Die Feuchtwiesen sind von jenem Smaragdgrün, das man nur dort sieht, wo das Grundwasser dicht unter der Oberfläche steht. Wenn man im Sommer durch die verdorrten Landschaften der Umgebung reist, erkennt man an der grünen Erde, dass Avalon nicht weit ist.
Dion Fortune, aus: Glastonbury: Das englische Jerusalem
Kincaid hätte sich keinen perfekteren Tag vorstellen können. Die drückende Hitze, die in Südengland so häufig die letzten Augusttage prägte, war vom Westwind hinweggefegt worden, der der Luft einen ersten Hauch herbstlicher Frische verliehen hatte. Wildfremde Menschen nickten einander auf der Straße zu, lächelten und sagten »Schöner Tag heute«, und dieses eine Mal schien die Angewohnheit der Engländer, ständig über das Wetter zu reden, wirklich gerechtfertigt.
Er und Kit hatten den Morgen damit verbracht, sich mit den Automaten in der Spielhalle am Leicester Square herumzuschlagen, und als sie wieder ans Tageslicht traten, war die Außentemperatur bereits auf T-Shirt-Niveau angestiegen. »Na, hast du schon Hunger?«, meinte Kincaid, obwohl er wusste, dass die Frage rein rhetorisch war.
»Hmm... was denkst du, könnten wir vielleicht ins Hard Rock Cafe gehen?«, fragte Kit in dem zögernden Ton, den er immer noch in fast jede Bitte legte.
»Warum nicht? Ich glaube, ich könnte locker so ein bis zwei Touristen zum Lunch verdrücken. U-Bahn?«
Kit schien unschlüssig und sah nach den Menschenmassen, die im strahlenden Sonnenschein über den Platz strömten. »Können wir nicht zu Fuß gehen?«
An einem Samstag im August zu Fuß durch das Herz des Londoner West End zu gehen kam in Kincaids Augen dem Versuch gleich, sich ohne Schutzschild und Helm durch die Horden von Hooligans bei einem Fußballspiel hindurchzukämpfen. Er nickte trotzdem. »Also los dann, Kumpel.«
Sie machten sich auf den Weg durch das Labyrinth von Straßen in Richtung Piccadilly Circus. Kit wich den entgegenkommenden Fußgängern aus, um an seiner Seite zu bleiben, und seine Schulter streifte Kincaids Arm, ohne dass der Körperkontakt ihm unangenehm zu sein schien. Kincaid dachte daran, wie heikel ihre Beziehung noch vor wenigen Monaten gewesen war, als jedes Wort und jede Berührung ein potenzielles Risiko beinhaltet hatten. Hier und dort war das Gelände immer noch vermint, doch sie hatten schon große Fortschritte gemacht.
Er blickte auf den blonden Haarschopf seines Sohnes herab, und ihm wurde plötzlich bewusst, dass der Tag nicht allzu fern war, an dem er nicht mehr auf Kit würde herabschauen können. Das war eben so, nichts zu machen. Aber noch war Kit dem Kindesalter nicht ganz entwachsen, und dafür war Kincaid extrem dankbar. Kits Freund Nathan Winter hatte dem Jungen zum Geburtstag ein Mikroskop geschenkt, und morgen wollten die beiden nach Hampstead Heath fahren und Teichwasserproben sammeln. Mädchen und Rockmusik würden noch früh genug dazwischenkommen; bis es so weit war, hatte Kincaid noch eine ganze Menge nachzuholen.
Seine Ehe mit Kits Mutter war abrupt und stürmisch zu Ende gegangen, und erst vor wenigen Monaten hatte Kincaid erfahren, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Trennung schwanger gewesen war. Sie hatte damals eine Affäre mit einem ihrer Professoren, den sie später auch heiratete; das Kind gab sie als das seine aus. Es musste ihr schon sehr bald klar geworden sein, dass der Junge nicht Ian McClellans, sondern Kincaids Sohn war. Ob sie die Absicht gehabt hatte, ihm dies zu gestehen, als sie im vergangenen Frühjahr mit ihm Kontakt aufnahm, würde Kincaid nie erfahren.
Wenige Wochen nachdem sie ihn gebeten hatte, ihr bei der Aufklärung eines anderen Todesfalles zu helfen, war sie ermordet worden, und er war mit dem Gefühl zurückgeblieben, dass zwischen ihnen noch vieles zu klären gewesen wäre.
Als er nun Kit beobachtete, wie er auf Schritt und Tritt an seiner Seite ging, stellte er fest, dass es ihn nicht mehr wie früher schockte, sich einer jüngeren Version seiner selbst gegenüber zu sehen. Und auch die Ähnlichkeit des Jungen mit Vic - ihrem Lächeln, ihren Gesten, ihren Eigenarten - schmerzte ihn nicht mehr so wie in den ersten paar Wochen nach ihrem Tod.
Endlich erreichten sie Piccadilly Circus und gingen von dort den Piccadilly entlang in Richtung Hyde Park. Und während sie so marschierten, sprang etwas von Kits Begeisterung auf Kincaid über, der sich daran erinnerte, wie herrlich ihm die Stadt erschienen war, als er vor zwei Jahrzehnten zum ersten Mal nach London gekommen war. Kit sah ihn an, und sie strahlten beide vor purer Freude an dem bunten Treiben rings um sie herum.
Als sie schließlich das Hard Rock Café erreichten, waren sie beide erhitzt und ausgehungert. Eine Stunde später kamen sie wieder heraus, randvoll mit Cheeseburgern, Pommes frites und Schoko-Milchshakes; zudem war Kit nun stolzer Besitzer eines begehrten T-Shirts, auf dem zu lesen war, dass das Londoner Hard Rock das »Original« sei.
Auf der anderen Straßenseite lockte der Green Park, und schon bald hatten sie ein geeignetes Plätzchen gefunden, wo sie sich im Gras ausstrecken konnten. Die Menschen rekelten sich auf Handtüchern oder in mit gestreiftem Stoff bespannten Klappstühlen, um den Sommer noch einmal in vollen Zügen zu genießen. Obwohl es Kincaid gewöhnlich schwer fiel, sich an einem öffentlichen Ort zu entspannen, ließ er nun die Sonnenwärme wie eine Droge in seine Haut einziehen, und schon bald wurden ihm die Lider schwer.
Er schreckte aus seinem Schlummer hoch, als Kit sich auf den Bauch rollte und erklärte: »Ich wünschte, wir hätten Tess mitnehmen können.« Kit deutete auf die zahlreichen Hunde, die neben ihren Herrchen und Frauchen herliefen, nach Frisbees schnappten oder einfach nur zufrieden hechelnd in der Sonne lagen.
»Dann hätten wir aber nicht in den Spielsalon gehen können«, erinnerte ihn Kincaid, während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb.
»Ich weiß. Ich beschwere mich ja auch nicht. Es ist halt einfach so schön hier, das ist alles.« Kit kaute nachdenklich auf einem Grashalm herum. »Komisch, irgendwie will ich, dass wir beide allein sind, aber gleichzeitig vermisse ich auch Gemma und Toby.«
»Das ist der Grund, weshalb die Zen-Philosophen lehren, dass man sich auf den Augenblick konzentrieren muss. Sonst verpasst man das Jetzt, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, etwas anderes zu wollen.«
»Bist du gut darin, im - wie hast du es noch mal genannt?«
»Auf den Augenblick konzentrieren? Ich kann es nicht halb so gut, wie ich gerne möchte. Aber du hast mir geholfen, besser zu werden.«
»Ich?«
»Wenn ich mit dir zusammen bin, will ich nicht über die Arbeit und solche Dinge nachdenken. Und wenn dann so ein nerviger Gedanke in meinem Kopf auftaucht, denke ich einfach: Verschwinde! Und das tut er gewöhnlich auch.«
»Aber Gemma vermisst du dann immer noch, nicht wahr?«
Die Frage traf Kincaid wie ein Schlag in die Magengrube.
Er starrte seinen Sohn an. Wenn es um Gefühle ging, neigte Kit sonst dazu, sich wie ein Krebs in seine Schale zu verkriechen. »Ja«, sagte er, zu überrascht, um nicht ehrlich zu antworten. »Allerdings.«
»Ich verstehe nicht, weshalb sie Weggehen musste.«
»Sie ist auf einem Lehrgang, Kit. Das weißt du doch.«
»Aber warum musste sie sich denn um eine Beförderung bewerben? Hätte sie nicht alles beim Alten lassen können?«
Ja, warum eigentlich nicht?, dachte Kincaid bitter. Gewiss, die rationalen Argumente waren ihm alle bekannt - er hatte ja selbst ein Lippenbekenntnis darauf abgelegt -, und er hatte Verständnis für Gemmas Motive, aber in seinem Herzen fühlte er sich genauso unglücklich und allein gelassen wie Kit. Sie hatte ihn im Stich gelassen, und die Arbeitstage kamen ihm ohne ihre Gesellschaft schier endlos vor. Die neuen Assistenten, die einander in rascher Folge ablösten, machten ihn nur noch gereizter. Wenn Gemma aus Bramshill zurückkam, würden sie wenigstens einen Teil ihrer Freizeit zusammen verbringen können, je nachdem, wohin man sie versetzen würde; für ihre berufliche Partnerschaft jedoch würde es keinen Ersatz geben. »Das war ganz einfach etwas, was sie tun musste«, sagte er und hörte selbst die mangelnde Überzeugung aus seinen Worten heraus.
Kit sah ihn finster an, er ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. »Warum könnt ihr dann nicht einfach heiraten? Dann könnten wir... na ja, so was wie eine richtige Familie sein.«
»Das ist kein Thema«, sagte Kincaid heftiger als beabsichtigt. Gemma hatte das unmissverständlich klar gemacht, und er tat sein Bestes, sich mit dem zufrieden zu geben, was möglich war. Schließlich hatten sie sich beide bei ihren ersten Eheversuchen nicht gerade mit Ruhm bekleckert, und jetzt, da Gemma so bewusst auf Abstand ging, erschien ihm ihre gemeinsame Zukunft umso ungewisser.
Aber was war nur in Kit gefahren? Ihre Vater-Sohn-Beziehung war immer noch ein heikles Thema, und soeben hatte Kit erstmals in seiner Gegenwart offen eingestanden, dass sie eine Familie waren - oder möglicherweise sein könnten. »Ist irgendetwas mit Ian, Kit?«, fragte er, während er Kits halb abgewandtes Gesicht zu lesen suchte. Kit war die Woche über immer bei Ian McClellan, dem Mann, den er fast zwölf Jahre lang als seinen Vater gekannt hatte; die meisten Wochenenden dagegen bei Kincaid.
Kit nagte an seiner Unterlippe; seine Augen waren halb verdeckt durch eine widerspenstige Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel. »Ich sollte es eigentlich nicht wissen. Aber ich habe den Brief gesehen, und ich habe gehört, wie er telefoniert hat.«
»Was für einen Brief?«
»Den von der Universität von Quebec. Sie haben ihm einen Job angeboten. >... seine akademische Karriere, mehr Möglichkeiten, bla bla bla...< Was sie meinen, ist mehr Geld.«
»Und du denkst, dass Ian das Angebot annehmen will?«
»Er hat so Andeutungen gemacht. »Hättest du nicht Lust, Ski fahren zu lernen, Kit? Was macht eigentlich dein Französisch, Kit?<«
Eine Welle von Panik erfasste Kincaid. Nach allem, was geschehen war, nach allem, was sie durchgemacht hatten, wollte er Kit nicht wieder verlieren. So ruhig, wie es nur eben ging, sagte er: »Du möchtest nicht mitgehen?«
Kit warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann gleich wieder ab, mit einer gewollten Lässigkeit, die nicht ganz überzeugend wirkte. »Ich will hier bleiben. Bei dir.«
»Das würde bedeuten, von Grantchester fortzugehen und hier in London zu wohnen.«
»Ich weiß. Würde es dem Major etwas ausmachen, wenn Tess ab und zu mal im Garten rumlaufen würde?«
Kincaid lächelte. »Ich denke, du könntest ihn überreden.« Typisch Kit, dass er zuerst an den zotteligen kleinen Terrier dachte und nicht an eine neue Schule, neue Freunde und all die anderen logistischen Probleme, die einem den Verstand rauben konnten. Und selbstverständlich würde ohne Ians Zustimmung gar nichts gehen; er war immer noch Kits gesetzlicher Vormund.
Ian McClellans Verhalten war noch nie berechenbar gewesen. Zuerst hatte er Kits Mutter verlassen und war mit einer Studentin nach Frankreich durchgebrannt; nach Vics Tod hatte er dann jegliche Verantwortung für den Jungen abgelehnt. Und dann war er vor ein paar Monaten plötzlich aus Frankreich zurückgekommen, entschlossen, seinen Fehler wieder gutzumachen, und hatte Kit in sein Haus in Grantchester zurückgeholt. Nun sah es so aus, als ob der Mann es kaum erwarten könne, wieder zu verschwinden. Wie würde es Ian wohl gefallen, Kit zurückzulassen?
Und davon abgesehen, wie würde es ihm, Kincaid, wohl als allein erziehendem Vater ergehen? Seine Beziehung mit Gemma würde noch schwieriger werden, das war ihm klar, aber er wusste, dass Kits Wohl absoluten Vorrang hatte.
»Würde es... Du hättest doch nichts dagegen, oder? Wenn ich zu dir ziehen würde?« Diesmal sah Kit Kincaid in die Augen.
»Es gibt nichts«, antwortete Kincaid wahrheitsgemäß, »was mir lieber wäre.«
Winnie legte Wert darauf, wenigstens einmal im Monat mit Fiona Allen zu Mittag zu essen, entweder im Pfarrhaus in Compton Grenville oder bei Fiona in der Bulwarks Lane am Fuß des Tor. Heute trafen sie sich in Fionas Haus, da Winnie ohnehin in Glastonbury unterwegs war, und Fiona hatte in ihrer hellen skandinavischen Küche einen Nizzasalat zubereitet.
»Somerset im August ist furchtbar«, stöhnte Winnie, während sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und an ihrer Bluse zupfte, die an ihrer feuchten Haut klebte. »Es ist, als ob man in einem Suppentopf lebt.«
»Solange du darauf bestehst, mit diesem Fahrrad herumzufahren, kannst du dich eigentlich nicht beklagen«, mahnte Fiona, die soeben die Teller auf den Tisch stellte.
»Du klingst genau wie Jack. Auf dem Rad bekomme ich wenigstens ein bisschen frische Luft. Das Auto ist ja wie ein Ofen auf Rädern.«
»Du bist unverbesserlich.« Fiona schüttelte lächelnd den Kopf. »Was macht denn der angeblich so schnuckelige Jack? Allmählich glaube ich, du hältst ihn absichtlich von mir fern, damit ich mir kein eigenes Urteil bilden kann.«
»Ich werde eine Dinnerparty geben. Bald, das verspreche ich. In letzter Zeit scheint uns irgendwie keine freie Minute zu bleiben.«
»Wegen des automatischen Schreibens? Was gibt es denn da Neues?« Fiona war die einzige Person außerhalb der Gruppe, der Winnie sich anvertraut hatte.
»Es ist faszinierend - ich meine das Material an sich.«
»Dir kann doch nicht ganz wohl dabei sein.«
»Meinst du, ich habe Angst vor Gespenstern?«, lachte Winnie, um dann in ernsthafterem Ton fortzufahren: »Weißt du, es ist komisch, aber irgendwie wirkt Edmund zu real für einen Geist. Zu menschlich. Und ich habe mich wohl irgendwie daran gewöhnt.«
Fiona hob die Augenbrauen. »Und was lässt dir dann keine Ruhe?«
»Ich habe wohl zu viel Erfahrung mit Komitees, bei denen am Ende nichts als Ärger rauskommt«, erwiderte Winnie mit einem Seufzer. »Die Gruppendynamik scheint sich zu verändern, und das ist kein gutes Zeichen.«
»Ich dachte, bei euch wäre alles eitel Freude und Sonnenschein, nach dem Motto: >Wir retten gemeinsam die Welt<.«
»So war es ja auch anfangs. Aber es ist uns nicht gelungen, herauszufinden, was Edmund genau will, und jetzt wird die ganze Energie in andere Richtungen gelenkt. Nick - der junge Mann von der Buchhandlung - hat sich in Faith verguckt -«
»Euren schwangeren Teenager.«
»Genau. Faith selbst scheint allerdings gar nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorgeht. Sie hat irgendetwas an sich - ob man will oder nicht, man muss ihr einfach zu Füßen liegen. Und sie ruht ganz in sich selbst, auf eine Weise, wie ich es noch bei keinem anderen Menschen erlebt habe. Aber gleichzeitig hat sie auch etwas Verletzliches.«
»Ein Familientrauma?«, sinnierte Fiona.
»Ich weiß es nicht. Ich würde ihr gerne helfen, aber es ist mir noch nicht gelungen, ihren Schutzpanzer zu durchdringen.«
»Aber das ist noch nicht alles«, half Fiona ihr auf die Sprünge, während sie an einer glänzenden schwarzen Olive knabberte.
»Nick ist furchtbar eifersüchtig auf Simon - verständlicherweise. Nick hat sich für einen unverzichtbaren Faktor in der Gleichung gehalten und Jack bei Simon Fitzstephen eingeführt -«
»Und jetzt verbringt Jack mehr Zeit mit Fitzstephen als mit Nick, und Nick fühlt sich im Stich gelassen.«
»Ein klassischer Fall, nicht wahr? Simon ist wirklich unmöglich; ich glaube, er geht unter anderem deswegen auf Jack ein, weil er mir eins auswischen will, und wenn er noch andere Motive hat, dann sind es jedenfalls keine selbstlosen, das kannst du mir glauben. Ich traue ihm einfach nicht über den Weg. Und dann ist da noch Garnet -«
»Garnet Todd?« Fionas haselnussbraune Augen weiteten sich. »Du hast mir nicht gesagt, dass Garnet in eurer Gruppe ist.«
»Nein? Kennst du sie denn?«
»Wer kennt sie nicht? Garnet ist doch bekannt wie ein bunter Hund hier in der Gegend. Sie hatte immer schon ein Talent, für Aufruhr zu sorgen, wo sie auch auftauchte. Ich nehme an, daran hat sich nicht viel geändert.«
»Sie scheint eine Abneigung gegen Nick entwickelt zu haben«, gab Winnie zu.
»Und du musst am Ende wieder Frieden stiften?«
»Offensichtlich ohne großen Erfolg. Aber am meisten mache ich mir Gedanken um Jack. Er scheint mehr und mehr von dieser Sache besessen. Man sollte annehmen, dass er durch unsere mangelnden Fortschritte entmutigt sein müsste, aber der Effekt ist offenbar genau umgekehrt. Es ist, als ob er meint, dass irgendwo eine Uhr tickt. Und ich kann sie nicht hören.« Indem sie das sagte, wurde Winnie bewusst, wie isoliert sie sich deswegen fühlte.
»Sei nicht so streng mit dir! Sieh mal, da bist du in diese unerwartet wundervolle Beziehung hineingestolpert, und jetzt geht er hin und springt mit einem Nebenbuhler ins Bett, den du gar nicht sehen kannst.«
»Aber so ist es doch gar nicht!«, protestierte Winnie, musste dann aber über ihr eigenes Unbehagen lachen. »Na gut, vielleicht ist es doch ein bisschen so. Erzähl mir von dir«, fügte sie hinzu, darauf bedacht, schnell das Thema zu wechseln.
»Da gibt’s leider nicht viel zu erzählen.«
Winnie betrachtete eingehend das Gesicht ihrer Freundin. »Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.«
Fiona zuckte mit den Achseln. »Ich erwarte ja gar nicht, dass ich irgendeine Kontrolle über das habe, was ich male - das war noch nie der Fall -, aber so etwas wie das hier ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Du malst also immer noch das kleine Mädchen?«
»Sie sind so düster, diese Bilder. Ohne jede Fröhlichkeit. Mir graut allmählich schon davor, dass mich der Drang zu malen überkommt. Und Bram hasst sie, das merke ich genau -«
Das Knallen der Tür brachte sie zum Schweigen.
»Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe, Fi«, sagte Bram Allen, als er in die Küche trat und seine Frau auf die Wange küsste. »Musste noch auf einen Anruf aus dem Ausland warten. Hallo, Winnie«, fügte er hinzu, indem er ihr flüchtig zunickte. »Schön, Sie zu sehen.«
Während Fiona das Essen für ihren Mann zubereitete, beobachtete Winnie das Paar mit einem Anflug von Neid. Die beiden waren über fünfundzwanzig Jahre verheiratet, und sie wirkten immer noch so verliebt wie ein junges Brautpaar. War ihr und Jack eine solche Zukunft bestimmt? Oder würde Jacks Umgang mit Simon ihn in eine Richtung führen, in die sie ihm nicht folgen konnte?
Sie war zufrieden gewesen in ihrer Selbstgenügsamkeit, bis sie Jack Montfort begegnet war; sie war sich keiner Leere in ihrem Leben bewusst gewesen. Warum also erfüllte sie jetzt der Gedanke an eine Zukunft ohne ihn mit solcher Trostlosigkeit und Verzweiflung?
Sie hatten es sich in Jacks Küche bequem gemacht - Winnie und Jack, Nick, Garnet Todd, Simon und das Mädchen, Faith. Die Hitzewelle, unter der ganz Südengland seit Wochen litt, hatte nachgelassen, und in der leichten Brise, die durch die geöffneten Fenster hineinwehte, ließ eine gewisse Frische bereits den Herbst erahnen. Von ihrem Platz aus konnte Winnie die Flanke des Tor erblicken, der hinter dem verwilderten Garten aufragte. Ein einzelnes Schaf weidete auf dem grünen Gras.
Sie tranken gemütlich ihren Tee und ergingen sich in den zwanglosen Plaudereien, die so typisch für warme Sommernachmittage sind. Jack hielt sein Notizbuch bereit.
Plötzlich begann sein Kugelschreiber sich über das Papier zu bewegen. Jack setzte seine Unterhaltung mit Simon fort, offenbar ohne sich der Handlungen seiner eigenen Hand bewusst zu sein. Sooft Winnie dieses Phänomen auch miterlebt hatte, sie empfand es immer noch als verstörend und unheimlich. Unwillkürlich kam ihr das Wort »Besessenheit« in den Sinn.
Sobald Jack zu schreiben aufgehört hatte, begann Simon zu übersetzen.
Bruder Francis hat mir meine eigene Schreibnische zugewiesen. Wir arbeiten an der Nordseite des Kreuzgangs, wo das Licht am besten ist, und meine Nische liegt in der Nähe eines Fensters; ein sehr begehrter Platz. Bruder Francis hat mir des Abts eigenes Missale zum Kopieren gegeben, weil ich so rasch gelernt habe, doch er warnt mich vor der Sünde des Stolzes.
Simon sah stirnrunzelnd von dem Blatt auf. »Dann folgen ein paar Zeilen, die ich überhaupt nicht entziffern kann - dann etwas... etwas... Mädesüß, glaube ich. Der Duft von Mädesüß. Dann... viel Regen... Glaston erhebt sich aus der überschwemmten Ebene... eine Insel im Nebel. Vorräte werden von den weiter entfernten Ländereien der Abtei herbeigebracht, doch unsere Besucher sind nur wenige, was mir freilich sehr recht ist.
»Ist euch aufgefallen, dass er plötzlich im Präsens zu uns spricht?«, fragte Winnie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der lineare Zeitbegriff sonderlich viel bedeutet für jemanden in Edmunds... hm, Zustand«, sagte Jack.
»Also Jack, es wäre doch wirklich übertrieben, wenn wir Winifreds Gefühle schonen wollten, indem wir das Wort >Geist< vermeiden«, warf Simon ein. Winnie musste ihm ausnahmsweise Recht geben. Welche Veranlassung hatte sie, über dogmatische Details zu streiten, wenn Edmund, der schließlich ein katholischer Mönch gewesen war, anscheinend kein Problem damit hatte, ein Geist zu sein?
»Winnie hat Recht«, sagte Garnet. »Es ist eine Veränderung - es ist, als ob die Vergangenheit für ihn jetzt gegenwärtiger wäre als vorher. Gibt es noch mehr, Simon?«
Simon blickte sich in der Runde um, doch Nick hatte nur Augen für Faith, die wiederum Garnet anstarrte. Er räusperte sich und wartete, bis sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten; dann griff er wieder nach dem Notizblock.
Nichts unterbricht den Rhythmus unserer Tage, der langen Tage im Dämmerlicht des Sommers. Die Nachttreppe hinab zur Matutin, kühl der Stein unter unseren Füßen. Wir singen das Brevier in jenem Zustand zwischen Schlafen und Wachen... dann sind wir Gott am nächsten.
Die Zeit ist nun reif für die Wiederkehr der Herrlichkeit. Ihr müsst danach streben, all das wiederzuerlangen, was verloren ging... Es waren meine Sünden, die solches Unglück auf uns brachten...
»Das ist alles.« Simon sah auf, und Winnie fand sich mit einem Ruck in die Gegenwart zurückgeholt. Für einen Augenblick hatte sie die große Kirche gesehen, erleuchtet vom Schein der Kerzen, und hatte die Stimmen gehört, die sich zum Lob Gottes erhoben. Das Verlangen, das sie nach dieser Vision empfand, war so intensiv, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Sie musste blinzeln.
Hatten die anderen es auch gespürt? Faiths Gesicht leuchtete. Ihre Blicke trafen sich, und sie tauschten eine wortlose Bestätigung aus.
»Was ist es denn nun genau, nach dessen Wiedererlangung wir streben sollen?« Jack klang entnervt. »Ganz zu schweigen davon, wie wir es anstellen sollten, wenn wir denn wüssten, was es ist.« Winnie sagte zögernd: »Ich - ich habe da vielleicht eine Idee...« Alle drehten sich zu ihr um und starrten sie an. Würden sie glauben, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war? Aber sie wusste, dass das keine Rolle spielte.
»Ich weiß nicht genau, wie... Aber er... Edmund... Ich konnte seine Freude spüren und ein Gefühl von - ich denke, man könnte es vollkommene Harmonie nennen. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Alles schien in Ordnung zu sein mit der Welt und mit Gott. Ich glaube, er möchte, dass ihr das wisst - dass so etwas möglich ist.«
Garnet beugte sich abrupt vor und erfasste sie alle mit ihrem intensiven Blick. Ein plötzlicher Luftzug hob den dünnen Vorhang hinter ihr an. »Und nirgendwo ist das so wahr wie in Glastonbury, einem der heiligen Kraftzentren der Erde. Edmund hat uns ein Fenster geöffnet, eine Passage - eine Möglichkeit, diese Energie in die Gegenwart hineinzuziehen.«
»Aber wie?« Jack runzelte die Stirn. »Und das erklärt noch nicht, wieso die Übertragung durch mich geschieht.«
»Ich weiß, dass Simon keine direkte Verwandtschaftsbeziehung ausfindig gemacht hat«, sinnierte Winnie. »Aber ich bin einfach überzeugt, dass es da eine genetische Komponente geben muss.«
Jack dachte nach und rieb sich dabei das Kinn - eine unbewusste Geste, die Winnie immer wieder rührend fand. »Die Familie meines Vaters ist in dieser Gegend allerdings schon seit Menschengedenken ansässig. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich sie von meinem Ende aus zurückverfolgen soll.«
»Wenn es eine Verbindung gibt, dann wird Simon sie aufspüren«, beharrte Garnet. »Ich weiß, es fällt schwer, geduldig zu sein -«
»Sie können nicht erwarten, dass wir hier herumsitzen und bis zum Jüngsten Tag auf Simon warten«, fuhr Nick sie an. »Er ist nicht der Einzige, der Zugang zu genealogischen Dokumenten hat -«
»Niemand hat gesagt, dass wir irgendetwas unversucht lassen sollten«, schaltete sich Jack ein, der offenen Feindseligkeiten Vorbeugen wollte. »Ich habe da ein paar ältere Verwandte, mit denen ich mal reden könnte. Irgendwo müssen wir ja schließlich anfangen, also warum nicht dort, meinen Sie nicht auch, Simon? Wer möchte noch etwas Tee?«
Winnie sah unschlüssig nach der Uhr. Sie verspürte das deutliche Bedürfnis, sich gegen die emotionalen Unterströmungen der Gruppe abzuschotten, um das soeben Erlebte auf sich wirken lassen zu können. »Ich glaube, ich werde zur Abendmesse nach Wells fahren. Jack?«
»Tut mir Leid, Schatz, ich kann nicht. Ich habe um sechs einen Termin mit ein paar Bauherren.« Er berührte sanft ihren Arm. »Bist du sicher, dass du nicht bleiben möchtest?«
»Ich würde gern mit Ihnen fahren, wenn es recht ist«, schlug Faith zu Winnies großer Überraschung vor.
»Selbstverständlich«, erwiderte Winnie aufrichtig erfreut. Sie hatte gehofft, einmal in Ruhe mit dem Mädchen reden zu können, ohne zu sehr als die Priesterin zu erscheinen, die sich in alles einmischt, und hier bot sich ihr nun die perfekte Gelegenheit dazu.
Historisch gesehen hatte Wells lange Zeit in Konkurrenz zu Glastonbury gestanden, sodass Verbesserungen in Wells häufig zu verstärkter Bautätigkeit an der Abtei geführt hatten und umgekehrt. Als sie über die Grünfläche hinweg die Westfassade der Kathedrale erblickte, versuchte Winnie sich vorzustellen, dass die Abtei einst ganz ähnlich ausgesehen hatte, doch es schien unmöglich, das Bild der prachtvollen Stirnseite und der Türme dieser unversehrten Kathedrale mit den verbliebenen Ruinen von Glastonbury in Einklang zu bringen.
»Die Leitern gefallen mir am besten.« Faith blieb stehen und blickte zu den in Stein gehauenen Heiligen auf, die in den Himmel aufstiegen.
»Mir auch«, stimmte Winnie zu. »Du bist also schon mal hier gewesen?«
»Schon oft.«
Da Faith nichts weiter sagte, warf Winnie einen Blick auf ihre Uhr. »Ich denke, wir haben noch Zeit für eine Tasse Tee in der Cafeteria, wenn du magst. Hast du Hunger?«
Faith lächelte schüchtern. »Immer.« Als sie die Kathedrale durch den Haupteingang betraten, verspürte Winnie das gleiche erhebende Gefühl des Entzückens, das sie jedes Mal beim Anblick der großen scherenförmigen Strebebögen überkam, auf denen die Türme ruhten. Einige Historiker vertraten die Theorie, dass Glastonbury früher einen Bogen wie diesen besessen hatte, und Winnie kam plötzlich der Gedanke, dass sie ja Edmund fragen könnten - ein sicheres Zeichen dafür, dass sie inzwischen genauso übergeschnappt war wie all die anderen.
Sie wandten sich nach rechts und gingen durch den Souvenirladen in die Cafeteria, wo Faith sich von Winnie ein Käse-brötchen kaufen ließ, aber auf Kräutertee bestand. »Garnet sagt, ich darf kein Koffein zu mir nehmen«, erklärte sie. »Das ist schlecht für das Baby.«
»Verstehst du dich gut mit Garnet?«, fragte Winnie, als sie an dem Tisch Platz genommen hatten, von dem aus sie das stille grüne Quadrat des Klosterhofs überblickten.
»Sie hat mir ganz toll geholfen. Und sie weiß so viel über alles Mögliche. Haben Sie mal ihre Fliesen gesehen?«
»Ja, in mehreren der Kirchen, die ich regelmäßig besuche. Sie sind wunderschön.«
»Sie weiß auch alles über die alte Religion und darüber, wie die Verehrung der Göttin in das Christentum integriert wurde als Verehrung der Jungfrau Mar...« Sie brach ab und starrte Winnie entsetzt an, als sei ihr plötzlich klar geworden, dass Winnie diese Ansichten vielleicht missbilligen würde.
»Da mag sie sehr wohl Recht haben«, bemerkte Winnie ruhig. »Es ist ein interessanter Gedanke. Du sagst, du bist schon oft in Wells gewesen?«
»In der Schule hab ich im Chor gesungen«, erläuterte Faith. »Wir sind hierher gekommen, um andere Chöre zu hören, und einmal sind wir auch eingeladen worden, selbst zu singen.«
Hörte sie da einen wehmütigen Unterton in der Stimme des Mädchens? »Das muss dir doch sehr fehlen.«
»Es war... ich hab mich dabei... irgendwie gefühlt, als wäre ich außerhalb von mir selbst, würde ich sagen.« Faith zuckte leicht mit den Schultern, als habe ihr Eingeständnis sie verlegen gemacht.
»So wie heute? Du hast es auch gespürt, nicht wahr?«
Faith nickte. »Es war echt merkwürdig - als wäre ich selbst da in der Kirche und könnte sie singen hören.«
»Ich glaube nicht, dass die anderen das gleiche Erlebnis hatten.« Winnie trank ihren Tee, der inzwischen lauwarm war, während sie nachdachte. »Ich kann es nicht erklären. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass ich diese ganze Sache glaube.«
»Vielleicht mussten Sie erst überzeugt werden.« Der Blick aus Faiths dunklen Augen ließ kein Verstellen zu.
»Ja, vielleicht. Aber was ist mit dir?«
Faith antwortete, indem sie die Hand auf ihren Bauch legte: »Ich denke, dass es vielleicht hiermit zu tun hat. Seit das Baby da drin ist - da ist es, als wäre die Welt irgendwie intensiver geworden. Ich sehe besser, höre besser - alles scheint noch eine zusätzliche Schicht zu haben.«
Eine hormonell verursachte Schärfung der Sinne? Winnie fragte sich, ob nicht mehr dahinter stand. »Faith, was das Baby betrifft - wissen deine Eltern, wo du bist?«
Das Mädchen schob seinen leeren Teller und die Tasse von sich. »Mein Vater - sie haben gesagt, sie wollten mich nie mehr wieder sehen. Dass ich ihnen Schande gemacht hätte.«
Ach du lieber Gott, dachte Winnie. »Die Leute sagen oft im Zorn Dinge, die sie nicht so meinen. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern die letzten Monate damit verbracht haben, jedes einzelne Wort zu bedauern, und dass sie schon ganz krank sind vor Sorge um dich.«
»Ich kann nicht nach Hause zurück. Nicht nach dieser Geschichte. Sie kennen meinen Vater nicht. Und mein Platz ist jetzt bei Garnet.«
Winnie glaubte das Schimmern von Tränen in Faiths Augen gesehen zu haben, aber die Lippen des Mädchens waren in einem Ausdruck sturer Entschlossenheit zusammengepresst. Sie wollte nicht zu viel riskieren, aber vielleicht würde sie wenigstens die Friedensverhandlungen in Gang bringen können. »Würdest du mir erlauben, mit ihnen zu reden?«
Faith begann den Kopf zu schütteln, noch bevor Winnie ihre Frage ganz ausgesprochen hatte.
»Ich würde ihnen nicht verraten, wo du bist«, fuhr Winnie fort. »Ich würde ihnen gar nichts sagen, ohne dass du damit einverstanden bist - nur, dass es dir gut geht.« Sie sah, dass Faith schwankte, und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich halte, was ich verspreche - das steht in meiner Tätigkeitsbeschreibung.« Zur Belohnung bekam sie ein zögerndes Lächeln.
»Könnten Sie - könnten Sie meiner Schwester und meinem Bruder sagen, dass ich sie vermisse? Und meiner Mutter auch?«
»Natürlich. Gib mir die Adresse, und ich fahre zu ihnen, sobald es irgendwie geht.« Winnie sah sich um und bemerkte, dass die Cafeteria fast leer war. »Wir sollten gehen, sonst verpassen wir noch die Messe.«
Sie kehrten zum Eingangsbereich zurück und gingen von dort die linke Seite des Längsschiffs entlang bis zu der Stelle, wo ein Seil den Zugang zum Chorraum bis zum Beginn des Gottesdienstes versperrte. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen warteten dort bereits, und bald schon öffnete der Küster die Absperrung und ließ sie auf den Bänken Platz nehmen.
An diesem Abend sang ein Gastchor, da der Chor der Kathedrale Sommerferien hatte, und Winnie las erfreut, dass sie das Magnificat von Bach und anschließend Parrys Songs of Farewell singen würden, zwei ihrer Lieblingsstücke.
Das übliche Geraschel und Geschlurfe der Leute, die in den Bänken aufrückten und ihre Sachen ablegten, brach plötzlich ab, als die Sängerinnen und Sänger des Chors eintraten und ihre Plätze einnahmen.
Umgeben von dem reich verzierten, dunklen Holz der Bänke und eingehüllt in den warmen Schein der Lampen, fühlte sich Winnie von der Welt dort draußen abgeschirmt, eingesponnen in einen Kokon, in dem Zeit und Raum jede Bedeutung verloren. Als die Musik um sie herum anschwoll, wandte sie sich zu der jungen Frau an ihrer Seite um. Faiths Gesichtsausdruck war von solcher Freude, solcher Sehnsucht erfüllt, dass es Winnie fast das Herz brach. In diesem Augenblick wusste sie, dass dieses Kind ein unschuldiges Wesen war, das sie mit allen Waffen, die ihr Amt ihr zur Verfügung stellte, beschützen würde.
Die Chalice Well Gardens lagen in dem sanften Tal zwischen Chalice Hill und dem Tor. Die Gärten stiegen allmählich an, Ebene um Ebene, bis hin zur letzten, einer abgeschlossenen, dicht bewachsenen Laube, die den heiligen Brunnen selbst beherbergte. Das Wasser, welches die Farbe von Blut hatte, sammelte sich in der fünfseitigen Brunnenkammer und floss dann durch ein unterirdisches Rohr in den Löwenkopftümpel hinab, in einem unaufhörlichen Strom von hundertzehntausend Litern pro Tag, bei einer konstanten Temperatur von elf Grad Celsius.
Nick saß auf einer Bank in der Nähe des Brunnens und wartete auf Faith, die versprochen hatte, sich für eine halbe Stunde mit ihm zu treffen, bevor sie beide zur Arbeit mussten. Er betrachtete die kunstvoll gearbeitete schmiedeeiserne Abdeckung des Brunnens, die Frederick Bligh Bond kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs entworfen hatte. Seltsam, wie der alte Bond überall auftauchte, sobald man einmal eine Verbindung zu ihm hergestellt hatte.
Die Schmiedearbeit stellte ein altes Symbol dar, die vesicapiscis, zwei ineinander greifende Kreise, die angeblich die gegenseitige Durchdringung der materiellen und der immateriellen Welt repräsentierten, oder dasYin und Yang, wo das Bewusste und das Unbewusste sich treffen.
Es sollte auch die Verschmelzung von männlicher und weiblicher Energie symbolisieren... vielleicht ein günstiges Vorzeichen für dieses Treffen, doch er machte sich keine allzu großen Hoffnungen. Er sagte sich oft genug, dass es vollkommen blödsinnig war, in ein schwangeres Schulmädchen verliebt zu sein; ausgerechnet er sollte sich da nichts vormachen. Aber das änderte nichts. Und was gedachte er denn zu tun, falls sie tatsächlich seine Gefühle erwiderte? Wollte er sie vielleicht heiraten und für Mutter und Kind sorgen? Absurd. Er bekam ja kaum genug zusammen, um sich satt zu essen und die Miete für seinen Wohnwagen zu bezahlen.
Aber Faith hatte nun einmal etwas ganz Besonderes an sich, eine Art innerer Ruhe, wie sie ihm noch bei keinem anderen Menschen begegnet war. Ein- oder zweimal hatte er den Funken einer Chance in ihren Augen zu erkennen geglaubt, bevor sie sich wieder in diese gleichmütige Stille zurückzog, zu der er nicht durchdringen konnte. Und das war es, was ihn nicht aufgeben ließ.
Ungeduldig stand er auf und ging in dem kleinen, umfriedeten Garten auf und ab, bis er schließlich wieder am Brunnen stehen blieb. Die Abdeckung war zur Seite gezogen, sodass er in die eigentliche Kammer hinabschauen konnte. Angeblich war in eine der Wände eine Nische gehauen, so groß, dass ein Mann darin aufrecht stehen konnte, doch er konnte keine Spur davon entdecken. Er kniete nieder, um besser sehen zu können, und so hörte er Faith erst kommen, als sie das Tor zum Brunnengarten öffnete.
»Fall ja nicht rein«, neckte sie ihn, indem sie näher kam und hinter ihm stehen blieb. »Garnet sagt, dass das der Brunnen der Göttin ist, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihr gefallen würde, wenn irgendein ausgewachsener Typ darin rumplanscht.« Faith trug ein gestreiftes Fußballtrikot und darüber einen Jeans-Overall; mit ihrem kurz geschorenen Haar und ihren feinen Gesichtszügen wirkte sie darin umso weiblicher. Garnet kann mich mal!, dachte Nick ergrimmt, aber er sprach es nicht aus. »Ich habe die Göttin angebetet, wie es sich gehört. Auf Händen und Knien, siehst du?«
»Mach keine Witze, Nick. Das hier ist ein heiliger Ort.«
Er stand auf, ging zur Bank zurück und setzte sich. »War nicht so gemeint«, sagte er und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. »Komm her und setz dich, du stehst doch den ganzen Tag.«
Sie gehorchte, hielt jedoch einen züchtigen Abstand zu ihm ein. Er begehrte sie so sehr, dass es ihn fast zum Wahnsinn trieb, aber er wagte es nicht, die Grenzen zu überschreiten, die sie gesetzt hatte, weil er fürchtete, die Freundschaft zu zerstören, die sie über die vergangenen Monate aufgebaut hatten. Doch der Gedanke, dass sie mit einem anderen diese Barrieren durchbrochen hatte, war unerträglich, und er musste seinen ganzen Willen aufbieten, um sie nicht zu fragen, wer... oder warum sie ihn weiterhin schützte.
Und dabei hatte er nicht eben häufig die Gelegenheit, mit Faith allein zu sein. Garnet Todd hatte sich zu einer Mischung aus Glucke und grimmigem Wachhund entwickelt, und sie machte aus ihrer Missbilligung von Nicks Interesse an Faith keinen Hehl. Ein paarmal hatte er es gewagt, Faith nach der Arbeit in Garnets Bauernhaus zu besuchen, um dann mit den beiden in der primitiven Küche zu sitzen und sich unbehaglich zu fühlen, wie ein unerwünschter viktorianischer Freier. Daher dieses morgendliche Stelldichein im Garten.
»Manche Leute glauben, dass Malory diesen Garten hier gemeint hat, als er schrieb, Lancelot habe sich in ein Tal in der Nähe von Glastonbury zurückgezogen«, meinte Nick nachdenklich, während er den Arm auf die Rückenlehne legte, zwei Zentimeter von Faiths Schultern entfernt. »Denkst du, dass das hier wirklich der Ort ist, wo Lancelot seine Tage zugebracht und von Guinevra in ihrem Kloster geträumt hat? Sie sind beide innerhalb von wenigen Monaten gestorben - hast du das gewusst?«
Der Gedanke ließ Faith erschaudern. »Das ist zu traurig. Dieser Garten sollte nicht traurig sein - es ist ein Ort der Heilung.«
»Ich denke, für Lancelot war es eine Art von Heilung, wenn er sich in der Zeit, die er noch hatte, mit seiner Liebe zu Guinevere und zu Artus aussöhnen konnte. Und wenn ihm der Gral versagt geblieben war, dann war es vielleicht eine gewisse Entschädigung für ihn, an einer Quelle zu leben, von der es hieß, dass aus ihr das Blut Christi strömte.«
»Ich kann ihn hier vor mir sehen«, sagte Faith verträumt und legte den Kopf in den Nacken, bis ihre Haare seinen Arm streiften. »Mit seiner kleinen Hütte im Wald und der Quelle, die aus dem Berg herausfließt.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Aber die andere Quelle würde immer unter ihm geflossen sein und hätte ihn an die kommende Dunkelheit erinnert.«
»Die Weiße Quelle?« Sie strömte aus dem Fuß des Tor hervor, und während die Rote Quelle das weibliche Element verkörperte, stand die Weiße Quelle angeblich für das männliche.
»Garnet sagt, es ist der Eingang von Annwn, wo Gwyn ap Nudd, der Herr der Unterwelt, zu Hause ist. Und ich kann dort... etwas spüren... Es ist ein dunkler Ort.«
»Ach, so ein Quatsch, Faith!« Er berührte ihr Kinn mit den Fingerspitzen und drehte ihr Gesicht zu sich herum. »Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Das ist nichts weiter als ein Märchen.«
»Woher willst du das wissen?« Sie wandte ihr Gesicht ab und setzte sich kerzengerade hin. »Die Druiden waren im Einklang mit der Erde selbst, und es gibt auf der ganzen Welt keine stärkere Kraft.«
»Aber das ist Mythologie, Faith! Symbolik. Auf diese Art und Weise haben sie sich die Welt erklärt. Niemand sollte das wörtlich nehmen.«
»Ist das, was Jack passiert ist, nur Mythologie? Glaubst du nicht, dass es wirklich ist?«
»Doch, aber -«
»Wenn Edmund über neunhundert Jahre hinweg mit uns sprechen kann, wie kannst du dann der Wahrheit irgendwelche Grenzen setzen?« Faith stand auf und sah auf ihn herab; ihre Augen funkelten vor Zorn.
»Aber das ist etwas anderes -«
»Tatsächlich?«
»Natürlich ist es etwas anderes. Die Abtei von Glastonbury war ein wirklicher Ort, und die Mönche haben wirklich dort gelebt. Edmund war ein wirklicher Mensch -«
»Kannst du das beweisen?«
»Das muss ich nicht beweisen. Ich habe es erfahren.«
»Wie kannst du dann sagen, dass die Erfahrungen anderer Leute nicht zählen?«, versetzte sie prompt.
Er starrte sie an. Die Sache lief ganz und gar nicht so, wie er beabsichtigt hatte. »Hör zu, Faith, wir wollen uns heute Abend treffen. Wir können darüber reden, aber jetzt kommen wir beide nur zu spät zur Arbeit.«
»Ich kann nicht. Garnet meint, ich soll lernen.«
»Was denn lernen? Etwa die Lehren der alten Religion?« Er hörte den Abscheu in seiner eigenen Stimme.
Faith warf trotzig den Kopf in den Nacken. »Die erste Religion. Du weißt, dass die christliche Kirche nur auf das aufgebaut hat, was es vorher schon gab. Das sagt sogar Simon.«
»Darum geht es doch nicht. Es gibt ganz normale, gewöhnliche Dinge, die du tun musst. Die Schule abschließen. Dein Examen machen. Darüber nachdenken, was du mit deinem Leben anfangen willst - und wie du für das Baby sorgen willst. Du musst nach Hause zurückgehen, Faith.« Noch während er es sagte, wusste er schon, dass es ein Fehler war; schlimmer noch - wenn sie seinen Rat annähme, würde er sie höchstwahrscheinlich ganz verlieren.
»Komm mir nicht so von oben herab, Nick Carlisle«, fauchte sie ihn an. »Und schreib mir nicht vor, wie ich mein Leben zu leben habe. Ich bin immer ganz gut klar gekommen -«
»Aber nur weil Garnet dich bei sich aufgenommen hat, und ich vermute, sie hatte ihre Gründe -«
»Du weißt doch nicht, wovon du redest! Garnet versteht mich, und sie weiß, dass ich etwas Bestimmtes tun muss, etwas Wichtiges - ich kann bloß noch nicht sehen, was es ist. Also verschwinde ganz einfach, okay?«
Sie wirbelte herum, stürmte durch das Gartentor hinaus und knallte es hinter sich zu.
Er sprang auf und rief: »Faith, es tut mir Leid -«, doch sie rannte weiter den Pfad entlang, fort von ihm.