Doch selbst der Erzengel Michael war hilflos gegen die Urgewalten der Dunkelheit, die durch das Ritual gebündelt worden waren. Und während des Erdbebens im Jahre 1000 nach Christus stürzte das Kirchenschiff ein; nur der Turm blieb stehen. So wurde das christliche Symbol einer kreuzförmigen Kirche in das heidnische eines aufragenden Turms verwandelt. Die alten Götter hatten ihre Stellung behauptet.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
Von dem Augenblick an, als sie am Dienstagmorgen erwachte, hatte Faith ein ganz merkwürdiges Gefühl. Sie fragte sich, ob die anderen auch spürten, wie schwer und drückend die Luft heute war. Und sie hatte ein Gefühl der Dringlichkeit, als ob ihr nicht mehr viel Zeit bliebe, zu erledigen, was noch zu erledigen war. Das Baby aber, das in den letzten Tagen eine so ungestüme Aktivität entfaltet hatte, war ruhig; nur dann und wann stupste es sie leicht an.
Sie tastete ihren Bauch sorgfältig ab, wie sie es von Garnet gelernt hatte, doch sie konnte nicht mit Sicherheit feststellen, ob das Baby sich schon gesenkt hatte. Warum war Garnet nicht da, wenn sie sie brauchte? Und wie sollte sie es ohne sie überhaupt schaffen?
Sie kämpfte gegen die Tränen des Zorns und der Frustration an, während sie sich für die Arbeit fertig machte. Als sie so weit war, ging sie Duncan suchen. Sie fand ihn im hintersten Schlafzimmer, inmitten von geöffneten Kisten und Kartons; sein Gesicht war schon verschmiert, und seine finstere Miene drückte Entmutigung aus.
Am Abend zuvor war Nick endlich aufgetaucht und hatte sich knapp für seine Abwesenheit entschuldigt. Er und Simon beteiligten sich dann an der Suche auf dem Dachboden und trugen kleinere Gegenstände hinunter ins Wohnzimmer, wo Faith und Winnie sie in Empfang nahmen. Nachdem sie bis spät in den Abend gearbeitet hatten, kamen sie alle zu dem Schluss, dass sie den Dachboden gründlich genug durchkämmt hatten, leider ohne jegliches greifbare Resultat. Jetzt waren Duncan und Jack dabei, die restlichen Räume des Hauses abzusuchen.
»Irgendetwas entdeckt?«, fragte Faith Duncan, obwohl sie schon wusste, wie die Antwort lauten würde.
»Ein altes Fotoalbum mit Kinderbildern meiner Mutter. Aber davon abgesehen, nein. Sind Sie so weit, dass ich Sie ins Café fahren kann?«
Innerhalb von wenigen kurzen Tagen hatte sich zwischen ihnen eine angenehme Routine eingestellt, und Faith wurde plötzlich schmerzlich bewusst, wie traurig es sie machen würde, wenn alles wieder zu Ende wäre. Auch gefiel ihr der Gedanke an das kleine Täuschungsmanöver, das sie heute vorhatte, ganz und gar nicht, doch sie sah keine andere Möglichkeit. Sie musste einen Beweis dafür finden, dass jemand anderes als Nick Garnet etwas hatte antun wollen. Und Duncan hatte ihr erzählt, die Polizei habe das Bauernhaus versiegelt, daher konnte sie ihn kaum bitten, sie hinzufahren, um in Garnets Sachen herumzustöbern.
»Wir sehen uns dann um fünf«, sagte er, als sie vor dem Café ausstieg, und sie winkte ihm nach, als er mit Gemmas purpurrotem Auto davonfuhr.
Zu ihrer großen Erleichterung war es ein ruhiger Vormittag, denn je weiter der Tag vorrückte, desto unwohler fühlte sie sich. Ihre Beine taten weh, und ihr Becken fühlte sich an, als hätten sich Bänder und Sehnen allesamt in Pudding verwandelt. Buddy war eifrig um sie besorgt und kam so oft es ging aus dem Laden herüber, um ihr zur Hand zu gehen.
Nach dem Mittagessen wartete sie ungeduldig und sah immer wieder nach der Uhr, während sie aufräumte und putzte. Als der Stundenzeiger sich endlich an die Zwei herangeschlichen hatte, wischte sie noch einmal über die Theke und ging dann in den Laden.
Buddy sah von seiner Schmucktheke auf. Sofort legte sich sein Gesicht in Sorgenfalten. »Alles in Ordnung, Mädel?«
»Mir geht’s nicht so besonders. Hättest du etwas dagegen, wenn ich heute etwas früher Schluss mache?« Es ist keine Lüge, redete sie sich ein. Ich nehme es bloß mit der Wahrheit nicht ganz so genau.
»Ist es das Baby?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete sie unsicher. »Aber ich denke, ich sollte vielleicht ein bisschen kürzer treten.«
»Hast du Bescheid gesagt, dass jemand dich abholen soll?«
»Ja«, log sie diesmal geradeheraus und lächelte dabei gezwungen. »Ich werde draußen warten.«
Sie legte sich ihre Strickweste um und trat hinaus in den leichten Nieselregen, der die Kletterer heute fern hielt. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als loszulaufen, und so machte sie sich entschlossen an den Anstieg.
Je weiter sie ging, desto glitschiger wurde das Pflaster, und der Regen wurde heftiger. Als sie beim Bauernhaus ankam, atmete sie bereits schwer, und ein dumpfer, drückender Schmerz hatte sich um ihr Steißbein herum festgesetzt. Aber sie hatte es geschafft! Auf ihrem Weg nach oben war ihr niemand begegnet; dennoch blickte sie sich verstohlen um, als sie unter dem blauweißen Absperrband hindurchschlüpfte, das vor den Toreingang gespannt war.
Sie überquerte den Hof und schloss mit ihrem Schlüssel die Hintertür auf. Alle drei Katzen kamen hoffnungsfroh aus der Scheune herbeigetappt, und sie bückte sich, um sie zu streicheln, während sie schnurrend um ihre Beine herumstrichen. »Habt ihr Hunger, ihr Ärmsten?«, fragte sie, und während sie die Katzen ins Haus ließ, sang sie das alberne kleine Futterliedchen, das sie sich für sie ausgedacht hatte.
In der Küche war jede horizontale Fläche mit feinem schwarzem Staub bedeckt, und es sah aus, als sei ein Orkan durch den Raum gefegt; der Inhalt der Regale und Schränke lag überall verstreut. Faith verzog das Gesicht, als sie Licht machte und Futter in die Katzenschüsseln füllte, wobei sie möglichst wenig anzufassen versuchte. Der Anblick des Auflaufs, den Garnet noch am Tag ihres Todes gekocht hatte, war fast zu viel für sie.
In Garnets Büro waren die Spuren der polizeilichen Durchsuchung noch viel deutlicher. Alles war von Fingerabdruckpulver bedeckt, und das ganze Zimmer war ein Meer von Papieren. Die Schubladen in Garnets Schreibtisch waren aufgebrochen worden, und bis auf eine waren sie alle leer.
Sie zündete das Licht auf dem Schreibtisch an und besah sich den Inhalt der Schublade, die die Polizisten nicht ausgeräumt hatten. Sie enthielt ein halbes Dutzend Notizbücher mit Spiralheftung, und als Faith sie aufschlug, stellte sie fest, dass sie alle mit technischen Aufzeichnungen über die Fliesenherstellung angefüllt waren. Kein Wunder, dass die Polizei kein Interesse daran gehabt hatte.
Garnet hatte das Geheimnis der Herstellung der Glasuren für ihre Fliesen so eifersüchtig gehütet, dass es fast schon krankhaft gewesen war. Sie hatte immer wieder betont, dass es diese Glasuren seien, die ihr Werk so einmalig und ihre Restaurierungsarbeit überhaupt erst möglich machten. In einer redseligen Laune erzählte sie Faith einmal, dass sie nur solche Naturmaterialien verwendete, die auch den mittelalterlichen Handwerkskünstlern zur Verfügung gestanden hatten, und so die authentischen Farben zu Stande brachte, für die ihre Fliesen so geschätzt wurden.
Doch es hatte den Anschein, als seien Garnets Geheimnisse nicht mit ihr gestorben. Die Kladden enthielten nicht nur umfangreiche Notizen, sondern auch Aufzeichnungen von Formeln und Experimenten, sowohl erfolgreichen als auch misslungenen.
Faith war so fasziniert, dass sie die Zeit vergaß, bis ein Blick in Richtung des dunkler werdenden Fensters sie daran erinnerte, dass sie sich beeilen musste. Sie hatte mit allem fertig und wieder im Café sein wollen, wenn Duncan sie abholen kam; allerdings hatte sie sich noch nicht überlegt, was sie Buddy erzählen würde.
Sie legte die Notizbücher zurück und dachte einen Augenblick nach. Das Büro war eine Sackgasse. Wenn dort irgendetwas Brauchbares gewesen wäre, hätte die Polizei es längst gefunden. Langsam ging sie zurück in die Küche. Hier war das Herz des Hauses, der Raum, in dem Garnet sich aufgehalten hatte, wenn sie nicht gearbeitet hatte. Hier hatte sie beim Kochen gesungen, hier hatte sie in dem alten, abgenutzten Schaukelstuhl gesessen und gelesen.
Faith ließ sich in den Schaukelstuhl nieder. Hier hätte sie ihr eigenes Kind geschaukelt, wäre Garnet nicht gestorben. Sie sah sich um, versuchte die Küche mit Garnets Augen zu sehen. Garnet hatte nicht viele Dinge ihr Eigen genannt, doch zu ihren kostbarsten Besitztümern zählte sie ihre Bücher, besonders ihre Kochbücher. Sie standen in der kleinen Nische über dem Herd, die der Mahlstrom der Hausdurchsuchung offenbar verschont hatte.
Ächzend vor Anstrengung, hievte Faith sich hoch und ging zu dem Regal, wo sie ein Buch nach dem anderen hervorzog und eilig durchblätterte.
In einem vegetarischen Kochbuch, das sie Garnet nur selten hatte benutzen sehen, fand Faith schließlich die Papiere. Unter dem Schutzumschlag steckten sie - mehrere Bogen Schreibpapier, bedeckt mit Garnets spitzer Handschrift, ausgerissene Seiten aus einem Buch und ein Zeitungsausschnitt, vom Alter ganz vergilbt und brüchig.
Zuerst entfaltete sie die bedruckten Seiten, und beim Lesen weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Die Seiten stammten offensichtlich aus einem Lehrbuch der alten Magie, doch dies waren nicht die harmlosen Zeremonien, die Garnet ihr beigebracht hatte - hier handelte es sich um Rituale, mit denen die finstersten und ältesten Mächte aus der Tiefe beschworen werden sollten; Rituale, in denen der Tor gefeiert wurde als der Eingang zur Unterwelt, der Heimat der Großen Mutter. Die Teilnehmer an dem Ritus begannen damit, dass sie das uralte spiralförmige Labyrinth abschritten, die physische Manifestation jenes Energiestrudels, der sie zum Gipfel heraufziehen und dann in das Herz des Tor hinabstoßen würde. Diejenigen, die Chaos und Tod über sich ergehen ließen, würden als Wiedergeborene herauskommen, erfüllt von der Kraft der Urmutter.
Als sie das las, wurde Faith ohne jeden Zweifel klar, dass es diese Kraft gewesen war, die sie zum Tor gebracht hatte, und dass Garnet es ebenfalls gewusst haben musste. Mit fahrigen Bewegungen entfaltete sie die handgeschriebenen Seiten.
Sie hätte meine Tochter sein können. Sie ist zu mir gekommen, ein Geschenk der Götter; in ihrer Unschuld liegt Wiedergutmachung und Erlösung. Ich werde ihr Kind auf die Welt bringen.. .zum Ausgleich für das verlorene Kind; ein Leben für ein Leben... Wenn ich sie nur vor den Mächten schützen kann, die diese Geburt erwarten.
Deshalb also hatte Garnet so wild entschlossen über sie gewacht! Sie hatte dieses Etwas, das an Faith gezogen und gezerrt hatte, als das erkannt, was es war, und sie hatte versucht, Faith irgendwie dagegen abzuschirmen. Mit zitternden Fingern faltete Faith die Zeitungsseite auseinander und starrte darauf. In verblasster Druckerschwärze war da das Foto eines Kindes zu sehen, eines kleinen Mädchens, dann eine Schlagzeile: Tragödie auf dem tor, gefolgt von einem allzu knappen Bericht: Bei einem Unfall mit Fahrerflucht wurde gestern Abend die vierjährige Sarah Jane Kinnersley am Abhang des Glastonbury Tor von einem Fahrzeug angefahren und tödlich verletzt. Die Tragödie ereignete sich in der Wellhouse Lane, direkt unterhalb der Kinnersley-Farm. Sarahs Eltern hatten geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war, als Sarah -
Faith blickte von ihrer Lektüre auf. Ein Geräusch - sie hatte ein Geräusch gehört. Der Zeitungsausschnitt flatterte zu Boden, während sie alle Sinne anspannte, um das Geräusch noch einmal zu hören. Aber da war nichts weiter als das Trommeln der Regentropfen gegen die Fensterscheibe, und sie sah, dass die Dunkelheit sich endlich herabgesenkt hatte und nur noch ein allerletzter Rest von Tageslicht übrig war. Ein Gefühl der Panik wallte in ihr auf - hatte sie sich verspätet? Hatte sie Dun-can verpasst?
Sie warf einen Blick auf die Uhr über dem Ofen und seufzte erleichtert auf. Es war noch nicht fünf Uhr. Alles in Ordnung. Sie würde hinunter ins Tal gehen und zu begreifen versuchen, was sie soeben gelesen hatte. Aber jetzt wollte sie nur noch weg von diesem Haus, das ohne Garnet so leer war, wollte nur noch ins Warme und ins Licht.
Sie hatte die Hand an der Küchenlampe, als das Geräusch wiederkehrte. Diesmal war es unverkennbar - ein Schritt, die unterste Haustürstufe ächzte unter dem Gewicht. Hatte Duncan sie vergeblich im Cafe gesucht und war nun hierher gekommen?
Aber dann hätte sie doch sicherlich das Zischen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt gehört, und das Quietschen des Hoftors. Wieder ein Knarren, und ein Schatten fiel von außen auf den Vorhang.
Die Angst, die sie erfasste, ließ keinen Platz mehr für rationale Gedanken. In Panik sah sie sich nach einem Versteck um, doch es war zu spät. Die Tür ging auf, und die Stimme, mit der sie am allerwenigsten gerechnet hatte, sagte: »Hallo, Faith.«
Gemma hatte eine unruhige Nacht gehabt, war mehrmals aufgewacht und hatte nach Toby gesehen, um sich dann wieder ruhelos hin und her zu wälzen. Als das fahle Licht, das die Morgendämmerung ankündigte, durch die Jalousien zu schimmern begann, gab sie ihre Versuche, Schlaf zu finden, endlich auf.
Sie setzte sich an den halbkreisförmigen Tisch in der stillen Wohnung und sah in den Garten hinaus, während der Himmel sich allmählich aufhellte. Sie sah, wie die vertrauten Umrisse von Bäumen und Sträuchern langsam Gestalt annahmen, und dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Unterhaltung mit Erika Rosenthal.
Dr. Rosenthal war eine vernünftige Frau, eine Wissenschaftlerin, und doch hatte sie ohne Vorbehalte von alten Göttern und Elementargewalten gesprochen. Wenn sie Recht hatte, dann waren Gemmas Wahrnehmungen mehr gewesen als die Produkte einer überspannten Fantasie, und Faith war tatsächlich in Gefahr. Andererseits hatte sich Faith bereits zum Tor hingezogen gefühlt, als Garnet von ihrer Existenz noch nichts geahnt hatte. War die Gefahr vielleicht nicht von Garnet ausgegangen, sondern von etwas anderem - von etwas, das noch nicht am Ende seines Weges angelangt war?
Der Gedanke verursachte Gemma solches Unbehagen, dass sie aufstand und sich mit den Vorbereitungen für den Tag ablenkte; doch er ließ ihr den ganzen Vormittag über keine Ruhe. Wie sehr sie sich auch bemühte, rationale Erklärungen dafür zu finden, sie konnte das instinktive Gefühl einfach nicht abschütteln, dass Faith immer noch eine schreckliche Gefahr drohte.
Am Mittag rief sie ihren Sergeant zu sich und teilte ihm mit, dass sie für den Rest des Tages außer Haus sein würde. Ihr Chef war auf einer Fortbildung - sie würde sich vor ihm rechtfertigen müssen, wenn sie zurückkam. Und Hazel! Sie würde Hazel bitten müssen, Toby über Nacht bei sich zu behalten.
Aber als Erstes rief sie Kincaid bei Jack an.
»Andrew! Was machst du denn hier?« Faith starrte die Erscheinung in der Tür an. Sein dünner Anorak glänzte vom Regen, und nasse Haarsträhnen klebten an seiner Stirn. Er sah irgendwie verändert aus, jünger als sonst; ihr fiel auf, dass er seine Brille abgenommen hatte.
»Ich wollte dich sehen.« Er trat in die Küche und schloss die Tür hinter sich. »Du siehst gut aus.«
»Gut?« Sie blickte auf ihren geschwollenen Bauch herab und sah dann wieder ihn an. »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Was sollte ich denn sagen? Dass du wie das blühende Leben aussiehst? Oder irgendeinen anderen dieser Euphemismen, die die Leute benutzen, um der Tatsache auszuweichen, dass schwangere Frauen wie gestrandete Wale aussehen?«
Seine Grobheit war schockierend. Und es lag auch keine Spur von Zärtlichkeit in seiner Stimme. Was hatte sie bloß damals in ihm gesehen, vor so vielen Monaten?
Er war von ihren Leistungen im Geschichtsunterricht beeindruckt gewesen, von ihrem Wissen über Musik. Und sein Interesse hatte ihr so geschmeichelt; sein jungenhaft gutes Aussehen und seine scheinbare Verletzlichkeit faszinierten sie. Als er begann, sie zu sich in sein Büro zu bitten, kam sie sich wie eine Auserwählte vor, wie etwas ganz Besonderes. Und dann war da die zufällige Berührung, die Hand auf ihrer Schulter, die Hand, die ihr Haar streichelte - so anders als das Gefummel der Jungs in ihrem Alter.
Der Kitzel und die Erregung machten sie ganz schwindlig, und als er dann - und mit welcher Nonchalance! - sagte: »Wenn du irgendwann einmal in der Nähe von Wirral Hill bist, schau doch mal auf eine Tasse Tee bei mir rein« - da ging sie hin.
Einige magische Wochen waren verstrichen, mit regelmäßigen Besuchen, dem Gefühl des plötzlichen Erwachsenseins, dem heimlichen Stolz auf ihr Geheimnis und dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber ihren Klassenkameradinnen.
Dann brach die Wirklichkeit herein - die ausgebliebene Periode, die Beunruhigung, die Übelkeit, das unvermeidliche Eingeständnis der Wahrheit. Als sie ihm sagte, sie sei schwanger, weinte er in ihren Armen wie ein verängstigtes Kind, und sie schwor ihm, nie irgendjemandem die Wahrheit zu verraten. Und sie glaubte fest, wenn das Kind auf der Welt und sie von zu Hause ausgezogen wäre, würden sie vielleicht wieder Zusammenkommen.
Jetzt erkannte sie, wie verblendet sie gewesen war, wenn sie geglaubt hatte, dass sie ihm irgendetwas bedeutete - oder dass sie in seinen Augen jemals etwas anderes als ein schrecklicher Fehler gewesen war.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Das kann nicht so weitergehen, weißt du«, sagte Andrew und trat einen Schritt näher an sie heran. »Dieses Rätselraten, dieses Warten darauf, dass die Bombe endlich platzt. Ich kann es nicht länger ertragen.«
»Ich habe es niemandem erzählt!«
»Auch nicht Garnet?«
»Nein. Ich schwör’s!« Doch sie hatte es Garnet gebeichtet, nachdem Winnie sie gedrängt hatte, sich bei ihrer Mutter zu melden - und hatte zu ihrem Entsetzen erfahren, dass Winnie Andrews Schwester war! Winnie war ihr nur mit ihrem Vornamen vorgestellt worden, und es war ihr nie bewusst gewesen, dass es zwischen den beiden eine Verbindung gab.
»Und du hast meiner Schwester nichts gesagt?«
»Ich würde Winnie das nie erzählen!«
»Das hätte ich nicht erwartet« sagte Andrew unbewegt, »dass du dich mit meiner Schwester anfreunden würdest. Hast du gedacht, damit hättest du mich irgendwie in der Hand?« Er schüttelte den Kopf. »Du hättest wissen müssen, dass ich gerade das niemals dulden würde.«
Zu spät erkannte Faith ihren Fehler. Aber wenn sie gelogen hätte, wenn sie behauptet hätte, Winnie wisse Bescheid, hätte das etwas verändert? »Ich habe dich gedeckt. All die Monate hindurch. Ich musste von zu Hause weg, weil mein Dad dich umgebracht hätte, wenn er dahinter gekommen wäre.«
»Das spielt jetzt keine Rolle. Aber meine Schwester... Das musst du verstehen. Winnie darf nie davon erfahren. Ich kann das Risiko nicht länger eingehen. Es tut mir Leid.«
Bevor sie sich rühren konnte, hatte er sich schon auf sie gestürzt und ihr die Hände um den Hals gelegt.
Faith spürte den brennenden Druck seiner Daumen, hörte sein Keuchen ganz dicht an ihrem Ohr. Sie wehrte sich nach Kräften, versuchte seine Hände wegzuziehen, doch es wollte ihr nicht gelingen, seinen Griff zu lockern.
Der erstickende Nebel der Angst hüllte sie ein, und dennoch erkannte sie klar, dass es ihr Ende wäre, wenn sie jetzt das Bewusstsein verlöre. Sie trat nach seinen Knöcheln, doch er umklammerte ihren Hals nur noch fester. Sein Gesicht war eine Fratze der Entschlossenheit, sie erkannte es nicht wieder. Er stieß sie immer weiter zurück, bis sie die Kante des Herdes im Kreuz spürte.
Ihr Blick trübte sich, und leuchtende blaue Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Sie ließ von seinen Händen ab und tastete mit letzter Kraft hinter ihrem Rücken nach irgendetwas, irgendeinem Gegenstand, mit dem sie ihn abwehren konnte.
Ihre Finger schlossen sich um den Griff von Garnets gusseiserner Bratpfanne. Sie hob sie an und nahm verschwommen wahr, dass von dem Gewicht irgendetwas in ihrem Handgelenk riss, dann schlug sie mit aller Gewalt zu.
Der Schlag traf Andrew an der Schläfe.
Sie sah die Verblüffung in seinen Augen aufflackern, dann lockerte sich sein Griff an ihrem Hals, und er sackte zusammen, taumelte rücklings gegen den Tisch. Er griff danach, versuchte sich hochzuziehen, und Faith ließ die Pfanne ein zweites Mal auf ihn niedersausen.
Andrew sank zu Boden.
Faith stand keuchend und zitternd vor ihm. Es war kein Blut zu sehen. Würde er sich wieder auf sie stürzen, sobald sie sich bewegte?
Und dann rang sie nach Luft, als mit einem Mal der Schmerz sie packte, sie vornüber beugte und sie würgte; ein Schwall warmer Flüssigkeit lief an ihren Beinen herunter. Als sie wieder aufrecht stehen konnte, schlich sie sich um Andrews leblose Gestalt herum, wimmernd vor Schmerz und Panik.
Sie musste raus, weg von diesem Haus. Weg von ihm.
Sie taumelte zur Tür hinaus und die Stufen hinunter, rannte durch den strömenden Regen über den matschigen, aufgeweichten Hof zum hinteren Eingang hinaus und weiter den steinigen Abhang des Tor hinauf.
Hinauf. Sie musste dort hinauf. Halb blind vom Regen kämpfte sie sich weiter, rutschte aus, stürzte, rappelte sich wieder auf, immer weiter, auf die uralten, in den Fels gehauenen Konturen zu, das Labyrinth, das zum Gipfel des Tor führte.