* 20

 

Bei mehr als einer Gelegenheit sind wir, die wir am Abhang des Tor leben, gebeten worden, denjenigen Trost und Beistand zu gewähren, die wirklich gesehen haben, was zu suchen sie hergekommen waren.

 

Dion Fortune, aus: Glastonbury

 

Gemma kam es vor, als sei sie noch nie im Leben so müde gewesen. Sie hatte Kincaids Wortwechsel mit Simon Fitzstephen mit einem wachsenden Gefühl der Unwirklichkeit verfolgt, als ob sie sich allmählich von ihrem eigenen Körper loslöste. Und jetzt, als sie nach Glastonbury zurückeilten, hatte sie Probleme, Kincaids Logik zu folgen. »Willst du damit sagen, dass Fiona Allens Mann ihr etwas antun könnte?«

  »Ich weiß es nicht. Aber was ich glaube, ist, dass Bram in die ganze Geschichte hineinpasst und dass es irgendetwas mit dem Tod der kleinen Sarah Kinnersley zu tun hat. Als ich ihr Foto in dem Zeitungsbericht sah, wusste ich, dass sie mir bekannt vorkam - und heute Abend bei Simon ging es mir plötzlich auf: Es war das Gesicht des Kindes in Fionas Gemälde.«

  »Das Bild... es schien fast, als ob diese Wesen - waren es Engel? - das Kind beschützten...«

  »Bram und Garnet waren damals, als Sarah ums Leben kam, ein Paar. Für die Kinnersleys war der Verlust ihrer Tochter ein so vernichtender Schlag, dass sie alles stehen und liegen ließen und ihr Heim aufgaben - Buddy erwähnte, dass Garnet es >für ’nen Appel und ’n Ei< gekauft habe. Buddy sagte auch, nach dem Tod der kleinen Sarah Kinnersley sei alles anders geworden. Bram verließ Garnet. Er heiratete Fiona.«

  »Er verließ Garnet, weil sie die Wahrheit kannte? War Garnet an Sarahs Tod mitschuldig?«

  »In den Aufzeichnungen, die sie in ihrer Küche aufbewahrt hat, schreibt sie, Faith sei ihre Erlösung, und dass mit der Geburt von Faiths Baby das Leben eines Kindes für das eines anderen gegeben würde. Aber ich glaube, sie muss zu dem Schluss gekommen sein, dass es nicht genügte und dass sie aktiv werden musste, um dem entgegenzuwirken, was mit Faith geschah.«

  »Sie stellte Bram zur Rede.«

  »Meine Vermutung ist, dass sie ihm sagte, sie würde sein Geheimnis nicht länger für sich behalten - es sei an der Zeit, dass er die Wahrheit sagte, um der Gerechtigkeit willen.«

  »Und Winnie?«

  »Garnet sagte Faith an dem bewussten Abend, dass sie verabredet sei. Ich schätze, sie hatte ein Treffen mit Bram vereinbart, vielleicht sogar genau an der Stelle, wo Winnie angefahren wurde.«

  »Und im letzten Moment wurde Garnet klar, dass sie ihr Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnte - und Winnie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort«, führte Gemma den Gedanken zu Ende. »Als Garnet dann am nächsten Tag von dem Unfall erfuhr, konnte sie sich denken, wer dafür verantwortlich war.«

  »Und sie ist dann zu ihm gegangen? Oder hat er sie aufgesucht? Simon sagte, als er an dem Abend zu Garnets Haus gefahren sei, habe ihr Lieferwagen noch im Hof gestanden. Ich nehme an, Bram ist im Bauernhaus gewesen, kurz nachdem Nick gegangen war.«

  »Glaubst du, dass er sie im Haus ertränkt hat? Aber es gab doch keine Spuren.«

  »Nein... Könntest du etwas fiir mich tun? Ruf doch bitte die Auskunft an, und lass dir Buddys Telefonnummer geben - Charles Barnes.«

  Gemma folgte seiner Anweisung, wählte die Nummer, die man ihr genannt hatte, und reichte Kincaid das Telefon.

  »Buddy? Hier spricht Duncan Kincaid. Kennen Sie die Quelle auf Garnets Grundstück? Gibt es dort ein stehendes Gewässer? Einen Teich oberhalb des Hauses. Gut. Ach, und noch etwas, Buddy: Wissen Sie, wo Garnet an dem Abend war, als Sarah Kinnersley ums Leben kam? Hatte sie damals ein Auto?« Er hörte noch eine Weile zu und sagte dann: »Okay, vielen Dank. Ich erklär’s Ihnen später.«

  »Sie war mit Bram Allen zusammen.«

  »Und er dürfte gefahren sein. Garnet hatte zu der Zeit kein Auto.«

  »Ich verstehe trotzdem noch nicht, weshalb du dir Sorgen um Fiona machst.«

  »Weil ich glaube, dass es wie bei Andrew und seiner Schwester ist - dass es nur einen Menschen gibt, den Bram mit allen Mitteln davor bewahren würde, von seinem Verbrechen zu erfahren.«

  Im Haus der Allens brannte noch Licht, und als Kincaid klingelte, öffnete Fiona sofort die Tür. »Bram«, sagte sie, »haben Sie ihn gesehen?«

  »Er ist nicht hier?«

  Fiona schüttelte den Kopf. »Als ich von Jack nach Hause kam, fand ich ihn im Atelier. Er war - so habe ich ihn noch nie erlebt. Mein Bild - er hatte mein Bild, das von der Abtei, mit dem Kind. Er hatte es mit einem Messer zerschnitten. Und dann hat er - er -«

  »Ganz ruhig«, sagte Kincaid mit sanfter Stimme. »Was geschah dann?«

  »Er sagte Dinge, die ich nicht verstand, irgendetwas wie: Man müsse dem Ganzen endlich ein Ende setzen - und er nahm das Bild.«

  »Bram hat das Bild mitgenommen?«

  Fiona nickte. »Dem Ganzen ein Ende setzen - was hat er damit gemeint? Wo ist er hin? Bram -«

  Kincaid nahm die nördliche Route. Tückischer, gewiss, aber schneller - und wenn Gemma es geschafft hatte, würde er es auch schaffen. Der untergehende Mond spendete noch genügend Licht, sodass er den Anstieg ohne Zwischenfall bewältigte, immer getrieben von der Angst vor dem, was er auf dem Gipfel vorfinden würde. Als er oben angekommen war, hielt er einen Augenblick inne, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Dann ging er langsam weiter und suchte das silbrig glänzende Gras nach Anzeichen von Bewegung ab.

  Er fand Bram Allen auf der anderen Seite des St.-Michaels-Turms, genau an der Stelle, wo Faith gelegen hatte. Bram saß zusammengesunken an der Mauer und hielt Fionas Gemälde umklammert. Kincaid erkannte das Messer in seiner rechten Hand vor dem Hintergrund der Leinwand.

  »Bram«, rief Kincaid leise und blieb in einigen Schritten Entfernung stehen.

  Bram stand auf und sah ihn ohne Anzeichen von Überraschung an. »Ich werde ihnen Blut geben, wenn es das ist, was sie wollen«, sagte er mit klarer Stimme. »Aber nicht dieses Mädchen und ihr Baby. Nicht noch einmal.«

  »Wer will Blut?« Kincaid stand regungslos da.

  »Die Alten. Garnet wusste davon. Garnet hat schon immer von ihnen gewusst. In dieser Nacht haben wir hier getanzt, auf dem Gras. Es war Samhain, die Zeit, wenn der Schleier am dünnsten ist. Wir riefen sie, und sie kamen. Wir waren wie berauscht davon, unbesiegbar; die Welt gehörte uns. Aber sie wollten mehr - ein Menschenleben - und wir waren nur ihre Instrumente.«

  »Ich sah ihr Gesicht, nur für den Bruchteil einer Sekunde, hinter der Windschutzscheibe. Seitdem habe ich es jeden einzelnen Tag meines Lebens gesehen. Woher hat Fiona es gewusst?«

  »Das Kind auf dem Gemälde.« Kincaid trat unmerklich näher, das Schimmern des Messers immer vor Augen.

  »Warum? Warum musste sie zu Fiona kommen?«

  »Das muss furchtbar für Sie gewesen sein, als Fiona die kleine Sarah zu malen begann.«

  »Fiona verstand nicht, wieso ich den Anblick dieser Bilder nicht ertragen konnte. Dann wollte sie, dass ich sie in der Galerie aufhänge. Ich konnte nicht ablehnen.«

  »Aber warum Garnet töten, Bram?«

  »Sie fingen wieder an, sich zusammenzubrauen, die alten Kräfte. Garnet glaubte, dass sie es verhindern könnte - dass wir es verhindern könnten, wenn ich die Wahrheit sagte. Als sie Fionas Bilder sah, sagte sie, es sei ein Gottesurteil, Fiona sei meine Vergeltung. Fiona...« Die Verzweiflung in seiner Stimme ließ Kincaid das Blut in den Adern stocken. »All die Jahre habe ich geglaubt, ich könnte es wieder gutmachen, indem ich ihr meine Liebe gab, indem ich ein Teil ihrer Güte war. Das Einzige, was ich nicht konnte, war ihr ein Kind schenken ... Ich glaubte, dieser Kummer wäre vielleicht schon Strafe genug.«

  »Hatten Sie sich an jenem Abend mit Garnet auf der Straße verabredet?«

  »Ein Kunde kam in die Galerie. Ich musste sie irgendwie loswerden. Und dann, als ich dort in der Dunkelheit auf sie wartete, dachte ich daran, wie einfach es wäre... Ich wusste nicht, dass es Winnie war, bis es zu spät war.«

  Und er hätte sie sterben lassen, dachte Kincaid, obwohl es so einfachgewesen wäre, Hilfe zu holen.

  »Aber Garnet wusste es, nicht wahr? Also haben Sie sie am folgenden Abend zu Hause aufgesucht und haben sie überredet, mit Ihnen zur Quelle zu gehen.«

  »Ich glaube, sie wusste am Ende, was passieren würde. Vielleicht dachte sie, dass mit ihrem Tod alles zu Ende sein würde. Aber das war nicht genug.«

  »Bram, lassen Sie uns nach Hause gehen. Es ist vorbei. Ihre Frau macht sich schreckliche Sorgen um Sie.«

  »Sie verstehen das nicht.«

  »Ich weiß, dass Fiona Sie lieben wird, ganz gleich, was Sie getan haben -«

  »Nein. Ich werde es nicht zulassen, dass sie von diesem... diesem Übel befleckt wird -« Die Geste, die er mit dem Messer vollführte, schloss den ganzen Tor ein. »Können Sie es fühlen? Wenn es einmal losgeht, kann nur noch Blut ihren Hunger stillen.«

  »Bram, hier ist gar nichts. Gehen wir nach Hause zu Ihrer Frau. Wir setzen uns zusammen und trinken etwas. Morgen früh wird alles schon nicht mehr so schrecklich aussehen.« Er verlagerte sein Gewicht, versuchte den Abstand zwischen sich und dem Messer abzuschätzen.

  »Ich kann nicht. Fiona --«

  »Garnet hatte Recht, Bram. Die einzige Möglichkeit, dem ein Ende zu setzen, besteht darin, die Wahrheit zu sagen. Geben Sie Fiona die Chance, Ihnen zu vergeben. Sie liebt Sie - das sind Sie ihr schuldig.

  »Ich -«

  »Geben Sie mir das Messer, Bram.« Er trat näher und streckte die Hand aus.

  »Aber die Alten -«

  »Es ist vorbei, Bram, der Zyklus ist abgeschlossen. Die Alten brauchen Ihr Leben nicht.« Kincaid straffte alle Muskeln, bereit, sich auf die Waffe zu stürzen.

  »Ich -« Bram schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich gegen die Turmmauer sinken. »Sind Sie sicher?«

  »Ich bin sicher.« Kincaid nahm das Messer aus seiner Hand, ohne dass er Widerstand leistete. »Gehen wir nach Hause.«

  Er führte Bram vom Turm weg - Fionas zerstörtes Gemälde ließ er an der kalten Steinmauer zurück.

  Sie machten sich an den Abstieg, wobei Kincaid sich so dicht an Bram hielt, wie es der schmale Pfad zuließ. Auf einer Seite gähnte der Abgrund; Matsch und lose Steine machten jeden Schritt zum Abenteuer. Der Wind blies ihnen um die Ohren, zerrte wie mit unsichtbaren Händen an ihren Kleidern.

  An der ersten Haarnadelkurve drehte Bram sich um. Er sagte etwas, doch seine Worte wurden sogleich vom Wind mitgerissen. Dann prasselte ein Regen von Steinen von oben herab und traf ihn. Mit einer ruckartigen Bewegung versuchte Bram ihnen auszuweichen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe.

  »Bram!«, schrie Kincaid und versuchte nach ihm zu greifen - seine Finger fassten ins Leere. Er rief und rief, doch aus der undurchdringlichen Dunkelheit zu seinen Füßen kam keine Antwort.

  Endlich machte er sich erschöpft auf den Weg ins Tal, um Hilfe zu holen - die, wie er wusste, zu spät kommen würde.

  Es schien, als habe Bram am Ende doch Recht behalten. Die alten Götter gaben sich mit nichts Geringerem als einem Blutzoll zufrieden.

 

Auf der Fahrt nach Wells saß Gemma zusammengekauert hinten im Wagen und konnte an nichts anderes denken als daran, was für ein Gefühl es gewesen war, Faiths Baby in ihren Armen zu halten. Und immer und immer wiederholte sie stumm diese flehentliche Bitte: Dass sie nicht verlieren würde, was ihr geschenkt worden war.