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... und doch erhebt es das kleine, begrenzte Ich zu dem Bewusstsein einer Möglichkeit, der erhabenen und wunderbaren Möglichkeit einer Verbindung mit etwas, das größer ist als dieses Ich und dennoch ihm verwandt; und zu der Würde einer mystischen Gemeinschaft, in der alle Isolation ein Ende hat, in der Vergangenheit und Gegenwart als Teile eines lebendigen Ganzen gelten; als Punkte auf einem Kreis, dessen Radius das Leben jenseits dieser Begrenzungen darstellt.

 

Frederick Bligh Bond, aus: Das Tor der Erinnerung

 

Allmählich veränderte die Musik ihren Charakter, die frohlockende Melodie wurde schwächer, verhallte, und an ihre Stelle trat ein Klagegesang. Fiona empfand ein überwältigendes Gefühl der Trauer: Trauer um etwas, das zu Ende gegangen war, das verloren war - etwas so Kostbares, dass es die menschliche Vorstellungskraft überstieg... doch mehr als das wusste Fiona nicht zu sagen.

  Zum Schluss fühlte sie nur eine große Leere in ihrem Kopf, und hinter dem Glas war nichts zu sehen als Dunkelheit und die schwachen Lichter der Stadt jenseits des Tales. Erschöpft legte sie den Pinsel hin. Sie hatte keine Vorstellung, wie spät es war - sie hatte in ihrem Atelier keine Uhr -, doch der Krampf in ihrer Hand und die Schmerzen in ihrem Rücken verrieten ihr, dass sie mehrere Stunden lang gemalt hatte.

  Sie trat zurück und betrachtete die Leinwand. Sie selbst hatte die Wesen, die sie heimsuchten, nie benannt, doch die Kritiker bezeichneten sie als Kobolde, Geister oder manchmal auch Engel. Heute Abend hatte sie die Kreaturen zu ihrer Überraschung in einen Rahmen aus einer grünen Rasenfläche und verfallenen Steinmauern gesetzt - es waren eindeutig die Tore der Abtei -, und zum ersten Mal schienen die Geister das inzwischen wohl bekannte kleine Mädchen in ihrer Mitte zu beschützen.

  Es war natürlich alles nur angedeutet. Sie würde es morgen vollenden, falls keine weiteren Visionen kämen. Jetzt brauchte sie Ruhe; zuerst jedoch einen Spaziergang, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

  Das Haus war still, es atmete ruhig in seinem mitternächtlichen Rhythmus, und als sie einen vorsichtigen Blick ins Schlafzimmer warf, sah sie Brams zusammengerollte Gestalt unter der Bettdecke.

  Sie schnappte sich einen alten Parka vom Garderobenhaken und ging durch die Vordertür nach draußen, wo sie einen Moment stehen blieb und die frostige Luft einsog. Zu ihrer Linken lag die Senke von Wiek Hollow; zur Rechten gab die Bul-warks Lane den Blick auf Bushy Coombe frei. Sie schlängelte sich durch den Garten und wandte sich dann nach rechts, und als sie das Haus hinter sich gelassen hatte, konnte sie durch eine Lücke im Laubdach die Sterne erblicken.

  Sie ging weiter und bemerkte plötzlich, dass sich im Unterholz etwas regte, heftiger und geräuschvoller als das übliche nächtliche Geraschel von Dachsen und Kaninchen. Fiona hielt inne und lauschte; sie fragte sich, was die Waldbewohner in einer so stillen und schönen Nacht wohl aus der Ruhe bringen mochte. »Was ist da los?«, flüsterte sie, doch es kam keine Antwort. Mit einem beklommenen Gefühl setzte sie ihren Spaziergang fort, nun wachsamer als zuvor.

  Als ein leichter Windstoß über die Straße fegte und ein Stück Abfall aufwirbelte, fuhr sie zusammen, dann schalt sie sich für ihre Schreckhaftigkeit. Es war bloß eine Plastiktüte vom Supermarkt, und während sie noch hinschaute, wurde die Tüte wieder ein Stück weiter geweht und blieb an einem größeren Gegenstand hängen, der auf der Straße lag, etwas dunklem, vielleicht einem abgebrochenen Ast; daneben lag ein längerer, massiver Gegenstand. Sie trat näher und sah, dass der massivere Gegenstand merkwürdig menschenähnlich war. Wieder eine optische Täuschung, sagte sie sich. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich neben dem Gegenstand stehen.

  Erst als sie sich hingekniet und den Gegenstand angefasst hatte, konnte sie glauben, dass das, was sie sah, wirklich war. Es war eine Frau, und ihr nach oben gewandtes Gesicht schien wie ein blasser Fleck in der Dunkelheit. Neben ihr lag nicht etwa ein Ast, sondern ein umgefallenes Fahrrad. Fiona nahm ihre kleine Taschenlampe aus der Jacke, und als das Licht auf das Gesicht der Frau fiel, stieß sie einen erstickten Schrei aus.

 

Jack trat durch die Tür der Intensivstation und blieb schon nach zwei Schritten stehen, erschüttert vom Anblick der Maschinen und Schläuche, in deren Mitte Winnies schmächtige, reglose Gestalt lag. Warum hatte ihm niemand gesagt, dass sie so aussehen würde - so fremd, so hoffnungslos zerbrechlich? Ein Schlauch führte in ihre Nase, ein weiterer in ihren Mund, und auf einem rasierten Streifen ihrer Kopfhaut waren die entzündeten, mit Klammern zusammengehaltenen Ränder einer Platzwunde zu sehen.

  »Sie kommen Winifred besuchen, nicht wahr?«, fragte eine leise Stimme mit irischem Akzent an seiner Seite.

  Jack drehte sich um; nur halb nahm er die Schwesternuniform, das freundliche Lächeln und das Namensschild wahr, auf dem »Maggie« zu lesen war. Er nickte, denn seiner Stimme traute er nicht.

  »Sie sind ihr >Freund<, nehme ich an? Ihr Bruder ist vor einer Weile gekommen. Hat einen Blick auf sie geworfen, ist grün angelaufen und hat die Beine in die Hand genommen, der Ärmste.«

  »Tatsächlich?« Jacks Entschlossenheit, es ihm nicht gleichzutun, nahm zu - was, wie er vermutete, ihre Absicht gewesen war.

  »Dieser ganze High-Tech-Kram ist den Leuten irgendwie unheimlich. Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Die Geräte sorgen nur dafür, dass sie sich wohl fühlt, und uns verraten sie, wie es ihr geht.«

  »Wie - wie geht es ihr denn?«

  »Wir haben’s ihr jetzt mollig warm gemacht, und sie schläft ganz ruhig. Als wir sie hergebracht haben, war sie unterkühlt, und das Herz war auch ein wenig wacklig, aber inzwischen ist sie stabil -«

  »Das Herz?« Wieder fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder.

  »Eine leichte Arrhythmie, verursacht durch das Aufwärmen. Alles völlig normal. Sie hat ganz schön Glück gehabt, Ihre Winifred. Wissen Sie, wo genau sie gefunden wurde?«

  »Auf der Bulwarks Lane, unterhalb des Glastonbury Tor.«

  »Mitten auf der Straße? Dann hat ihr das wahrscheinlich das Leben gerettet. Der Asphalt hatte wohl noch die Tageswärme gespeichert. Ein paar Meter weiter, im Gras oder im Straßengraben ...« Maggie schüttelte viel sagend den Kopf.

  Es war Suzanne Sanborne gewesen, die Jack in den frühen Morgenstunden angerufen hatte. Er hatte sich allmählich immer größere Sorgen um Winnie gemacht. Es war nicht ihre Art, ihn nicht wissen zu lassen, wo sie war, doch er sagte sich, sie müsse wohl zu einem Notfall gerufen worden sein. Er stellte sich sogar schon vor, wie sie am Bett eines kranken oder sterbenden Mitglieds ihrer Gemeinde saß. Eine Ironie, über die weiter nachzudenken jetzt zu schmerzhaft gewesen wäre.

  Wie benommen war er die knapp fünfzig Kilometer zum Krankenhaus in Taunton gefahren. Andrew Catesby hatte ihn mit einem grimmigen Nicken begrüßt, während Suzanne ihm berichtete, dass Winnie nach Ansicht der Polizei unterwegs zu ihrer Freundin Fiona Allen gewesen sein musste, als sie von ' einem Auto angefahren wurde, dessen Fahrer anschließend Fahrerflucht beging. Fiona hatte sie gefunden und die Polizei und den Rettungsdienst verständigt. Dann rief Fiona Andrew an, der wiederum Suzanne informierte. Wie typisch für Andrew, dass er sich nicht bei Jack gemeldet hatte.

  Bei Tagesanbruch wollte man ihnen immer noch nicht gestatten, Winnie zu sehen, und Suzanne konnte nicht länger bleiben. Jack harrte allein mit Andrew Catesby aus, der ihn aus der anderen Ecke des Wartezimmers finster anstarrte, und so hatte er das Krankenhaus verlassen und war zum Polizeipräsidium in Yeovil gefahren. Dort traf er Detective Inspector Alfred Greely, der den Anruf wegen Winnies Unfall aufgenommen hatte. Greely, ein phlegmatischer Mann mit einem Bauerngesicht und dem gutturalen Akzent des West Country, machte ihm wenig Hoffnung, dass der Fahrer des Wagens gefasst werden könnte. Es gab keine Zeugen und nur wenige gerichtlich verwertbare Spuren an dem Fahrrad, wenn überhaupt irgendwelche - ihre einzige Chance war Winnie selbst, falls sie aufwachen und sich an irgendetwas Entscheidendes erinnern sollte.

  Jetzt, als er dastand und auf ihr unbewegtes Gesicht herabblickte, ruhiger und stiller noch als im tiefsten Schlaf, wandte Jack sich an Maggie: »Kann ich mit ihr sprechen? Wird sie mich erkennen?«

  »Sicher können Sie das, junger Mann, und je mehr Sie reden, umso besser. Ich könnte wetten, wenn sie aufwacht, weiß sie nicht bloß, dass Sie hier gewesen sind, sondern erinnert sich auch an jedes einzelne Wort, das Sie zu ihr gesagt haben.« Maggie holte einen Krankenhausstuhl, der aussah, als sei er viel zu klapprig, um Jacks kräftige Figur aushalten zu können, und stellte ihn ans Bett. »Sie wird Sie als Stütze brauchen, als Anhaltspunkt, damit sie sich orientieren kann. Sprechen Sie zu ihr, fassen Sie sie an, halten Sie ihre Hand. Sagen Sie ihr, was ihr zugestoßen ist.«

  Jack umfasste Winnies Hand mit beiden Händen - sie fühlte sich kühl an, und er spürte keine Reaktion. »Winnie, ich bin’s, Jack«, begann er unbeholfen. »Du hast ein bisschen was auf den Schädel bekommen, aber es wird alles wieder gut, Schatz.«

  »Reden Sie nur immer weiter«, instruierte ihn Maggie, als er abbrach. »Ich lasse Sie noch ein paar Minuten mit ihr allein.« Mit unbewegtem Gesicht ging sie weg, um nach einem anderen Patienten zu sehen.

  Jack kramte aus seiner Tasche das Gebetbuch hervor, das das  Krankenhauspersonal in Winnies Handtasche gefunden hatte, und begann laut zu lesen in der Hoffnung, die vertrauten und tröstlichen Worte würden irgendwie zu ihr durchdringen. »O Herr, unser himmlischer Vater, allmächtiger und ewiger Gott, der du uns sicher bis zum Beginn dieses Tages gebracht hast: Schütze uns weiter mit deiner Stärke, und lass uns an diesem Tage nicht in die Sünde verfallen, noch irgendeiner Gefahr begegnen; möge all unser Tun von Deinem Ratschluss geleitet sein...« Seine Stimme versagte; er senkte den Kopf und schlug das kleine in Leder gebundene Buch mit den vergoldeten Seitenrändern zu. Es war Winnies Gebetbuch, ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrer Konfirmation, wie sie ihm einmal erzählt hatte. Kurz darauf waren sie beide bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen, und seither hütete sie das Buch wie einen Schatz.

  Wie hatte sie es geschafft, einen solchen Schmerz zu überleben, ohne Schaden zu nehmen? Er redete flüsternd auf sie ein, rieb ihre Hand, sagte ihr, dass er sie liebte, dass sie stark sei und dass er nicht zulassen würde, dass irgendetwas - was es auch immer sei - sie ihm wegnähme.

  Maggie erschien wieder an seiner Seite und berührte ihn sanft an der Schulter. »Sie müssen jetzt leider gehen, aber Sie können in ein paar Stunden wiederkommen.« Als Jack sich erhob und widerstrebend Winnies Hand losließ, fügte sie hinzu: »Habe ich nicht irgendjemand sagen hören, Winnie sei Pfarrerin?«

  »Ihre Gemeinde ist St. Marys in Compton Grenville.«

  »Wenn sie Musik liebt, dann könnten Sie ihr vielleicht etwas mitbringen und es ihr Vorspielen. Musik kann bei manchen Leuten sehr viel bewirken, besonders wenn sie ein wichtiger Bestandteil ihres täglichen Lebens ist.«

  »Kann ich Ihnen das hier lassen?« Jack hielt ihr das Gebetbuch hin. »Vielleicht kommen Sie ja mal dazu, ihr daraus vorzulesen. Oder falls sie aufwacht...« Er hob den Kopf und blickte verzweifelt in Maggies haselnussbraune Augen. »Was ist, wenn sie aufwacht, während ich weg bin? Oder...«

  Maggie fischte einen Zettel und einen Stift aus ihrer Kitteltasche. »Haben Sie ein Handy?« Jack nickte. »Geben Sie mir die Nummer, dann rufe ich Sie an, falls sich irgendetwas tut.«

  Jack dankte ihr, warf Winnie noch einen letzten Blick zu und ging hinaus in die Wartezone. Dort ließ er sich auf irgendeinen Stuhl fallen, erschüttert von der Erkenntnis, dass er es nicht ertragen würde, sie zu verlieren, dass er es nicht ertragen würde, wieder in die einsame Wüste verbannt zu werden, die sein Leben nach Emilys Tod gewesen war.

  Und er konnte es auch nicht ertragen, einfach nur dazusitzen und zu warten. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen. Was würde Winnie ihnen erzählen, wenn sie aufwachte - dass es daran Zweifel geben könnte, weigerte er sich einzugestehen. Warum hatte sie ihre Freundin Fiona zu dieser späten Abendstunde besuchen wollen? Wo war sie vorher gewesen? Warum hatte sie ihn nicht angerufen? Und was hatte sie gesehen, bevor das Auto sie erfasste?

  Es musste doch irgendetwas geben, was er tun konnte. Die Polizei hatte gewiss kein sehr großes Interesse an der Aufklärung des Falles erkennen lassen. Winnie war viel zu vernünftig, als dass sie blindlings mit dem Fahrrad den Weg eines herannahenden Fahrzeugs gekreuzt hätte. Aber wie hätte der Unfall anders passieren können? Es sei denn, jemand hätte sie absichtlich angefahren. Und das war unvorstellbar.

  Er würde Fiona aufsuchen. Vielleicht hatte Winnie sie angerufen und ihr etwas gesagt, wodurch sich ihr rätselhaftes Auftauchen in der Bulwarks Lane aufklären würde.

  Und es gab noch jemanden, den er anrufen konnte; jemanden, der ihm zuverlässig sagen würde, ob er vollkommen verrückt geworden war.

 

Kincaid legte gerade den Telefonhörer auf die Gabel zurück, als sein Sergeant mit einer Aktenmappe voller Papiere ins Büro kam.

  »Der Bericht vom Labor«, sagte Douglas Cullen, legte die Mappe vor Kincaid auf den Tisch und zog sich einen Stuhl heran.

  »Irgendetwas Brauchbares?«

  Cullen schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Sir. Nichts, null, nada.«

  Kincaid hob eine Augenbraue. »Man merkt, dass Sie wieder mal amerikanische Serien geguckt haben.« Er hatte den Verdacht, dass Cullen sich gerne als harten Cop ä la NYPD Blue gesehen hätte - ein durchaus harmloser Tagtraum, solange er seine Arbeit nicht beeinträchtigte. Aber sicherlich hätte man sich keinen ungeeigneteren Kandidaten vorstellen können. Mit seinem hellblonden Haar, seiner Brille und seinem rosigen Schulbubengesicht gab Cullen viel eher das perfekte Bild eines traditionellen englischen Bobbys ab.

  Seit zwei Wochen arbeiteten sie nun an einem Fall, der auf beunruhigende Weise wie der erste Versuch eines Serienmörders aussah. Das Opfer, die Inhaberin eines Antiquitätenstandes in der Camden Passage, war in ihrem eigenen Laden aufgefunden worden, und bis jetzt hatten sie auch nicht die geringste brauchbare Spur zu Tage gefördert. Kincaid begann allmählich zu glauben, dass der Mörder einen hermetisch verschlossenen Anzug getragen hatte und obendrein noch unsichtbar war.

  Während er die Mappe aufschlug, schweiften seine Gedanken wieder zu dem unerwarteten Anruf seines Cousins Jack Montford ab, den er soeben erhalten hatte - und zu dem Dilemma, vor das er ihn stellte.

  Wie lange war es her, dass er Jack zuletzt gesehen hatte? Er war mit Ermittlungen in einem Fall beschäftigt gewesen, als Emily und das Baby gestorben waren... dann musste es wohl bei der Beerdigung seiner Tante gewesen sein, obwohl er damals kaum mehr getan hatte, als Jack die Hand zu schütteln und ihm sein Beileid auszusprechen, bevor er nach London zurückgeeilt war.

  Wenn es einen Menschen gab, der mehr vom Unglück verfolgt worden war als die meisten, dann war es sein Cousin. Aber nun lag seine neue Freundin im Krankenhaus, und er schien äußerst besorgt, weil er fürchtete, dass der Unfall mit Fahrerflucht möglicherweise gar kein Unfall gewesen war. Jack hatte zögernd vorgeschlagen: »Du könntest doch übers Wochenende herkommen und dir die Sache einfach mal anschauen.«

  »Aber das wäre doch außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs«, lautete Kincaids Einwand.

  »Das spielt keine Rolle. Ich dachte nur... Ich würde mich einfach nur freuen, dich zu sehen.«

  Seine und Jacks Mutter hatten einander sehr nahe gestanden, und die beiden Familien hatten im Sommer immer viel Zeit miteinander verbracht, als die Kinder noch klein waren. Jack war ein ziemlich ernster, aber sympathischer Junge gewesen, immer bereit zu einem Abenteuer, und er war zu einem Mann von großmütigem und gewinnendem Wesen herangewachsen. Kincaids Erinnerungen an den Urlaub, den Jack ihm in seinem Ferienhaus in Yorkshire spendiert hatte, waren durch Emilys Tod kurze Zeit später getrübt worden, doch die Aufmerksamkeit, die aus dem Angebot sprach, war typisch für Jack.

  »Ich sage dir Bescheid, wenn ich es irgendwie arrangieren kann«, hatte Kincaid geantwortet, bevor er das Gespräch beendete. Sosehr er es bedauerte, Jack enttäuschen zu müssen, er hatte nicht wirklich die Absicht, übers Wochenende nach Somerset zu fahren.

  Er konnte unmöglich aus London weg; vielleicht würde sich in ihrem Fall irgendetwas ergeben, und Doug Cullen war nicht erfahren genug, um allein damit fertig zu werden. Und er und Gemma hatten in letzter Zeit nicht eben viel voneinander gesehen - er plante die Tatsache, dass Kit das Wochenende bei Freunden verbringen wollte, weidlich auszunutzen.

  Entschlossen, sich der vorliegenden Angelegenheit zu widmen, griff er nach dem Stoß Papiere auf seinem Schreibtisch. Doch während er den enttäuschend negativen Bericht überflog, wollte ihm die Verzweiflung, die er aus Jacks letzten Worten herausgehört hatte, nicht aus dem Sinn gehen. Sein Cousin brauchte seine Unterstützung, und Kincaid konnte sich denken, welche Überwindung es Jack gekostet haben musste, ihn darum zu bitten.

  »Sir?«

  »Oh, tut mir Leid, Cullen. Ich habe wohl geträumt.«

  »Sie haben nicht ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe.« Cullen klang ein wenig verletzt.

  Kincaid beäugte seinen Sergeant nachdenklich. Er war ein brauchbarer Kerl; vielleicht war es an der Zeit, dass er einmal ins kalte Wasser geworfen wurde. Und Gemma... Wenn es irgendetwas zu bedeuten hatte, dass sie in den letzten paar Wochen so reizbar gewesen war, dann brauchte Gemma dringend Urlaub. Die Frage war nur, ob er sie davon überzeugen konnte, ihn zu nehmen.

  Er lächelte Doug Cullen an. »Meinen Sie, Sie könnten hier ein paar Tage allein klarkommen, Sergeant?«

 

Als Jack ihn im Buchladen anrief, um ihn von Winnies Unfall zu unterrichten, war Nick beinahe erleichtert. Kälte, Hunger und gesunder Menschenverstand hatten ihn am Abend zuvor dazu bewegt, in seinen Wohnwagen zurückzukehren, doch das quälende Gefühl eines bevorstehenden Unheils hatte er nicht abschütteln können.

  »Wie - wie geht es ihr?«, fragte Nick.

  »Sie ist bewusstlos, aber ihr Zustand ist stabil. Sie werden mich bald wieder zu ihr reinlassen«, berichtete Jack.

  »Kann ich irgendetwas tun?«

  »Informieren Sie die anderen, wenn Sie können. Ich rufe Sie an, wenn sich irgendetwas... ändert.« Jacks Stimme schwankte, und Nick spürte, wie viel Beherrschung es ihn kostete, sie ruhig zu halten.

  »Alles klar. Es - es tut mir Leid, Jack.« Da ihm weiter nichts Passendes einfallen wollte, legte Nick auf. Er stand auf, ging zur Ladentür und drehte das Schild um. Dann schloss er ab und machte sich auf den Weg. Er würde es Faith erzählen, aber nicht am Telefon.

  Er fand sie damit beschäftigt, Kürbissuppe in Schüsseln umzufüllen. Der Duft von Zimt und anderen Gewürzen kämpfte gegen den ständigen Geruch von Feuchtigkeit an, der im Cafe herrschte. Nebenan im Laden stand Buddy und telefonierte; sein Murmeln bildete die gedämpfte Begleitmusik zu den gregorianischen Gesängen, die auf der Anlage liefen.

  Nachdem Faith ihre Gäste bedient hatte, beugte sich Nick über die Theke und flüsterte eindringlich: »Hast du gehört, was mit Winnie passiert ist?«

  Zum ersten Mal, seit er eingetreten war, sah ihm Faith in die Augen. Die Farbe wich aus ihrem ohnehin schon bleichen Gesicht. »Winnie?«

  »Sie war gestern Abend mit ihrem Fahrrad in der Bulwarks Lane unterwegs. Jemand hat sie überfahren. Sie liegt im Krankenhaus und ist bewusstlos.«

  »W-was?« Faith hielt sich mit beiden Händen an der Theke fest und schüttelte benommen den Kopf. »Das ist doch nicht möglich. Sie war hier - Oh!« Ihre Augen weiteten sich. »Wir haben sie danach noch gesehen! Ich hätte schwören können, dass sie auf dem Weg zu Jack war, aber sie hat ihr Rad die Straße hoch geschoben.«

  »Du sagtest wir?«

  »Garnet und ich. Auf dem Nachhauseweg. Winnie ist in die Lypatt Lane eingebogen -«

  »Dann muss es kurz danach passiert sein. Du hast nicht vielleicht irgendetwas - oder irgendjemand sonst gesehen, oder doch?«

  »Nein«, flüsterte Faith. »Aber Garnet - Garnet ist noch mal weggefahren, mit dem Lieferwagen. Vielleicht ist sie... Als sie zurückkam... da war sie...«

  »Was war sie?«

  »Ich weiß nicht. Irgendwie komisch. Sie wollte nicht mit mir reden oder mir beim Lernen helfen. Sie ist in ihr Büro gegangen und hat die Tür zugemacht.«

  Nicks Puls begann zu rasen. »Faith.« Er beugte sich noch weiter über die Theke, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war. »Geh nach Hause, sobald du kannst, und sieh dir die Stoßstange des Lieferwagens an. Aber Garnet darf dich dabei nicht sehen.«

  »Was redest du denn da? Warum sollte ich -« Sie starrte ihn an, und zwei flammend rote Flecke tauchten auf ihren blassen Wangen auf. »Du denkst doch nicht, dass Garnet irgendetwas mit Winnies Unfall zu tun hat? Du bist ja verrückt, Nick! Das werde ich nicht tun! Ich denke ja nicht mal daran!«

  Der zunehmend hysterische Ton ihrer Stimme ließ mehrere Gäste von ihren Mahlzeiten aufblicken.

  »Das sind nur ganz logische Vorsichtsmaßnahmen«, flüsterte er. »Das musst du doch einsehen. Was kann es denn -«

  »Raus hier, Nick!«, schrie sie ihn an. »Ich will nichts mehr hören, also sieh verdammt noch mal zu, dass du verschwindest!«

  Nick spürte, wie er unter den faszinierten Blicken der Cafegäste errötete. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehen.

 

Garnet erfuhr von Winnies Unfall durch einen Kunden, den Pfarrer einer Kirche am Rande der Ebene von Salisbury. Die Welt des ländlichen Klerus war klein, und Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. Sie hatte ihre Fliesen verlegt und war dann nach Glastonbury zurückgefahren, in die schützenden Wände ihrer Werkstatt, und die ganze Zeit über hatte ihr Gehirn hektisch gearbeitet.

  Winnie lag im Krankenhaus, und wenn die Informationen des Pfarrers korrekt waren, dann war es eher unwahrscheinlich, dass sie durchkommen würde.

  Trotz der Hitze, die der mit Holz befeuerte Brennofen ausstrahlte, zitterte Garnet vor Kälte, und die Strahlen der Mittagssonne, die in einem hellen Rechteck durch die Tür der Scheune fielen, waren zu verlockend. Sie nahm ihren Schemel, stellte ihn vor die Tür, setzte sich hin und genoss dankbar die Wärme.

  Die Gedanken an all das, was sie in ihrem Leben versäumt und verloren hatte, lasteten schwer auf ihr. So vieles hatte sie tun wollen, so vieles hatte sie zu erreichen gehofft; jetzt sah sie mit einem Mal die Jahre, die ihr noch blieben, dahinschwinden, zur Größe eines Stecknadelkopfes schrumpfen und dann nutzlos verlöschen - so wie das Leben eines Kindes so viele Jahre zuvor verloschen war.

  Doch Faith - und Faiths Kind - hatten ihr eine unerwartete Gelegenheit zur Wiedergutmachung eröffnet.

  Nach ihren Berechnungen würde Faith an Samhain niederkommen, am einunddreißigsten Oktober, dem Abend vor Allerheiligen, an dem Tag, da der Schleier zwischen den Welten am dünnsten war. Der Tor hatte das Mädchen von Beginn an angezogen - deshalb war sie ins Café und später zu Garnet gekommen. Eine solche Geburt an einem solchen Ort würde einen Zugang öffnen, würde uralte Kräfte entfesseln, die unvorstellbare Verheerungen anrichten konnten. Früher einmal hatte Garnet geglaubt, diese Energien nutzen und lenken zu können, doch die grausame Erfahrung hatte sie eines Besseren belehrt. Die Alten waren noch nie sanfte Götter gewesen, und das Wohlergehen der Menschen hatte sie noch nie gekümmert.

  Der Weg war vorgezeichnet, die Zeichen unverkennbar; Faith konnte sich dem ebenso wenig entziehen, wie sie sich zwingen konnte, das Atmen einzustellen.

  Garnet wusste, dass sie als Einzige das Wissen besaß, mit dem der aufziehende Sturm sich noch aufhalten ließ. Und wenn sie vergangene Nacht bei der Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte, versagt hatte, dann musste sie diese Last ebenfalls tragen.

  Aber sie würde nicht noch einmal versagen.