* 7

 

So viele heilige Männer haben in Glastonbury gebetet und sind dort gestorben, dass die Atmosphäre der Religiosität noch immer lebendig und warm ist. Ihr Staub, der sich mit der Erde vermischt, weiht selbst den Boden, auf dem wir wandeln.

 

Dion Fortune, aus: Glastonbury

 

In der Nacht regnete es in Strömen. Nachdem Jack gegangen war, wälzte Winnie sich rastlos im Bett hin und her und fiel zwischendurch immer wieder in einen unruhigen Schlaf, in dem das Rauschen von Wasser ständig gegenwärtig war. Doch dann brach ein sonniger, vom Regen erfrischter Tag an, und als sie aufwachte, fühlte sie sich erstaunlich munter und klar im Kopf in Anbetracht ihres unterbrochenen Schlafs und der Aufgabe, die sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte.

  Sie hatte ihren Besuch bei Simon schon zu lange vor sich her geschoben, und was Jack ihr am Abend zuvor erzählt hatte, machte es zwingend notwendig, dass sie mit ihm redete. Zunächst aber sprach sie ihr Morgengebet, und nachdem sie sich angezogen und gefrühstückt hatte, holte sie ihr Fahrrad aus dem Gartenschuppen und fuhr die drei Kilometer bis nach Glastonbury hinein. Um halb zehn erreichte sie die Abtei, die soeben ihre Tore öffnete. Hier würde sie sich sammeln können, hier würde sie sich darüber klar werden können, was sie eigentlich genau sagen wollte.

  Sie stellte ihr Rad im Fahrradständer ab, zahlte das Eintrittsgeld und ging durch das Drehkreuz hinein. Die Ausstellungsstücke in dem kleinen Museum waren kunstvoll arrangiert und informativ beschriftet, doch sie ging daran vorbei und trat durch die Glastüren hinaus auf das Abteigelände.

  Auf der Schwelle blieb sie wie angewurzelt stehen. Der Himmel strahlte in vollkommenem Blau wie das Ei eines Rotkehlchens, das smaragdgrüne Gras glitzerte noch feucht vom nächtlichen Regen, und die steinernen Mauern der Abtei glänzten golden in der Morgensonne.

  Genau deswegen war sie hergekommen. Innerhalb der Einfriedung der Abtei schienen die Luft und das Licht irgendwie anders zu sein. Es war, als sei sie in die illuminierte Seite eines alten Manuskripts eingetaucht, und seltsamerweise war die Luft erfüllt von dem süßen Duft von Apfelblüten. Der Gedanke drängte sich ihr auf, dass sie hier - wenn sie es nur wollte - für eine Weile die Grenzen der Zeit, ja sogar der Jahreszeit, überwinden konnte.

  Winnie trat hinunter auf den Rasen, ohne auf die Feuchtigkeit zu achten, die sofort in ihre Schuhe einzudringen begann. Vor ihr lag die bezaubernde Marienkapelle, deren moosbewachsene Mauern längliche schwarze Schatten auf das Gras warfen.

  Aber sie war nicht gekommen, um die Marienkapelle zu sehen. Sie war erst kurz nach Edmunds Zeit erbaut worden, und Winnie suchte nach irgendeiner konkreten, greifbaren Verbindung zu Edmund. Sie wandte sich nach Osten, sodass der Garten zu ihrer Rechten lag. Hier bezeichneten Erhebungen im Gras den Standort der Mönchsküche, ein Mauerfragment den des Refektoriums. Im Geist begann Winnie es zu rekonstruieren. Stein um Stein wuchsen die Mauern an, die langen Eichentische füllten sich mit den Brüdern in ihren groben braunen Kutten. Sie aßen schweigend. An einem erhöhten Lesepult am Kopfende des Saales stand ein Mönch und las ihnen vor, damit ihr Geist ebenso wie der Körper erquickt werde.

  Winnie ging weiter und betrat das leicht abgesenkte Rasenquadrat, das einmal der Kreuzgang gewesen war. Hier waren die Mönche eifrig mit ihren verschiedenen Aufgaben beschäftigt, und an der Nordseite, wo das Licht am besten war, arbeiteten die Kopisten und Illuminatoren in ihren Schreibnischen. Und dort, dort saß Edmund, über eine Pergamentseite gebeugt; mit geschickter und ruhiger Hand kolorierte er eine reich verzierte Initiale in leuchtenden Farben. War er groß und blond gewesen, so wie Jack? Hatten seine Hände vom Schreibkrampf und von der Kälte geschmerzt, wenn er an den kurzen Wintertagen von morgens bis abends gearbeitet hatte? Einen Augenblick lang bildete sie sich ein, dass er vielleicht aufschauen, ihren Blick erwidern und sie erkennen würde, doch das Bild verblasste, und sie sah wieder nur das Gras, über das der Wind hinwegfegte.

  Vom Kreuzgang her betrat sie das Längsschiff der großen Kirche, und es zog sie, wie sie es vorhergesehen hatte, zum Chor hin. Als sie durch die gezackten Ruinen der Strebepfeiler des nördlichen und südlichen Querschiffs schritt, sah sie alles plötzlich so, wie es damals gewesen war. An dieser Stelle hatte sich ein gewaltiger Spitzbogen in den Himmel erhoben, auf dem das Deckengewölbe ruhte. Die verwitterten Steine der verbliebenen Mauern schimmerten golden, in den leeren Höhlen der Fenster glitzerte das farbige Glas wie Geschmeide, und schweres dunkles Eichenholzgestühl bedeckte die kahle Rasenfläche. Und auf den Bänken die Mönche, die Bewahrer eines Chorals, der über Jahrhunderte hinweg ein Geheimnis geblieben war.

  Ihre Stimmen konnte sie hören, die sich zum Lob des Herrn erhoben und einen Gobelin aus reiner Freude woben, der wirklicher war als das Gemäuer, das sie umschloss.

  In diesem Augenblick erkannte sie den Choral als das, was er war. Sie wusste, warum die Mönche bereit gewesen waren, für ihn zu sterben, und sie wusste auch, warum Edmund und Menschen wie er in dem Bemühen, ihn wiederzuerlangen, ganze Jahrhunderte durchwandert hatten.

  Jahrhundertelang hatten die Menschen nach einem Gegenstand gesucht, einem Kelch - manche hatten sogar behauptet, ihn hier in Glastonbury gefunden zu haben, verborgen in der »heiligsten Erde Englands« -, und hatten dabei übersehen, dass der Gral nur ein Symbol war für etwas, das zu gewaltig war, als dass man es in einem konkreten Gefäß hätte fassen können.

  Winnie saß im Café Galatea und hielt einen Becher dampfenden Tees in ihren durchfrorenen Händen. Sie wusste nicht mehr, wie sie aus der Abtei herausgekommen war, doch irgendwie musste sie es geschafft haben, denn jetzt war sie ja hier, und ihr altes Fahrrad lehnte draußen am Fenster. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, von ihrem Körper losgelöst zu sein, so als ob sie lange Zeit krank gewesen wäre und den Gebrauch ihrer Gliedmaßen vergessen hätte. Ihre Vision hatte bereits an Kraft verloren, und sie versuchte sich daran festzuklammern, genau wie sie den Becher umklammert hielt, doch auf einer bestimmten Ebene wusste sie, dass es unmöglich war. Es war mehr, als ein normaler Mensch über einen längeren Zeitraum ertragen konnte - war nicht Sir Galahad an seiner Verzückung zu Grunde gegangen? Und er war schließlich auf Wunder eingestellt gewesen.

  Mit einem Mal sah sie sich selbst, und in ihrem Inneren glühte ein solches Feuer, dass jede plötzliche Bewegung eine Naht zum Platzen bringen und das strahlende Licht hervorströmen lassen konnte. Darüber musste sie laut lachen, und die Bedienung - ein Mann mit Pferdeschwanz und einem runden, sommersprossigen Gesicht - sah sie an und lächelte. Er dachte wahrscheinlich, sie sei beschwipst, und wie um zu beweisen, dass er Recht hatte, hickste sie einmal. Sie erwiderte sein Lächeln, stand auf und legte das Geld für den Tee einschließlich Trinkgeld auf den Tisch.

  Jack! Sie musste Jack sagen, was sie gesehen hatte. Aber er war am Morgen im Auftrag eines Bauherrn nach Bath gefahren. Sie würde also warten müssen, und in der Zwischenzeit hatte sie seelsorgerische Besuche zu absolvieren. Und es war auch wichtiger denn je, dass sie sich mit Simon Fitzstephen traf.

 

Simons Besuch am Abend zuvor war ebenso überraschend wie beunruhigend gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre Garnet diese Art Aufmerksamkeit willkommen gewesen, und sie hätte die Vorstellung, etwas von ihm lernen zu können, spannend, ja erregend gefunden. Doch sie fand schon früh heraus, dass Simons gesamtes Wesen intellektueller und nicht instinktiver Natur war, und wenn dabei irgendetwas wie Leidenschaft im Spiel war, dann betraf sie allein die Sorge um seinen Ruf. Wie konnte jemand, der sich so eingehend mit dem Gral befasst hatte, ungerührt bleiben von der wundersamen Kraft der Erzählungen, wie konnte er die ungeheure Wahrheit hinter den Legenden nicht erspüren?

  Und was hatte er von ihr gewollt?

  Sie schob das flache Ende der langen hölzernen Schaufel unter die Reihe frisch gebrannter Fliesen im Brennofen. Vorsichtig hob sie die Schaufel an und trat zurück, bis sie die Fliesen aus dem Ofenloch hervorgeholt hatte. Doch als sie sich umdrehte, um sie auf dem Arbeitstisch abzulegen, glitt ihr der Griff plötzlich aus der Hand, die Schaufel kippte zur Seite, und die Fliesen zerschellten klirrend auf dem Boden der Scheune.

  Entsetzt starrte Garnet auf die Trümmer. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein? Jetzt war die Arbeit von Stunden vernichtet, und dabei war sie ohnehin schon mit diesem Auftrag im Verzug.

  Mit zitternden Händen stellte sie die Schaufel weg und ließ sich auf ihren Schemel sinken. Die Träume - es mussten die Träume sein. In den letzten Monaten hatten sie wieder angefangen, verfolgten sie mit Gesichtern, die sie längst vergessen glaubte, und marterten sie mit einem drängenden Gefühl, das sie nur unvollkommen begriff. Dazu kam ihre Sorge um Faith, um die Geburt des Babys, die rasch näher rückte, und die wachsende Furcht, dass die beiden Dinge in irgendeinem Zusammenhang stehen könnten. In der Überzeugung, dass Wissen die beste Waffe gegen Kräfte war, die auf den Geist wirkten, versuchte sie Faith beizubringen, wie sie sich verteidigen konnte, ohne ihr Angst einzujagen und ohne sie ihre eigene Unruhe spüren zu lassen. Aber in letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass sie das Mädchen unwirsch anfuhr, obwohl sie genau wusste, dass der eigentliche Gegenstand ihres Zorns ihre eigene Unzulänglichkeit war. Sie hatte Faith verboten, auf den Hügel hinter dem Haus zu steigen, und sie und Buddy versuchten so gut es ging auf sie aufzupassen; dennoch schien Faith die Anziehungskraft des Tor von Tag zu Tag stärker zu empfinden.

  Was konnte sie denn noch tun, um dieses Kind zu beschützen, das ihr so ans Herz gewachsen war? Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, Winnie Catesby um Unterstützung zu bitten, aber nein - dieser Weg war ihr nun verschlossen. Wenn Winnie die Wahrheit über das Kind wusste, dann war ihr nicht zu trauen; wenn nicht, konnte Garnet es ihr nicht sagen.

  Das ließ ihr nur eine Möglichkeit: Sie musste versuchen, die Sünden wieder gutzumachen, die sie so lange in ihren Träumen verfolgt hatten. Vielleicht konnte sie so dem Zusammenballen von Kräften ein Ende setzen, die, wenn sie freigesetzt würden, vielleicht zu einer neuerlichen Tragödie führen würden.

  Ihre ruinierten Fliesen hatte Garnet schon vergessen, als sie ihren Umhang vom Haken nahm und sich aufmachte, einen alten Freund zu besuchen, wenn sie auch wusste, dass sie nicht willkommen sein würde.

 

Winnie ließ das Rad vor Jacks Haus ausrollen und spähte in die Einfahrt. Sein Volvo war nirgendwo zu sehen. Einen Moment lang ließ sie sich von der Enttäuschung überwältigen, dann schalt sie sich. Sicherlich würde er bald zurückkommen - es war schon fast fünf Uhr. Sie würde Tee trinken und sich ein wenig mit Faith unterhalten, während sie auf ihn wartete.

  Also schwang sie sich wieder aufs Rad und bog um die Ecke in die Wellhouse Lane. Sie stellte das Rad an dem mit Bändern geschmückten Baum im Vorhof des Cafés ab und ging hinein. Es waren keine anderen Gäste dort, und für einen Moment glaubte sie, die Küche sei ebenfalls leer, doch dann erschien Faiths kurz geschorener Kopf über der Theke, und Winnie hörte sie sagen: »’tschuldigung. Was kann ich für Sie - Winnie!«

  »Wie geht’s denn so, Faith? Kann man in dem Laden hier vielleicht eine Tasse Tee bekommen?«, fragte Winnie munter, in der Hoffnung, dass Faith ihr den Schock nicht anmerken würde. Der rosige Teint, der Faith fast über ihre gesamte Schwangerschaft hinweg ausgezeichnet hatte, war verschwunden. Das Mädchen wirkte vollkommen erschöpft, und ihre Haut war von ungesunder Blässe. »Mach dir doch selbst auch eine Tasse und setz dich zu mir. Wo ist denn Buddy heute Nachmittag?«

  »Er ist zum Großmarkt gefahren, um Lebensmittel einzukaufen. Er wollte mich gar nicht allein lassen - als ob ich den Laden nicht allein schmeißen könnte.« Faith wandte sich ab und begann mit Kessel und Teetassen zu hantieren. Als sie den Tee bereitet hatte, kam sie hinter der Theke vor und stellte die Tassen auf einen Tisch. Winnie fiel auf, dass das Mädchen inzwischen sehr unbeholfen aussah; ihre Arme und Beine waren viel zu dünn im Vergleich mit ihrem angeschwollenen Bauch.

  »Fühlst du dich gut, Faith?«

  »Ich schlafe in letzter Zeit nicht besonders.« Faith rang sich ein Lächeln ab. »Das Baby drückt auf mein Zwerchfell, wenn ich liege, und dann habe ich ein Gefühl, als bekäme ich keine Luft mehr.«

  »Warst du mal in der Klinik und hast dich untersuchen lassen?«

  Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf. »Garnet sagt, dass das vollkommen normal ist. Und ich habe jetzt nur noch ein paar Wochen zu überstehen.«

  »Aber -« Winnie sah, wie Faith in der ihr bekannten Trotzreaktion den Kopf in den Nacken warf, und gab sich vorläufig geschlagen. Sie nahm einen Schluck Tee und setzte dann erneut an. »Wir haben dich vermisst. Du hast uns in letzter Zeit gar nicht mehr besucht.«

  »Gibt es etwas Neues... von Edmund?«, fragte Faith neugierig, und ihre Augen leuchteten.

  »O ja. Wir haben endlich Fortschritte gemacht. Gestern haben Jack und Simon in Erfahrung gebracht, dass Edmund dabei war, als Thurstan, der erste normannische Abt, einige der Mönche mitten in der Kirche ermorden ließ. Der eine wirkliche Zufluchtsort, den sie hatten, und ihr eigener Abt...« Sie schüttelte sich. »Es muss furchtbar gewesen sein - einfach unvorstellbar.«

  »Darüber haben wir auch in der Schule was gehört, als ich Archäologie belegt hatte«, sagte Faith stirnrunzelnd. »Es war das einzige Mal, dass in der Geschichte der Abtei Blut vergossen wurde - wenn man Richard Whiting nicht zählt. Aber Whiting wurde ja auch auf dem Tor hingerichtet, nicht wahr?« Für einen kurzen Moment schien das Mädchen ganz weit weg zu sein, von etwas gefangen genommen, das Winnie nicht sehen konnte; dann blickte sie ihr wieder in die Augen. »Aber ich erinnere mich nicht mehr, weshalb Abt Thurstan die Mönche umbringen ließ.«

  »Es war der Choral. Die Mönche hatten sich geweigert, ihren heiligen Gesang aufzugeben. Wir glauben -«

  Sie wurde vom Läuten der Glöckchen unterbrochen, die an der Eingangstür des Cafés befestigt waren. Faith war so verblüfft, dass sie ihren Tee überschwappen ließ. Garnet Todd stand in der Tür, in einen langen Umhang gehüllt.

  »Hallo, Winnie«, sagte sie freundlich lächelnd, doch dann schien es Winnie, als falle ein Schatten über ihr Gesicht. Sie trat ein und schritt mit wehendem Cape über den feuchten Steinboden hinweg auf sie zu. Auch sie sah abgespannt und müde aus. Was in aller Welt ging hier vor?

  »Ich habe Faith gerade erzählt, dass wir euch beide vermisst haben.« Winnie suchte ihre Besorgnis zu verbergen. »Warum kommt ihr nicht mit mir zu Jack? Es wird ohnehin Zeit, dass ihr uns wieder mal besucht, und wir könnten zusammen auf Jack warten.«

  »Ich -« Garnet schien zu zögern, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich wünschte, wir könnten kommen, aber ich habe einen Termin - eine Lieferung. Aber wir werden schon bald alle Zusammenkommen.« Sie legte eine Hand auf Faiths Schulter. »Jetzt sollte ich zuerst einmal Faith nach Hause bringen. Der Anstieg ist inzwischen doch zu anstrengend für sie.«

  »Und ich muss noch abschließen«, sagte Faith, indem sie sich mit Mühe erhob. »Und dann muss ich lernen.« Faith räumte das Teegeschirr weg, ohne Winnie in die Augen zu schauen, und Winnie wusste, dass das Band, das sie noch wenige Augenblicke zuvor verbunden hatte, zerrissen war.

  Sie zuckte mit den Achseln und meinte: »Also gut. Dann bis bald.« An derTür drehte sie sich jedoch noch einmal um. »Passt gut auf euch auf, ja? Alle beide.«

  Draußen schob sie ihr Rad vom Baum weg und hielt dann inne. In der Luft lag eine schneidende Kälte, die zu dem klaren, rötlich gefärbten Himmel über dem Tor passte, und sie hätte schwören können, dass sie von irgendwoher schwache Fetzen von Flötenklängen hörte. Wieder verspürte sie diese zeitliche Desorientierung, wie sie Glastonbury zuweilen bewirkte, als ob die Grenzen zwischen den Jahrhunderten durchlässig geworden und die Zeitalter miteinander verschmolzen seien.

  Dann ließ das Gefühl nach, und die Bilder des Morgens standen ihr so plötzlich wieder vor Augen, dass es ihr den Atem verschlug. Sie musste unbedingt mit jemandem über ihre Erlebnisse sprechen. Mit plötzlicher Entschlossenheit begann sie ihr Fahrrad die Straße zu Fionas Haus hinaufzuschieben.

 

Nick Carlisle gab sich große Mühe, seine Ungeduld zu verbergen, während die ältere Dame vergeblich versuchte, sich zwischen einem Buch über den Tierkreis von Glastonbury und einem anderen, das die Rückkehr der Göttin verkündete, zu entscheiden. Schließlich, nachdem sie eine halbe Stunde lang hin und her überlegt hatte, legte sie beide Bücher wieder hin, lächelte ihn milde an und sagte: »Ich denke, ich werde ein andermal wiederkommen, junger Mann.«

  Nick brachte ein Lächeln zu Stande und schloss die Tür hinter ihr ab. Es war schon weit nach Ladenschluss. Wenn er sie ein wenig gedrängt hätte, dann hätte er ihr das Buch über die Göttin verkaufen können, aber für so etwas hatte er zurzeit nicht die Nerven.

  Er schlenderte nach hinten und ließ dabei den Blick über die Büchertische schweifen, um zu sehen, ob irgendetwas am falschen Platz lag. Erst als er zu der kleinen Nische mit Dion Fortunes Büchern kam, blieb er stehen. Er strich mit dem Finger über die Buchrücken und runzelte die Stirn.

  Dion Fortune hatte die alten Götter anerkannt, aber sie hatte auch begriffen, dass es einen Ausgleich geben musste zwischen christlicher und heidnischer Tradition, zwischen der Abtei und dem Tor. Was würde sie wohl von der neuen heidnischen Kultbewegung gehalten haben, die sich in Glastonbury ausbreitete wie ein Klecks auf einem Bogen Löschpapier?

  In letzter Zeit war bei den extremeren Randgruppen der esoterischen Gemeinde von Glastonbury eine düstere Seite zu Tage getreten, ein dumpfer, destruktiver Unterton, der ihn mit Sorge erfüllte. Man durfte in Glastonbury nicht allzu viel auf Gerüchte geben, doch es waren Bemerkungen über Rituale gefallen, man hatte von Opferzeremonien geflüstert und von einem stärker werdenden Verlangen, alte Energien freizusetzen, die lange gebunden gewesen waren. Wenn dies die alte Religion war, die Garnet Todd Faith lehrte, dann schwebte Faith vielleicht in ernster Gefahr.

  Es war Wochen her, seit er Faith zuletzt gesehen hatte. Garnet hielt sie in diesem verfallenen alten Bauernhaus unter Verschluss, und wenn er einmal versucht hatte, sie im Café zu treffen, dann war Garnet gleich aufgetaucht, als hätte sie einen eingebauten Radar - oder das zweite Gesicht.

  Er hatte daran gedacht, zur Polizei zu gehen, aber Faith war nach dem Gesetz volljährig und wohnte freiwillig bei Garnet, und wenn er ihnen erzählt hätte, dass sie hypnotisiert oder mit Hilfe schwarzer Magie dazu gezwungen werde, dann hätte er bloß als Spinner dagestanden.

  Winnie Catesby hatte sich zwar geweigert, ihm die Adresse von Faiths Eltern zu geben, aber er hatte sie selbst mühelos herausbekommen. Eines Tages hatte er im Café heimlich einen Blick auf Faiths Ausweis in ihrem Portemonnaie geworfen, als sie gerade im Laden mit Buddy sprach.

  Er machte ihre Familie in Street ausfindig; er saß sogar am Ende der Straße und beobachtete das Haus, suchte in dieser seelenlosen Wohnstraße nach irgendeiner Spur von Faith. Er konnte jederzeit zu Faiths Eltern gehen und ihnen sagen, wo sie sich aufhielt, aber sie hatten nicht die Macht, sie zu bewegen, wieder nach Hause zu kommen. Und Faith würde wissen, dass er sie verraten hatte. Das würde mit Sicherheit seine letzte Hoffnung zunichte machen, weiterhin ihr Freund sein zu können.

  In den vergangenen Monaten war nichts so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte - nicht mit Faith und auch nicht mit Jack.

  Simon Fitzstephen schien Jacks gesamte freie Zeit in Anspruch zu nehmen - und was hatte Nick Carlisle Jack denn zu bieten, verglichen mit dem berühmten Fitzstephen? Die bittere Erkenntnis brannte in Nicks Kehle, doch er wusste, dass sein Unbehagen noch andere Ursachen hatte. Die Aufregung über die Entdeckung von Jacks Talent, das Gefühl, an einem Abenteuer teilzunehmen, an einer Mission, war nun einer nervösen Anspannung gewichen, einer unheilvollen Ahnung, die ihn beinahe körperlich krank machte.

  Er dachte darüber nach, alles hinzuschmeißen, aus Glaston-bury zu verschwinden und sich einen anständigen Job zu suchen. Einmal hatte er auch schon angefangen, seine paar Habseligkeiten in einen Rucksack zu stopfen... und einmal, an einem besonders schlechten Tag, hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, nach Northumberland zurückzugehen und die Suppe auszulöffeln, die er sich eingebrockt hatte.

  Er nahm das Buch von Dion Fortune vom Tisch, um es ins Regal zurückzustellen, und dabei fiel sein Blick auf das Umschlagsfoto. Sie hatte die Macht des Bösen begriffen und war ihr mit innerer Stärke und gesundem Menschenverstand entgegengetreten. Wenn es doch nur jemanden wie Dion Fortune gäbe, mit dem oder der er sprechen könnte, jemanden, der seine Ahnungen bezüglich Garnet nicht augenblicklich als Unsinn abtun oder sie einer gestörten Kindheit zuschreiben würde. Vielleicht ein Geistlicher - Winnie Catesby, natürlich! Die ganze Zeit starrte die Lösung ihm ins Gesicht, aber irgendwie nahm er Winnie nie in ihrer beruflichen Eigenschaft wahr. Wie hatte er nur so blind sein können? Er würde mit Winnie sprechen; er würde ihr seinen Verdacht anvertrauen, den er kaum auszusprechen wagte. Gemeinsam könnten sie Faith zur Rede stellen und sie dazu bewegen, Garnet vor der Geburt des Kindes zu verlassen. Sie müsste ja nicht zu ihren Eltern zurückgehen - Winnie und er würden einen sicheren Platz für sie finden.

  Er schloss den Laden ab, schwang sich auf sein Motorrad und fuhr durch die Dämmerung Richtung Compton Grenville. Als er Winnies Wagen in der Einfahrt vor dem Pfarrhaus geparkt sah, hob sich seine Stimmung zusehends.

  Doch niemand reagierte auf sein Klopfen - weder an der Vorder- noch an der Hintertür zur Küche. Das Haus blieb stumm und dunkel, und ihn fröstelte plötzlich, nicht nur wegen der kalten Abendluft. Schlagartig, mit einer Heftigkeit, die ihm Übelkeit verursachte, wusste er, dass er Winnie Catesby unbedingt finden musste, und zwar bald.

 

»Alles in Ordnung, Fi?« Bram Allen sah von den Resten seines Abendessens auf.

  »Ich habe ein bisschen Kopfweh«, antwortete sie. Er schien es einfach immer zu wissen; irgendein mysteriöser sechster Sinn sagte es ihm. »Ich denke, dass ich... vielleicht malen werde, wenn du von deiner Sitzung zurückkommst.« Sie behielt ihre Hoffnung für sich, dass es diesmal anders verlaufen könnte. Einige Tage zuvor hatte sie ihn gebeten, ein paar ihrer jüngsten Bilder in der Galerie aufzuhängen. Er hatte es getan,jedoch unter Protest, und die daraus resultierenden Spannungen zwischen ihnen waren durch die Bemerkungen, die er am Abend zuvor bei Winnie hatte fallen lassen, nicht eben geringer geworden.

  »Möchtest du, dass ich zu Hause bleibe?«, fragte er.

  »Nein, ich komme schon klar.« Sie wussten beide, dass ihre Visionen jederzeit ohne Vorwarnung über sie kommen konnten, aber schon als Kind war Fiona damit fertig geworden, indem sie zur Malkreide und später zu Farbe und Pinsel gegriffen hatte. Wenn sie das, was sie sah, aufs Papier bannte, dann verloren die Visionen ihren Schrecken für sie.

  Fiona ging langsam den Flur entlang in ihr Atelier. Bram hatte es für sie gebaut: ein gläserner Anbau hinter dem Haus mit Blick über die tiefe Talmulde von Bushy Coombe. Fiona schaltete die kleine Lampe ein, die nur die leere Leinwand und ihre Palette beleuchtete. Sie öffnete ihre Farbtuben und griff nach einem Pinsel.

  Die Stimmen lärmten jetzt in ihrem Kopf, und als sie den Kopf hob, sah sie, wie sich die Gestalten hinter der Glasscheibe drängten - schimmernde, geflügelte, halb menschliche Kreaturen; sie winkten ihr zu, und der Nachthimmel hinter dem Glas schillerte nun in tiefem Blau.

  Auf der Leinwand nahmen die Bilder allmählich Gestalt an, strenge Gesichter von unwahrscheinlicher Leuchtkraft, und in ihrer Mitte das Kind. Irgendwann fühlte Fiona Brams Gegenwart, spürte, dass er in der Tür stand und sie beobachtete, doch er unterbrach sie nicht, und als sie sich umsah, war er verschwunden.

  Und dann nahm sie nichts mehr wahr als nur noch Pinsel und Leinwand. Aus dem chaotischen Getöse waren allmählich unterscheidbare Geräusche geworden, als ob jemand an der Sendereinstellung eines Radios gedreht hätte, und sie merkte, dass die Stimmen sangen - sie sangen für sie, und die klare Melodie schwoll in ihr an und tönte immer lauter, bis sie glaubte, ihr Kopf müsse zerspringen.

 

Der letzte Rest von Farbe wich aus dem Himmel, und in den Senken und Mulden unterhalb des Tor begannen sich Nebelfetzen zu bilden. Ein verbeulter weißer Lieferwagen brauste an Winnie vorbei - er gehörte Garnet, mit Faith auf dem Beifahrersitz war sie auf dem Nachhauseweg zu ihrem Bauernhof oben auf dem Hügel.

  Anstatt sie zu beruhigen, hatte Winnies Begegnung mit dem Mädchen im Café ihre Sorgen nur verstärkt. Sie würde in den nächsten Tagen mit Garnet ein Wort über Faiths Gesundheitszustand wechseln müssen. Vielleicht würde sie irgendeine Erklärung für Faiths seelische Verfassung liefern können.

  Und warum hatte Faith sich ihr vorhin im Café auf einmal derart verschlossen, sodass sie ihr nicht einmal mehr in die Augen sehen wollte? Hatte sie irgendetwas Falsches gesagt?

  Als Winnie sich ihre Unterhaltung noch einmal durch den Kopf gehen ließ, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. Faith hatte gesagt, sie habe in Somerfield Archäologie belegt, was bedeutete, dass sie Andrews Schülerin gewesen sein musste. Aber wenn das der Fall war, weshalb hatte er sie dann nie erwähnt? Das plötzliche Verschwinden einer begabten Schülerin, eines Mädchens, das kurz vor dem Abschluss stand und zu Großem bestimmt schien, würde ihn doch gewiss beunruhigt haben? Andererseits schien er in letzter Zeit für alle seine Schüler nur noch Hohn und Verachtung übrig zu haben - was war nur aus seiner Leidenschaft für den Lehrerberuf geworden?

  Winnie gelangte zu der schmalen Einmündung der Lypatt Lane und bog mit ihrem Fahrrad um die Ecke. Der Weg würde sie zur Bulwarks Lane führen, von der aus man die steil abfallende Senke von Bushy Coombe überblickte und an deren Ende Fiona Aliens Haus lag. Der Himmel war als blasser Streifen über den hohen Hecken zu sehen, die den Weg auf beiden Seiten säumten. Im Westen war noch ein Rest von Azurblau zu erkennen, doch hoch über ihr blitzten bereits die ersten Sterne auf. Sie schaltete ihre Fahrradlampe ein, doch sie flackerte nur schwach auf und verlosch dann.

  Winnie beschleunigte ihren Schritt und grübelte weiter über Andrews merkwürdiges Verhalten nach. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie ihren Bruder vielleicht gar nicht wirklich kannte. Die Vorstellung erschreckte sie, und sie sehnte sich plötzlich nach Jacks Gesellschaft, nach seiner ruhigen und besonnenen Art. Sicherlich würde er zu Hause sein, wenn sie bei Fiona ankam; sie würde ihn von dort anrufen und ihn bitten, sie abzuholen.

  Sie erreichte die leichte Einbuchtung an der Stelle, wo der Fußweg, der an der Rückseite des Chalice Hill entlangführte, in die Lypatt Lane mündete. Dahinter begann bereits die Bulwarks Lane, und die Tatsache, dass sie ihr Ziel nun fast erreicht hatte, erfüllte sie mit unerwarteter Erleichterung.

  Sie blieb stehen und sah automatisch nach, ob der Weg frei war, obwohl sie in einer stillen Nacht wie dieser ein herannahendes Auto wohl kaum hätte überhören können. Die Straße war jetzt dunkel wie ein Tunnel, erkennbar nur durch die Nebelschicht, die sich auf den Boden herabgesenkt hatte.

  Sie schob das Fahrrad über die Kreuzung, und ein Licht tauchte aus dem Nichts auf, das sie augenblicklich blendete. Sie riss die Arme hoch, als sie das Dröhnen eines Motors hörte und spürte, wie irgendetwas auf sie zugerast kam.

  Kurz vor dem Aufprall registrierte sie in einem Winkel ihres Bewusstseins noch, dass sie keinerlei Bremsgeräusche gehört hatte.