcker«, verkündete er stolz und zappelte so lange, bis sie ihn wieder herunterließ. »Darf ich Holly meine Stiefel zeigen?«
»Also gut. Aber zuerst anklopfen, okay?« Sie sah ihm nach, bis er das Tor zu Hazels und Tims Garten hinter sich geschlossen hatte, und führte dann ihre Eltern in die Wohnung.
»War er das ganze Wochenende so aufgedreht?«
»Mehr oder weniger«, antwortete ihre Mutter lachend. »Cyn hat ihre beiden heute auch vorbeigebracht, deshalb hat er sich bis jetzt noch nicht richtig beruhigt.«
Gemma verdrehte die Augen. Die Kinder ihrer Schwester waren extrem ungezogene kleine Monster, aber wenn sie etwas sagte, würde ihre Mutter ihr gewiss all die Sachen Vorhalten, die Cyn und sie in dem Alter angestellt hatten. »Bleibt ihr zum Abendessen?«, fragte sie stattdessen.
»Wir fahren lieber gleich zurück. Ich hatte unser Abendessen so gut wie fertig, als du anriefst. Du siehst besser aus. Solltest öfter mal wegfahren. Wie geht’s Duncan?«
Die Frage war alles andere als harmlos. Ihre Eltern hielten gar nichts davon, dass Gemma nicht wieder geheiratet hatte - oder von ihrer »Sturheit«, wie sie es nannten. Einmal war Gemma der Geduldsfaden gerissen, und sie hatte ihnen entgegengeschleudert, es wäre ihnen wohl egal, wenn sie einen Massenmörder heiraten würde, solange sie nur ihren Freunden erzählen könnten, dass ihre Tochter »unter der Haube« sei.
»Käme nur darauf an, ob er gut aussieht oder nicht«, hatte ihre Mutter prompt erwidert.
Jetzt lächelte Gemma und antwortete: »Duncan geht’s gut. Und sein Cousin ist sehr nett.« Sie hatte ihnen nur erzählt, es handle sich um einen privaten Besuch, und sie wollte nicht weiter ins Detail gehen.
»Na, bring Duncan doch mal zu uns mit. Und sag uns Bescheid, wenn wir auf Toby aufpassen sollen.«
Nachdem sie sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet und sich auf den Weg gemacht hatten, schlenderte Gemma zu Hazels Wohnung hinüber, um noch ein wenig Klavier zu üben, solange die Kinder spielten. Sie erzählte Hazel und Tim von ihrem Wochenende und ließ sich eine Tasse Tee servieren, dann setzte sie sich ans Klavier, seufzte und versuchte sich auf ihre Musik zu konzentrieren. Doch während sie sich durch Pachelbels Kanon in D hindurcharbeitete, wurde ihr klar, dass sich die ersehnte Versenkung nicht einstellen wollte.
Stattdessen ging ihr das Bild der verwitterten Steine der Abtei nicht aus dem Sinn, wie sie sich aus dem smaragdgrünen Gras erhoben... und das Bild der felsigen Flanke des Tor hinter Garnet Todds Haus in der Wellhouse Lane, mit dem verfallenen Turm auf dem Gipfel, der sich wie ein riesiger Finger himmelwärts reckte.
Gemma versank in der gewohnten Routine des Montagvormittags wie ein Stein in einem Teich, und doch hatte das Ganze etwas Unwirkliches, als ob die Hektik und das geschäftige Treiben ihrer Londoner Existenz lediglich ein oberflächlicher Geräuschteppich sei. Während sie sich durch die Berichte und Akten kämpfte, die sich über das Wochenende auf ihrem Schreibtisch angehäuft hatten, vergaß sie nie, dass sie Kincaid versprochen hatte, Erkundigungen über die an dem Fall Beteiligten einzuziehen. Sobald sie eine freie Minute hatte, setzte sie die entsprechenden Hebel in Bewegung.
Am Spätnachmittag trafen die ersten Informationen ein.
Garnet Todd hatte eine Vorstrafe, wenn auch nur eine unbedeutende. Sie hatte sich in den Sechzigerjahren während einer Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg in London der Verhaftung widersetzt und war des Besitzes von Halluzinogenen überführt worden. Daran war nichts Überraschendes.
Garnet hatte schon immer den unkonventionellen Weg gewählt.
Nick Carlisle war, wie Greely erwähnt hatte, vor vier Jahren nach einer Schlägerei in einem Pub verhaftet worden, wobei man seine Fingerabdrücke registriert hatte - eine typische Jugendsünde. Was sie überraschte, war die Tatsache, dass Nicks Mutter, deren Aufsicht er nach seiner Entlassung unterstellt worden war, die berühmte nordenglische Romanautorin Elizabeth Carlisle war. Warum sollte Elizabeth Carlisles Sohn sich für ein Leben in vergleichsweise erbärmlichen Verhältnissen in irgendeinem Nest in Somerset entscheiden, wenn ihm seine Beziehungen doch einen aussichtsreichen Start in einem angesehenen Beruf hätten verschaffen können? Aus Prinzip? Oder weil es irgendwelchen Ärger mit der Familie gab?
Sie ließ sich mit der Kripo in Durham verbinden und bat um die Nummer der Polizeistation in dem kleinen Dorf, wo Elizabeth Carlisle lebte. Es meldete sich niemand, als sie dort anrief, doch sie hinterließ ihren Namen und ihre Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter des Dorfpolizisten.
Kincaid hatte sie am Abend zuvor angerufen und ihr von dem negativen Ergebnis der Suche nach dem Manuskript berichtet wie auch von Nicks Verschwinden und von DCI Greelys plötzlichem Interesse an Jack.
»Was hat denn der Chef gesagt, als du ihn angerufen hast?«, hatte sie gefragt.
»Offiziell, dass ich mir nicht die Finger schmutzig machen und mich darauf einstellen soll, mich augenblicklich wieder nach London zu beamen, sobald sich in diesem Borough-Market-Mordfall irgendetwas ergibt. Inoffiziell hat er vom Polizeipräsidenten Dampf bekommen und wird mir die Leviten lesen, wenn Greely sich darüber beschwert, dass ich mich in seinen Fall einmische.«
»Aua!«
»Genau. Ich hoffe nur, dass ich das hier nicht verbocke.«
Und dann, kurz bevor er aufgelegt hatte: »Ach, übrigens, du fehlst mir.«
Gemma lächelte, als sie an das Gespräch zurückdachte; dann ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen, was er ihr erzählt hatte. Ihr fiel auf, dass Faith von Garnets Kenntnissen über Göttinnenverehrung gesprochen hatte, und nun traf Nick sich mit Freunden der Verstorbenen, die sich für die gleichen Dinge interessierten. War es denkbar, dass der Mord an Garnet mit irgendeiner Kultreligion zusammenhing, der sie angehangen hatte? War es möglich, dass ihr Tod gar nichts mit Winnie oder Jack zu tun hatte?
Sie gab das Stichwort »Göttinnenverehrung« in die Such-maschine ihres Computers ein. Die Anzahl der Treffer war überwältigend, doch sie machte sich entschlossen daran, sie zu sichten, überflog die Artikel und Internetseiten über heidnische Kulte. Ein Name sprang ihr ins Auge. Sie ging mit dem Cursor ein Stück zurück und markierte den Titel einer Monografie über Die Geschichte der Göttin in der keltischen Mythologie von einer gewissen Dr. Erika Rosenthal.
Sie hatte einige Wochen zuvor im Zuge einer Ermittlung eine Erika Rosenthal kennen gelernt - der Name war doch gewiss nicht so häufig. Bei einer älteren Dame in Arundel Gardens war eingebrochen worden, und da die professionelle Durchführung des Einbruchs Gemma Sorgen bereitet hatte, war sie selbst hingefahren, um sich vor Ort umzusehen und mit dem Opfer zu sprechen.
Wie sich herausgestellt hatte, war Erika Rosenthal eine hellwache Neunzigerin und äußerst erzürnt über den Diebstahl einiger wertvoller Antiquitäten. Gemma war sie auf Anhieb sympathisch gewesen, ebenso wie ihr entzückendes Haus voller Bücher und wunderbarer Gemälde; ganz besonders hatte es ihr der Salonflügel angetan.
Gemma konnte nur einen Teil von Dr. Rosenthals Artikel überfliegen, bevor sie unterbrochen wurde, und als sie endlich das Tagespensum auf ihrem Schreibtisch abgearbeitet hatte, war es halb sechs. Einer spontanen Eingebung folgend, stopfte sie den Artikel in ihre Aktentasche und rief Hazel an, um ihr zu sagen, dass sie vielleicht etwas später kommen würde.
Ein feiner Dunst hing in der windstillen Luft, und der nasse Asphalt glänzte. Sie liebte dieses Wetter, so wie sie den Herbst in all seinen Erscheinungsformen liebte. Begierig sog sie die kühle, feuchte Luft ein, während sie zu Fuß in Richtung Arundel Gardens ging.
Erika Rosenthals Haus war in Würde gealtert. Sein hellgrauer Putz war ein wenig verblasst, was einen eher heimeligen Effekt hatte, und weder Satellitenschüssel noch Alarmanlage zierten Wände und Dach. Allerdings hatte das Fehlen einer solchen Anlage wahrscheinlich zu Mrs. Rosenthals Verlust beigetragen.
Gemma klingelte, und die alte Dame erschien an der Tür. Ihre Miene hellte sich auf, als sie das Gesicht erkannte.
»Inspector James! Sie haben meine Sachen gefunden.« Sie war eine winzige Frau mit weißem Haar, das zu einem glatten Knoten gebunden war, und leuchtenden schwarzen Knopfaugen, die aus einem von feinen Fältchen überzogenen Gesicht hervorlugten.
»Nein, das ist uns leider noch nicht gelungen. Ich bin aus einem ganz anderen Grund gekommen, Mrs. Rosenthal - wenn Sie einen Moment Zeit hätten.«
»Selbstverständlich. Kommen Sie nur herein und wärmen Sie sich ein bisschen auf.«
Gemma stellte sich vor den elektrischen Kamin und blickte sich mit Wohlgefallen um. Sie widerstand der Versuchung, zu dem Flügel hinüberzugehen, doch für einen Moment gab sie sich der Vorstellung hin, selbst in einem Haus wie diesem zu wohnen. Dann schalt sie sich für ihre unrealistischen Fantasien und sagte nur »Danke sehr, das ist sehr nett von Ihnen«, als ihr ein Glas Sherry angeboten wurde.
»Also, was kann ich für Sie tun?«, fragte Mrs. Rosenthal, indem sie sich auf einen Sessel niederließ. Auf dem Tischchen neben ihrem Platz lag ein aufgeschlagenes Buch, ein Bericht über Mallorys und Irvines verhängnisvolle Everest-Expedition. Sie bemerkte Gemmas Interesse und fügte hinzu: »Seit ich mich nicht mehr schuldig fühlen muss, weil ich mich selbst nicht an solche Dinge heranwage, genieße ich meine Abenteuer ganz entspannt vom Wohnzimmersessel aus.«
»Sind Sie die Dr. Erika Rosenthal, die eine Monografie über heidnische Göttinnenverehrung verfasst hat?«
Mrs. Rosenthal kicherte. »Die bin ich. Aber warum in aller Welt interessieren Sie sich dafür?«
Wie bereits bei ihrem ersten Besuch fiel Gemma auf, dass Dr. Rosenthal einen ganz leichten Akzent hatte - deutsch oder osteuropäisch. »Ich habe - hm... ich habe bei Ermittlungen in einem Mordfall in Glastonbury mitgearbeitet. Das Opfer scheint gewisse Kenntnisse im Bereich der Göttinnenverehrung besessen zu haben, und wir sind nicht sicher, ob das für den Fall irgendwie relevant ist.«
»Und da haben Sie recherchiert und sind auf meinen Namen gestoßen. Kluges Mädchen - oder junge Frau, besser gesagt«, entschuldigte sie sich mit einem Augenzwinkern. »Aber von meiner Warte aus gesehen ist jede Frau unter siebzig ein Mädchen.«
»Aus Ihrem Artikel habe ich geschlossen, dass Sie eine ziemlich angesehene Autorität auf dem Gebiet heidnischer Kulte sind.«
»Ich bin Historikerin, meine Liebe, und ich bin nicht sicher, ob in akademischen Kreisen jemals irgendeine Autorität uneingeschränktes Ansehen genießt. Aber es stimmt schon - ich habe einen Großteil meines beruflichen Lebens diesem Thema gewidmet.«
»Aus dem, was ich heute Nachmittag gelesen habe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Göttinnenverehrung eine überwiegend harmlose, wenn nicht gar positive Sache ist. Zurück zur Mutter Erde und all solche Sachen. Und ich kann auch nicht eben behaupten, dass die Männer sich beim Regieren der Welt allzu sehr mit Ruhm bekleckert hätten, also ist das Matriarchat vielleicht auch keine so schlechte Idee.« Gemma verließ ihren Platz am Kamin und setzte sich gegenüber von Dr. Rosenthal auf einen kleinen Stuhl. »Was ich nicht begreife, ist, wie derartige Überzeugungen jemanden dazu gebracht haben könnten, diese Frau zu ermorden.«
»Ach, wissen Sie, selbst die harmlosesten Aspekte würden schon genügend Motive liefern. Dieses >Zurück zur Mutter Erde<, wie Sie es nennen, entwickelt sich meist zu einem aktiven Widerstand gegen diejenigen, die unsere natürlichen Ressourcen für ihre eigenen Zwecke ausbeuten, und da ist immer eine gehörige Portion Habgier im Spiel. Und dann gibt es Männer - und auch ein paar Frauen -, denen die Vorstellung von Frauen in Machtpositionen zuwider ist. Aber das wissen Sie sicherlich aus eigener Erfahrung.« Dr. Rosenthal sah sie durchdringend an. »Wie jedes System der Welterklärung kann auch der Paganismus sehr leicht zu fanatischen Auswüchsen führen. Sie könnten sagen, dass das Christentum im Grunde eine harmlose und friedfertige Religion ist, und doch ist es jahrhundertelang für unendliches Leid in der ganzen Welt verantwortlich gewesen.
Aber die Verehrung der alten Gottheiten kann noch weiter gehen. Sie hat eine dunkle Seite, ein Element des Chaos, und es gibt Menschen, die danach streben, diese Kräfte auszunutzen und sie wieder auf die Menschheit loszulassen. Und dann gibt es solche, die sich darin verstricken, ohne es zu wollen. Sie sagten, dieser Mord habe sich in Glastonbury ereignet?«
»Ja, ganz in der Nähe des Tor.«
Dr. Rosenthal runzelte die Stirn. »Glastonbury ist schon immer ein Angelpunkt gewesen, ein Energieherd. Dion Fortune hat das begriffen - haben Sie ihre Bücher gelesen? Das sollten Sie tun. Dion Fortune war eine praktisch veranlagte Frau mit dem Herzen einer Dichterin, und sie wusste, dass das Gleichgewicht zwischen den alten und den neuen Kräften ein sehr empfindliches ist. Manche glauben, dass die alten Mächte der Erde ihre Lebenskraft geben, dass diese Mächte aber gebändigt werden müssen, damit wir nicht vom Chaos überwältigt werden.«
»Aber wenn dem so wäre, wieso sollte dann irgendjemand das Gleichgewicht stören wollen?«
»So wie es Kinder gibt, die die Finger nicht vom heißen Ofen lassen können, so gibt es auch immer Menschen, die mit dem Feuer spielen. Vielleicht gehörte Ihr Opfer ja zu ihnen.«
Gemma dachte daran, was Faith ihr über Garnet erzählt hatte - und an die geheimnisvolle Kraft des Tor, die sie selbst verspürt hatte. »Halten Sie solche Dinge denn für möglich?«
»Ich bin Jüdin, meine Liebe. Im letzten Krieg habe ich meine gesamte Familie in den Konzentrationslagern verloren. Wenn Sie mich fragen, was ich glaube, kann ich Ihnen nur sagen, dass diese Gräueltaten ein unwiderlegbares Beispiel für die Macht des Chaos sind, der ganz normalen Schlechtigkeit der Menschen Vorschub zu leisten und sie ins Ungeheure zu vergrößern.«
Am Montagmorgen stand Kincaid schon eine halbe Stunde vor Ladenöffnung vor der Buchhandlung und wartete. Auf dem Weg dorthin hatte er Faith am Cafe abgesetzt.
Nachdem er zehn Minuten lang die Passanten beobachtet hatte, sah er Nick mit seinem Motorrad vorbeifahren und in die Benedict Street einbiegen. Einige Augenblicke später kam Nick zu Fuß um die Ecke. Er ging schnell, doch als er Kincaid erblickte, kam er für einen Moment aus dem Tritt. Dann fing er sich wieder und ging mit einem entschlossenen Ausdruck auf seinem hübschen Gesicht weiter.
Als Nick auf seiner Höhe war, stieß Kincaid sich von der Hauswand ab. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Ich muss den Laden aufschließen.«
»Dann komme ich eben mit Ihnen.«
Nick zögerte, dann zuckte er mit den Achseln und schloss auf. Kincaid folgte ihm in den Laden, und Nick drehte das Schild mit der Aufschrift Geöffnet nach außen.
»Jack und Faith haben sich Sorgen um Sie gemacht.« Kincaid nahm ein Buch über den Tierkreis von Glastonbury von dem vorderen Tisch.
»Ich konnte doch nicht... nachdem die Polizei... ich hab mich tierisch geschämt, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Nun ja, es hat den Anschein, als hätten Sie den ersten Platz auf der Verdächtigenliste eingebüßt, falls das Ihnen ein Trost ist. DCI Greely hat inzwischen Jack in die Spitzenposition befördert, aber die Idee von Faith als Helfershelferin gefällt ihm immer noch gut.«
»Sie machen Witze!«
»Mache ich nicht. Wenn wir alle Zusammenarbeiten würden, anstatt uns gegenseitig Steine in den Weg zu legen, könnten wir vielleicht der Antwort auf die Frage, wer Garnet tatsächlich auf dem Gewissen hat, ein Stück näher kommen. Wenn Sie mir zum Beispiel verraten, was Sie gestern über Garnet herausgefunden haben, könnte ich diese Information eventuell mit anderen Daten verknüpfen.«
»Wie haben Sie -«
»Faith hat mich auf die Suche nach Ihnen geschickt. Ich hatte einen Plausch mit der netten Kassiererin im Assembly Rooms Café.«
»Ach... mit Janet. Ich hätte nie gedacht...«
»Mir scheint, dass Sie Ihre Kontakte und Ihre Kenntnis der Stadt erstaunlich gut zu nutzen wissen.«
»Ich dachte, das könnte nicht schaden.«
»Wieso? Erklären Sie mir das.«
Nick ging um den Tisch herum und rückte geistesabwesend Bücher zurecht. »Ich hatte schon seit einiger Zeit befürchtet, dass Garnets Absichten mit Faith vielleicht nicht so altruistisch waren, wie alle glaubten. Aber ich wusste, dass alles, was ich sagen würde - ganz besonders zu Faith -, schlicht als Eifersucht abgetan werden würde.«
»Also haben Sie den Mund gehalten und die Augen offen gehalten.«
»Oder vielmehr die Ohren. Hier bekomme ich so einiges zu hören.« Nick machte eine Handbewegung, die den Laden einschloss. »Klatsch. Gerüchte. Gesprächsfetzen. Alles deutet in ein und dieselbe Richtung: dass dieses Jahr besondere Energien freisetzt; dass es eine Zeit ist, in der die Mächte der alten Religion ganz nahe an der Oberfläche sind.«
»Millenniumshysterie?«
»Vielleicht. Aber ich glaube, dass Garnet Faith irgendwie benutzen wollte.«
»Und die Leute, mit denen Sie sich gestern unterhalten haben - haben die das bestätigt?«
»So weit wollten sie nicht gehen, nein. Sie haben allerdings hinter vorgehaltener Hand etwas von Samhain gemurmelt.« Als Kincaid fragend die Augenbrauen hob, erklärte Nick: »Das ist der keltische Name für die Allerheiligennacht, für Halloween.«
»Und bis dahin sind es nur noch ein paar Tage«, meinte Kincaid nachdenklich. »Wenn Sie sagen, Sie glauben, Miss Todd wollte Faith >benutzen<, meinen Sie damit so etwas wie ein Opfer?«
»Ich - ich weiß nicht. Aber das kann doch jetzt keine Rolle mehr spielen, oder?«
»Ich wüsste nicht, welche. Aber ich würde diese Theorien an Ihrer Stelle nicht unbedingt Inspector Greely unter die Nase reiben.«
»Weil er mich für verrückt halten wird?«
»Weil es Ihnen ein stärkeres Motiv für den Mord an Garnet gibt. Sie müssen zugeben, dass Sie aus Ihrem Wunsch, Faith zu beschützen, keinen Hehl gemacht haben. Wer sonst würde sich so mit aller Kraft dafür einsetzen -« Kincaid brach abrupt ab, als ihm klar wurde, dass er die Antwort wusste.
»Die Erzdiakonin kommt zum Mittagessen«, teilte ihm Winnie mit, als er wieder bei Jack eintraf. »Sie sagt, das Pfarrhaus würde vor lauter Töpfen mit Essen aus allen Nähten platzen, wenn wir nicht etwas davon essen. Aber ich dachte, ich könnte wenigstens schon mal den Tisch decken.« Sie deutete auf das Durcheinander auf dem Eichentisch.
»Du gibst die Anweisungen, und ich räume die Sachen weg«, schlug Kincaid vor. »Wo ist Jack?«
»Er musste sich auch mal wieder um sein Büro kümmern, der Ärmste. Er hat seit fast einer Woche nichts anderes getan, als zwischen hier und dem Krankenhaus hin und her zu fahren und mich zu bedienen.«
»Die Suche auf dem Dachboden heute Morgen hat wohl nichts ergeben?«
»Nein, aber Simon hat hereingeschaut, um zu sehen, wie wir vorankommen. Was ist mit dir? Hast du Nick gefunden?«
»Ja. Es ist alles in Ordnung mit ihm, er ermittelt nur ein wenig auf eigene Faust.« Er hatte nicht die Absicht, etwas von Nicks Verdachtsgründen gegen Garnet zu erzählen.
Er sah, wie Winnie Halt suchend nach einer Stuhllehne griff und schloss daraus, dass sie immer noch ziemlich wacklig auf den Beinen war, wenn sie es auch nicht zugeben mochte.
»Okay, jetzt setz dich mal hin«, befahl er. »So, wo ist das Besteck?«
Suzanne Sanborne war eine attraktive, intelligent aussehende Frau, schlank, mit silbernen Strähnen in ihrem lockigen Haar. »Sie sind also der berühmte Cousin von Scotland Yard«, sagte sie, nachdem sie Winnie mit einer Umarmung begrüßt hatte.
»Hochwürden.«
»Nennen Sie mich doch bitte Suzanne. Und helfen Sie mir mit diesen Töpfen.«
Bald saßen sie alle beim Mahl um den Tisch herum. Eine Flasche Bordeaux, die Kincaid in Jacks Vorratskammer entdeckt hatte, trug ihr Teil zu der geselligen Stimmung bei. Winnie machte sich Gedanken wegen ihrer seelsorgerischen Verpflichtungen, doch die Erzdiakonin beeilte sich, sie zu beruhigen.
»Das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst, ist, dass du dir Sorgen machst. Ich habe Miles Fleming gebeten, einzuspringen, wann immer er kann, und ich selbst werde auch einige deiner Aufgaben übernehmen.«
»Aber ich könnte doch wenigstens -«
»Nächste Woche reden wir darüber, ob du die Gottesdienste übernehmen kannst«, unterbrach Suzanne sie in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. »Aber du wirst Geduld mit dir haben müssen.«
»Suzanne«, sagte Winnie zögernd. »Ich weiß, die Frage klingt dumm, aber hast du vielleicht irgendeine Ahnung, was ich letzten Mittwoch getan habe? Ich habe Jack gestern gebeten, mir meinen Terminkalender aus dem Pfarrhaus mitzubringen: für Mittwochnachmittag hatte ich zwei Krankenbesuche eingetragen und nach der Mittagspause eine Kapitelsitzung. Heute Morgen habe ich überall angerufen, und es sieht so aus, als hätte ich die beiden Vormittagstermine wahrgenommen, aber die Sitzung versäumt.«
»Natürlich weiß ich, was du getan hast!«, antwortete Suzanne lachend. »Warum hast du mich das nicht eher gefragt? Ich hatte dich gebeten, einen Kondolenzbesuch zu machen.«
»Tatsächlich?«, fragte Winnie verständnislos.
»In Pilton. Du weißt doch, der Pfarrer hatte letzte Woche Urlaub.« An Kincaid gewandt, erklärte sie: »Ich wäre selbst hingegangen, aber ich hatte Diözesansitzung, also habe ich Winnie bei ihrer Party gebeten, den Besuch für mich zu übernehmen.«
Winnie stöhnte. »Das ist ja fürchterlich! Warum kann ich mich nicht daran erinnern?«
»Das wirst du bestimmt noch«, beruhigte Suzanne sie. »Ich verschreibe dir eine Ruhepause. Ich habe den Eindruck, dass du heute schon viel zu viel gearbeitet hast.« Sie sah auf die Uhr. »Ich habe noch einen Termin, aber ich kann dir noch helfen, es dir bequem zu machen, und dann kann Duncan mich hinausbegleiten.«
Geschickt eingefädelt, dachte Kincaid, als sie Winnie ins Wohnzimmer eskortierten. Nachdem sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, ermahnte Suzanne sie noch ein letztes Mal: »Also, mach dir nur keine Gedanken. Deine Gemeinde wird auch noch ein paar Tage länger ohne dich funktionieren.«
»Aber ich habe eine Hochzeit -«
»Darüber reden wir morgen. Ruh dich ein bisschen aus.«
»Aber...« Winnies Proteste ebbten ab, während ihre Augenlider schwerer wurden. Der Wein und die Pasta hatten gute Arbeit geleistet.
Kincaid und Suzanne schlichen auf Zehenspitzen hinaus, und er begleitete sie zu ihrem Wagen.
»Sie macht wirklich erstaunliche Fortschritte«, sagte Suzanne.
»Ja, aber das war es nicht, worüber Sie mit mir reden wollten.«
»Ihnen entgeht aber auch gar nichts, Superintendent.« Sie warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu und seufzte dann. »Ich will ja keine Panik verbreiten, aber ich mache mir große Sorgen wegen Winnies Bruder Andrew. Er hat Winnie noch nicht besucht, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, oder?«
»Soviel ich weiß, war er nicht mehr bei ihr, seit sie das Bewusstsein wiedererlangt hat.«
»Er weigerte sich, die Intensivstation zu betreten - wussten Sie das? Und wenn ich ihm im Wartebereich begegnet bin, kam er mir zunehmend erschöpft und überreizt vor. Ich fürchte, sein Schweigen ist kein gutes Zeichen.«
»Sie könnten Recht haben. Können Sie mit ihm sprechen? Haben Sie irgendeinen Einfluss?«
»Als ich im Krankenhaus mit ihm zu reden versuchte, wurde er nur noch aufgebrachter. Aber wir sind schon sehr lange befreundet. Vielleicht sollten David und ich gemeinsam mit ihm reden.«
»Ich nehme an, dass Sie nicht nur um Catesbys Geisteszustand besorgt sind. Glauben Sie, er könnte Winnie etwas antun?«
»Andrew liebt Winnie so sehr, deshalb fällt es mir schwer, so etwas zu denken. Andererseits kann Liebe manchmal krankhafte Formen annehmen.« Suzanne sah Kincaid in die Augen. »Ich finde, solange wir die Sache mit Andrew nicht geklärt haben, sollten wir Winnie und Jack besser nicht aus den Augen lassen.«
Kaum hatte Fiona ein Gemälde vollendet, da formte sich auch schon das nächste Bild in ihrem Kopf und ließ ihr keine Ruhe, bis sie es auf der Leinwand zum Leben erweckt hatte.
Sie war überzeugt, noch nie so gut gearbeitet zu haben, mit einer solchen Farbfülle und solcher Feinheit der Details - und zum ersten Mal seit Monaten war das Kind nirgendwo aufgetaucht. Doch sie war todmüde, und nachdem sie letzte Hand an ihr neuestes Werk gelegt hatte, wusch sie ihre Pinsel aus und verließ das Atelier.
Bram sah von dem Buch auf, in dem er las. Seine Erleichterung war unübersehbar. »Fertig, Schatz?«
Fiona streckte sich neben ihm auf dem Sofa aus. »Fix und fertig.«
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen.« Er strich ihr mit dem Daumen über die Stirn.
»Das tust du schon, indem du mich verstehst.« Als Kind hatte sie die Wände bemalt, wenn der Drang sie überkam und kein Papier zur Hand war, und sie hatte nicht begriffen, wieso sie dafür bestraft wurde. Einmal unternahmen ihre ratlosen Eltern den Versuch, sie ganz am Malen zu hindern, worauf sie in eine so tiefe Depression verfiel, dass es bereits an Katatonie grenzte.
»Aber heute Abend fühle ich mich leer«, fügte sie hinzu. Sie gähnte und kuschelte sich noch etwas enger an ihn. »Vielleicht war’s das ja fürs Erste.«
»Sind sie gut?«
»Fantastisch. Sie werden dir gefallen.« Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ich denke, ich werde morgen mal bei Winnie vorbeischauen, falls sie ein bisschen Gesellschaft gebrauchen kann.«
»Soll ich dir vorlesen?«
»Was liest du denn gerade?«
»William von Malmesburys Bericht über seinen Besuch in der Abtei um das Jahr 1120. Hör dir das mal an. Er schreibt über die alten Kirchen: >... auf dem Fußboden finden sich überall Steine, kunstvoll ineinander verschränkt in Form von Dreiecken und Quadraten und mit Blei versiegelt; ich versündige mich nicht gegen die Religion, wenn ich glaube, dass sich darunter irgendein heiliges Geheimnis verbirgt...<«
War es das gewesen, was Garnet gewusst hatte? Fiona wollte Bram fragen, doch die Worte reihten sich aneinander wie schimmernde Perlen an einer Schnur, bis nur noch ein schwächer werdender Schimmer übrig blieb.
Sie erwachte im Dunkeln auf dem Sofa, eingehüllt in eine Decke, den Kopf sorgfältig auf ein Kissen gebettet. Es war spät - oder sehr früh; das erkannte sie an der Qualität des Lichts, das durch die Ritzen der Jalousien schimmerte. Sie setzte sich auf, um sich für den Rest der Nacht noch ins Bett zu legen, und plötzlich war der Traum wieder da.
Die Musik - sie hatte das Singen wieder gehört. Jetzt zerfloss es, glitt ihr wieder durch die Finger.
Und sie hatte die Abtei gesehen, gebadet in ein reines, fahles Licht. Doch die von wilder Vegetation überwucherten Ruinen standen in einer weitläufigen ländlichen Gegend, nicht in ihrem von Mauern umschlossenen modernen Areal. Im Vordergrund grasten ein paar magere Kühe, bewacht von einem Mann in altertümlicher Kleidung, der, malerisch auf einen Hirtenstab gelehnt, dastand.
Fiona legte sich wieder hin und zog sich die Decke bis zum Kinn, während sie versuchte, das Chaos, das in ihrem Kopf umherwirbelte, zu ordnen: die Musik, Garnet, die wunderschönen farbigen Fliesen in der alten Kirche, die seltsame Erscheinung der Abtei...
Ihr letzter Gedanke, bevor sie erneut in Schlaf sank, war, dass der Mann mit dem Hirtenstab eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Jack Montfort gehabt hatte.