Glastonbury ist ein Zugang zum Unsichtbaren... Die lange Straße von London her führt quer durch England von einer Welt in eine andere.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
»Jack!« Mit einem fragenden Lächeln öffnete Fiona Allen die Haustür. »Geht es Winnie schon besser?«
»Sie ist immer noch nicht bei Bewusstsein. Aber ich durfte schon kurz zu ihr, und die Schwester sagt, es sei so weit alles in Ordnung.«
Fiona winkte ihn herein und sagte: »Nehmen Sie doch Platz, ich bringe Ihnen gleich etwas zu trinken.«
Jack ließ sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich die Bartstoppeln. »Nein, danke, ich brauche nichts.« Er war einfach nur dankbar für eine kurze Ruhepause, und allein die Tatsache, dass Fiona Allen so normal war, empfand er schon als angenehm.
Auch das Haus wirkte einladend; die Inneneinrichtung hob sich deutlich von der bescheidenen Seitenfassade und dem adretten Vorgarten ab. Das geräumig wirkende, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer war mit polierten Eichendielen ausgelegt, und die klar geschnittenen Möbel waren mit gebatiktem Baumwollstoff bezogen. Es gab Bücher und einige sorgsam platzierte Holzplastiken und Masken, aber weit und breit war kein Bild zu sehen.
Fiona, die auf einem Rattanhocker Platz genommen hatte, sagte: »Ich habe ein Dutzend Mal im Krankenhaus angerufen, aber sie wollen mir nicht viel verraten. >Den Umständen entsprechend gut< ist ein schrecklicher Euphemismus.«
»Bei Kopfverletzungen sind offenbar keine sicheren Prognosen möglich.« Er versuchte das Bild von Winnie aus seinem Kopf zu verbannen, wie sie reglos in ihrem Krankenhausbett lag. »Ich wollte mit Ihnen sprechen, Fiona - ich wollte wissen, ob Sie mir vielleicht irgendetwas über den gestrigen Abend sagen können. Können Sie sich denken, was Winnie in Ihrer Straße wollte?«
»Das ist allerdings sonderbar, nicht wahr? Sie muss auf dem Weg zu mir gewesen sein. Hier wohnt sonst niemand.«
»Wenn Sie sie nicht gefunden hätten...« Jack brach ab, er schämte sich der Tränen, die ihm plötzlich in die Augen stiegen.
»Aber das ist auch seltsam«, meinte Fiona nachdenklich. »Normalerweise gehe ich so spätabends nicht mehr spazieren. Aber ich hatte gemalt, und ich brauchte die frische Luft.«
»Ein Zufall?«
»Wahrscheinlich. Aber -« Fiona starrte ihn an, doch dann schien sie das Thema wechseln zu wollen. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Sie stand auf und ging voraus in den hinteren Teil des Hauses.
Verblüfft folgte Jack ihr durch den offenen Wohnbereich in einen Flur, wo sie eine Tür öffnete und in ein Atelier mit gläsernen Wänden trat.
Hinter den Glasscheiben fiel das Gelände steil ab, sodass das Zimmer frei über der Talsenke zu schweben schien. Die weidenden Schafe zeichneten sich als weiße Flöckchen vor dem Hintergrund des Grases ab, wie Wolken an einem smaragdfarbenen Himmel auf einem Kindergemälde. An den Wänden lehnten Gemälde, sorgfältig hintereinander aufgestellt, jedoch stets mit der Rückseite zum Betrachter gedreht, ebenso wie das Bild auf der Staffelei. »Wollen Sie nicht, dass man Ihre Bilder sieht?«
»Ich brauche sie nicht zu sehen«, antwortete Fiona schroff.
»Aber dies hier... dieses hier war anders.« Sie drehte das Gemälde auf der Staffelei um.
Jack spürte, wie sein Mund plötzlich trocken wurde. Er hatte die Bilder in Zeitschriften gesehen, und gelegentlich auch im Fenster einer Galerie in Glastonbury, doch jetzt, da er einem von ihnen so direkt gegenüberstand, überwältigte es ihn mit seiner machtvollen Ausstrahlung. »Das sind doch...«
»Sagen Sie jetzt nicht das Wort mit >F<«, warf Fiona ein, als er stockte.
»Das Wort mit >F<?«
»Feen.« Sie blickte finster drein. »Wie Tinker Bell aus Peter Pan. Viktorianischer Kitsch. Alberne, wuschelige Dinger.«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein. Sie... Ich wollte sagen, sie machen mir Angst. Sie erinnern mich an Blakes Visionen. Wunderschön. Und furchtbar.«
»Genau.« Fiona sah ihm in die Augen. »Aber dieses hier - seltsam, aber in den einundzwanzig Jahren, die ich schon in Glastonbury lebe, habe ich noch nie die Abtei gemalt. Warum sollte ich sie also jetzt malen, ausgerechnet an diesem Abend?«
Die Kreaturen, von denen einige Flügel hatten, andere wiederum nicht, drängten sich mit ihren ernsthaften, geschlechtslosen Gesichtern um die vertraute Silhouette der großen Kirchenruine, ihre Hände zu flehenden Gesten erhoben. Hinter ihnen reflektierte die unregelmäßig gesprenkelte Fläche des Himmels die untergehende Sonne, durchbrochen vom dunklen Umriss des Tor.
Fiona wandte sich wieder der Leinwand zu. »Und da war noch etwas anderes. Sie haben für mich gesungen. Ich kann es nicht beschreiben. Es war -« Sie zuckte mit den Achseln. »Es war das Schönste, was ich je gehört habe, und doch zugleich das Traurigste. Ich würde alles darum geben, wenn ich es wiedergeben oder wieder erschaffen könnte, und sei es nur in meinem Kopf - aber ich kann es nicht. Diese Gabe besitze ich nicht.« Aus ihrer Stimme klang tiefes Bedauern.
Jack sagte langsam: »Hat Winnie jemals mit Ihnen über unsere Treffen gesprochen und über das, was wir dort tun?«
»Über das automatische Schreiben? Ein wenig schon.«
»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor?«
Fiona lächelte. »Was bedeutet für mich schon >merkwürdig<? Ich habe mit Merkwürdigkeiten zu tun gehabt, seit ich ein Kind war. Ist die Stimme aus der Vergangenheit, die sich durch Sie ausdrückt, etwa sonderbarer als meine Fähigkeit, Dinge zu sehen, die andere Leute nicht sehen können?«
»Wohl nicht. Wir hatten die ganze Zeit vermutet, dass Edmund aus einem bestimmten Grund mit mir Kontakt aufgenommen hat, aber jetzt glauben wir, dass es etwas mit dem heiligen Choral zu tun haben könnte, der nach der normannischen Eroberung aus der Abtei verbannt wurde.« Er deutete auf ihr Bild. »Es scheint mehr als nur ein Zufall, dass Sie so etwas hier malen und solche Gesänge hören, und das an einem Abend, an dem Winnie Sie überraschend aufsuchen wollte.«
»Wenn sie mich nur vorher angerufen hätte...«
»Wissen Sie von irgendeiner Sache, die sie beschäftigt haben könnte?«
Fiona runzelte die Stirn und fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Bildes. »Ich weiß, dass ihr Andrews Verhalten großen Kummer bereitet hat. Ich nehme an, ein Bruch war wohl unvermeidlich, nachdem Winnie eine so enge Bindung mit einem anderen Menschen eingegangen war - Andrew hatte sich schon zu viele Jahre lang allzu blindlings darauf verlassen, dass sie immer für ihn da sein würde. Ich hätte allerdings nicht erwartet, dass er sich so danebenbenehmen würde.«
»Können Sie sich vorstellen, dass er ihr wehtun würde?«
»Winnie wehtun? Das glaube ich eher nicht.« Fiona klang nicht vollkommen überzeugt. »Aber nach diesem Abend sollten Sie wohl besser die Augen offen halten.«
»Haben Sie gestern Abend irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt - oder irgendjemand gesehen?«
»Ich habe gemalt. Ich hörte noch nicht einmal, wie Bram nach Hause kam. Aber... ich habe inzwischen darüber nach-' gedacht... Da war irgendetwas, kurz bevor ich Winnie gefunden habe... Der ganze Wald schien in Aufruhr... eine Unruhe, als ob eine Gewalttat in der Luft läge.« Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu, dann wandte sie sich ab und blickte in das Tal hinunter, wo die aufziehenden Wolken fliehende Schatten auf das Gras warfen. »Wenn jemand Winnie das angetan hat... haben Sie schon einmal daran gedacht, dass diese Person, nachdem es ihr missglückt ist, einen zweiten Versuch unternehmen könnte?«
Jack sagte sich, dass Winnie gewiss keine Gefahr drohte, solange sie noch im Krankenhaus war; dennoch trat sein Fuß wie von selbst fester auf das Gaspedal.
Er war auf dem Rückweg von Compton Grenville, wo er das Pfarrhaus nach Dingen durchstöbert hatte, mit denen er Winnie Trost zu spenden hoffte. Ihr Lieblingsnachthemd, ihre Haarbürste, ein kleiner CD-Player und CDs mit der Musik, die sie am liebsten hörte.
Im Nu war er wieder in der Ashwell Lane. Er würde sich nur schnell waschen und frische Sachen anziehen und gleich ( wieder auf dem Weg nach Taunton sein.
Er ließ den Wagen in der Einfahrt stehen, schob das Laub, das sich auf der Türschwelle angesammelt hatte, mit dem Fuß beiseite und schloss auf. Das Haus erschien ihm kalt, vernachlässigt; der einzige Willkommensgruß war das blinkende rote Lämpchen des Anrufbeantworters. Er schaltete das Licht in der Küche ein und drückte auf die Abspieltaste.
Faiths Stimme erfüllte den Raum. »Jack, ich habe das mit Winnie gehört. Rufen Sie mich im Café an. Bitte.« Sie klang verzweifelt, als hätte sie geweint.
Besorgt rief Jack das Café an, doch er erreichte nur Buddy, der sich gehetzt anhörte und sagte, er habe Faith nach dem Mittagessen nach Hause geschickt, weil sie sich nicht gut gefühlt habe.
Kaum hatte Jack wieder aufgelegt, da klingelte das Telefon. Erschrocken riss er den Hörer von der Gabel. Schlechte Nachrichten? »Jack, Nick hat mich angerufen und mir von Winifred erzählt«, sagte Simon Fitzstephen. »Das ist ja furchtbar. Wie geht es ihr?«
»Unverändert, soviel ich weiß. Ich bin gerade wieder auf dem Sprung, ins Krankenhaus zu fahren. Simon, könnten Sie etwas für mich tun? Ich mache mir Gedanken um Faith. Sie hat mir eine Nachricht hinterlassen, aber im Bauernhaus kann ich sie nicht erreichen, und ich habe im Moment keine Zeit, selbst hinzufahren.«
»Verdammt, warum hat Garnet auch kein Telefon?«, erwiderte Simon. »Aber ich werde nach dem Mädchen schauen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Jack zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, selbst in Garnets Haus nachzusehen, und dem Bedürfnis, möglichst schnell in Taunton zu sein. Schließlich sagte er: »Einverstanden.« Er würde es Simon überlassen.
Nachdem er das Café verschlossen gefunden hatte, setzte sich Nick wieder auf sein Motorrad und legte den ersten Gang ein, um die steil ansteigende Wellhouse Lane hochzufahren. Wenn Faith sich die Stoßstange von Garnets Lieferwagen nicht ansehen wollte, dann würde er es eben selbst tun, und dann würde er ihr zeigen, was er entdeckt hatte. Er würde sie zwingen, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Aber als er das Bauernhaus erreichte, musste er frustriert feststellen, dass der Hof bereits ganz im Schatten lag. Der Lieferwagen war in Garnets schummriger Werkstatt untergestellt, und da sie vorwärts eingeparkt hatte, konnte er die vordere Stoßstange ohne Taschenlampe unmöglich untersuchen. Also gut, dann würde er eben noch einmal mit Faith reden. Er musste an ihre Vernunft appellieren, dann würde er sie sicher überzeugen können.
Als das Knattern des Motors verhallt war, lag der Hof vollkommen still da, bis auf das Zwitschern eines Schwarms Amseln, die darüber hinwegflogen. Eine buttergelbe Katze lag zusammengerollt an der Türschwelle, so als habe sie es aufgegeben, um Einlass zu bitten. Als Nick die Stufen hochging und an die Tür klopfte, warf ihm die Katze einen bösen Blick zu und schlich davon.
Es kam keine Antwort, doch durch den Vorhang des Küchenfensters konnte er den Schein einer Öllampe sehen. Er klopfte erneut.
Die Tür ging auf, und Garnet Todd starrte ihn wortlos an.
»Ich möchte zu Faith«, sagte Nick.
»Sie ist nicht hier.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Ich sage Ihnen doch, sie ist nicht hier.« Garnet wollte die Tür wieder schließen.
Nick trat einen Schritt vor und stemmte sich mit der Schulter dagegen. »Wo soll sie denn sonst sein? Das Café ist geschlossen, und sonst geht sie doch nirgendwo hin, hab ich Recht? Sie können mich nicht daran hindern, sie zu sehen.«
»Sie haben kein Recht, hier einzudringen. Das hier ist mein Haus«, protestierte Garnet, doch sie wich einen Schritt zurück.
Sein kleiner Triumph ließ Nicks Zorn nur noch weiter anschwellen. Wieso hatte er es zugelassen, dass diese Hexe ihn - und auch Faith - so lange tyrannisierte? »Was wollen Sie denn tun, vielleicht die Polizei rufen? Sie haben ja gar kein Telefon.« Ein weiterer Schritt, und er war im Haus. Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und sah sich in der Küche um. Als er keine Spur von Faith entdecken konnte, rief er ihren Namen.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, sie ist nicht hier.«
»Wo ist sie denn?«
»Ich weiß es nicht!« In Garnets Stimme schwang ein Anflug von Panik. »Als ich sie von der Arbeit abholen wollte, war sie schon weg, und sie ist seitdem nicht nach Hause gekommen.«
»Sind Sie sicher, dass sie nicht hier im Haus ist?«
»Dann suchen Sie doch nach ihr, wenn Sie mir schon nicht glauben wollen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte Nick sich um und verließ die Küche, aber kaum stand er im Flur, als ihm die Torheit seines Unterfangens klar wurde. Das Haus hatte keinen Strom, und die Dunkelheit war schon hereingebrochen. Nun, er würde den Teufel tun, Garnet um eine Kerze oder eine Laterne zu bitten - er musste sich eben so gut es ging in der Dunkelheit zurecht finden.
Zuerst das Erdgeschoss. Durch den dunklen Flur gelangte er in die vordere Wohnstube, einen muffig riechenden, wenig benutzten Raum, der mit abgenutzten Möbeln voll gestopft war. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass hier vor kurzem noch jemand gewesen war.
Als Nächstes kam das Zimmer, das Garnet als Büro diente; es enthielt einen Rollschreibtisch und einige altmodische hölzerne Aktenschränke. In einer Glasvitrine an der gegenüberliegenden Wand war eine verstaubte Sammlung von Vogelnestern und Muscheln zu sehen.
Er kehrte in den Flur zurück und stieß unter der Treppe auf das ungeheizte, primitive Bad. Im Dämmerlicht konnte er auf dem Regal neben der Wanne eine Flasche Shampoo ausmachen - sie gehörte Faith. Er schraubte sie auf und roch daran, und der Birnenduft ließ ihn ihre Gegenwart so intensiv empfinden, als stünde sie direkt neben ihm.
Und wenn sie nun tatsächlich nach Hause gegangen war und Garnet wegen Winnies Unfall zur Rede gestellt hatte? Würde Garnet sie zum Schweigen gebracht haben?
Doch aus Garnets Beteuerung, dass Faith nicht ins Haus zurückgekommen sei, hatte er echte Angst herausgehört - und wenn sie die Wahrheit sagte, wo konnte Faith dann bloß hingegangen sein?
Heim zu ihren Eltern nach Street? Nicht sehr wahrscheinlich. Oder - und das war der Dorn, der Nick immer noch im Fleisch saß - war sie zu dem mysteriösen Vater des Kindes gegangen? So wenig hatte Faith in den vergangenen Monaten über ihn verraten, dass das Baby ebenso gut das Resultat einer unbefleckten Empfängnis hätte sein können. Aber war es möglich, dass Faith sich genötigt gesehen hatte, den Vater ausfindig zu machen?
Von den wildesten Vermutungen getrieben, eilte Nick die gerade Treppe zum Obergeschoss hinauf. Zuerst sah er in dem Schlafzimmer zur Linken nach, das unschwer als das von Garnet zu erkennen war. In einem offenen Schrank hingen ihre indischen Kleider, und auf einer Frisierkommode stand inmitten einer Ansammlung von Kämmen, Bürsten und Haarspangen eine hübsche Öllampe aus ziseliertem Glas. Mit einem der Streichhölzer, die er immer für die Kerzen in der Buchhandlung bei sich trug, zündete Nick die Lampe an. Schatten begannen über Wände und Decke zu tanzen, und das Licht fiel auf ein geschnitztes Himmelbett, das mit einer Spitzendecke bezogen war. Nick fragte sich unwillkürlich, ob Garnet es wohl je mit einem anderen Menschen geteilt hatte.
Mit der Lampe in der Hand ging er in das Schlafzimmer auf der rechten Seite. Dieser Raum enthielt wenig mehr als ein schmales eisernes Bettgestell, neben dem ein schlichter Kiefernholztisch stand. Faiths wenige Kleider hingen an Haken an der Wand. Ein weißes Nachthemd lag ordentlich gefaltet auf der Bettdecke, und am Kopfkissen lehnte ein zerschlissenes Plüschkaninchen. Auf dem Nachttisch lag das Buch, das er ihr geschenkt hatte, T. H. Whites Der König auf Camelot. Nichts in dem Raum verriet, wohin sie gegangen sein mochte.
Er stellte die Lampe in das andere Schlafzimmer zurück und ging wieder nach unten in die Küche. Garnet saß in dem Lehnstuhl neben dem Holzofen und schaukelte langsam vor und zurück, doch ihre Fingerknöchel waren weiß, so fest hielt sie die Armlehnen umklammert.
»Zufrieden?«, wollte sie wissen.
»Ich werde sie finden. Und sollte ihr irgendetwas zugestoßen sein...«
Ohne die Drohung auszusprechen, öffnete Nick die Tür und verließ das Haus.
Die Kreaturen der Nacht begannen sich bereits zu regen und kamen aus ihren Höhlen hervorgekrochen, doch Faith lag reglos da, zusammengerollt in einem Nest aus Laub im Schutz der Hecke. Dann schrie ein Nachtvogel ganz in der Nähe, und sie wachte auf, ohne zunächst irgendetwas anderes wahrzunehmen als die Kälte und die Steifheit ihrer Glieder. Als sie eine Bewegung machte, kratzte ein Zweig sie im Gesicht, und die Erinnerung flutete zurück.
Auf Buddys Drängen hatte sie früher Feierabend gemacht. Ein Gast nahm sie im Auto mit und setzte sie am Eingang des Bauernhofs ab. Faith sah, dass Garnet zu Hause war - der Lieferwagen stand im Hof, mit schlammverkrusteten Reifen.
Sie hatte nicht nachsehen wollen. Aber auf dem Weg zum Haus musste sie an dem Wagen Vorbeigehen, und bevor sie sich noch zurückhalten konnte, hatte sie sich schon umgedreht und hingeschaut. Der Kotflügel war ganz verschmiert, mit einem länglichen Schmutzfleck, der von der Kollision mit einem großen, massiven Gegenstand verursacht sein konnte - einem menschlichen Körper?
O Gott! Sie fühlte, wie eine Welle von Übelkeit in ihr aufstieg. Nick konnte doch nicht etwa Recht haben - das war einfach unmöglich. Aber warum hatte sich Garnet so merkwürdig benommen, als sie am Abend zuvor nach Hause gekommen war? Und die ganze Zeit über hatte Winnie dort draußen gelegen, schwer verletzt und bewusstlos...
Faith musste mit den Tränen kämpfen. Garnet hatte so viel für sie getan... Wie konnte sie auch nur denken, dass sie zu so etwas Furchtbarem fähig sein könnte? Aber wenn Nick - wenn er nun richtig lag? Sie wurde plötzlich von Angst gepackt. Sie konnte nicht ins Haus gehen - konnte Garnet nicht gegenübertreten. Noch nicht. Sie musste nachdenken.
Sie drehte sich um und trat wieder hinaus auf die Straße. Magisch angezogen vom Tor, begann sie bergauf zu gehen. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie einen Schmerz verspürte, der vom Becken aus in ihre Bauchhöhle ausstrahlte. Doch sie ignorierte ihn und beschleunigte ihren Schritt. Die Sonne hing jetzt wie ein riesiger roter Ball über dem Horizont, und wenn sie sich nicht beeilte, würde sie den Anstieg im Dunkeln bewältigen müssen. Sie spürte, dass ihr die Zeit davonlief; sie wusste, dass sie den Gipfel des Tor erreichen musste, wenn sie auch den Grund nicht in Worte fassen konnte. Und dann, als sie schon den nördlichen Fußweg erblickte, erfasste ein Krampf ihren Körper, und von Schmerz und Überraschung überwältigt, krümmte sie sich zusammen.
Schwer atmend hielt sie inne, machte noch einen Schritt und blieb erneut stehen. Die Schmerzen wurden schlimmer, sie erdrückten sie fast. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten - sie musste eine Pause machen, damit die Schmerzen nachließen. Dann würde sie weitergehen.
Dann hatte sie sich umgesehen und das Loch in der Hecke entdeckt. Es war gerade groß genug, um sie aufzunehmen, und kaum war sie hineingekrochen, da war sie auch schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen.
Jetzt, da sie vollständig wach war, legte sie die Hände auf ihren Bauch und spürte die leisen, flatternden Bewegungen des Kindes, das sich in ihr drehte. Die Schmerzen waren verschwunden, und sie stellte fest, dass mit ihnen auch die Kraft, die sie angetrieben hatte, sich zerstreut hatte. Zwar nahm sie noch wahr, wie sie schwach an den Rändern ihres Bewusstseins zerrte, doch war sie nicht so stark wie ihr Wunsch, nach Hause zu gehen. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte.
Sie konnte Garnet nicht verraten, ohne ihr eine Chance zu geben, sich zu rechtfertigen.
Vorsichtig kroch sie aus der Hecke hervor und blickte nach oben; ihre Augen brauchten einige Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Himmel war bedeckt, es waren keine Sterne zu sehen, und sie konnte sich nur an der tieferen Schwärze der Hecken orientieren. Langsam begann sie ihren Abstieg ins Tal und hielt dabei Ausschau nach dem Licht der Öllampen, das ihr die Position des Bauernhauses bezeichnen würde.
Aber es war der weiße Umriss der Pforte, den sie zuerst erblickte. Erst dann konnte sie das Haus als dunkleren Fleck vor dem Abhang des Tor ausmachen. Von Garnets Lieferwagen war im ganzen Hof nichts zu sehen, und als Faith durch die unverschlossene Hintertür ins Haus trat, kamen ihr nur die Katzen entgegen, um sie zu begrüßen.
Als Jack das Krankenhaus erreichte, war es schon völlig dunkel. Er eilte über den Parkplatz, den Kopf gesenkt, um sich vor dem feuchten, kalten Wind zu schützen. Dass er nichts von Maggie gehört hatte, so beruhigte er sich, bedeutete gewiss, dass Winnies Zustand weiterhin stabil war.
Doch der erste Mensch, den er sah, als er in den Wartebereich der Intensivstation eintrat, war Andrew Catesby. Er saß auf einem Stuhl und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
»Andrew«, sagte Jack laut. »Was ist los? Wie geht es ihr?«
Andrew blickte auf und ließ offenbar widerstrebend die Hände sinken. »Ich weiß es nicht. Sie wollen mir nichts sagen.«
Jack schluckte - nur mit Anstrengung konnte er die aufsteigende Panik unterdrücken. »Haben Sie sie gesehen?«
»Nein. Ich -« Andrew schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht ertragen.« Er stand auf, und als ihre Augen auf gleicher Höhe waren, stellte Jack fest, dass Andrew sehr blass und mitgenommen aussah, so als sei er vollkommen erschöpft. Von dem jungenhaften Charme, den Jack in Gegenwart von Suzanne und Fiona an ihm bemerkt hatte, war nichts übrig geblieben.
»Ich bin schon seit Stunden hier«, fuhr Andrew fort. »Suzanne ist hier gewesen und Simon Fitzstephen und der Bischof. Sie haben alle nach Ihnen gefragt, als ob Winnies Leben von Ihrer Anwesenheit abhinge. Aber ich kenne die Wahrheit.« Er fuchtelte mit einem anklagenden Zeigefinger vor Jacks Gesicht herum. »Ohne Sie wäre sie überhaupt nicht hier. Sie mit Ihren durchgedrehten Ideen und Ihren durchgedrehten Freunden - Sie haben ihr das angetan. Wir waren glücklich und zufrieden, bevor Sie aufgekreuzt sind. Wir hatten ein schönes Leben. Und jetzt - jetzt wird nichts mehr so sein wie früher. Vielleicht wäre es besser für sie, wenn sie tot wäre.«
»Andrew! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Kann es nicht?« Andrew machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Pendeltür.
Jack starrte ihm hinterher. Der Mann war vollkommen verrückt.
Geschockt läutete er am Eingang der Intensivstation. Es war nicht Maggie, die auf sein Klingeln öffnete, sondern eine ältere, stämmige Krankenschwester, deren Namensschild sie als »Joan« identifizierte.
»Sind Sie wegen Winnie hier?«, fragte sie.
»Wie geht es ihr?«
»Ihr Herz macht immer noch ein paar Zicken, und dadurch ist ihr Blutdruck ziemlich abgefallen.«
»Aber sie wird doch wieder? Kann ich zu ihr?«
»Sieht so aus, als hätten wir sie vorläufig wieder stabil gekriegt.« Joan warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann sagte sie freundlich: »Fünfzehn Minuten. Aber dann fliegen Sie raus.«
Jack ließ sich behutsam auf den Stuhl an Winnies Bett nieder und nahm ihre Hand. Er hatte den Eindruck, dass sie sich kälter anfühlte als am Morgen. Leise redete er auf Winnie ein, während er die zarte Haut an der Innenseite ihres Handgelenks streichelte; er erzählte ihr von seinem Tag und von seinem Besuch bei Fiona. »Du hast jede Menge Besuch gehabt«, fuhr er fort, »und Andrew war auch hier, als ich -«
Bildete er sich das nur ein, oder hatten ihre Finger sich wirklich bewegt? Er packte ihre Hand fester und starrte in ihr Gesicht. Da! Ganz gewiss hatten ihre Augenlider gezuckt, und ebenso unzweifelhaft hatte er eine minimale Veränderung in der Art bemerkt, wie sie atmete.
»Schwester!«, rief er, und Joan kam sofort hinter der Abtrennung hervor.
»Ich habe ihr etwas erzählt - und ich glaube, sie hat die Hand bewegt und mit den Lidern gezuckt.«
»Gut! Das ist sehr gut«, sagte Joan, während sie die Monitore beobachtete. »Sie weiß, dass Sie hier sind, und sie möchte antworten. Sie ist bloß noch nicht voll da.« Die Schwester musterte Jack mit fachmännischem Blick. »Und Sie sind ziemlich fertig, würde ich sagen. Warum gehen Sie nicht in die Kantine und sehen zu, dass Sie etwas in den Magen kriegen, und danach schauen Sie dann noch mal kurz vorbei. Sind das Winnies Sachen, die Sie da mitgebracht haben?« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Tasche, die neben Jacks Stuhl stand.
Joan half ihm, den kleinen CD-Player neben dem Bett aufzubauen, und als er ging, hörte er die Anfangsakkorde von Palestrinas Agnus Dei, das er ausgesucht hatte - eines von Winnies Lieblingsstücken.
In der Kantine verzehrte er mechanisch sein Sandwich. Andrew Catesbys Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn. Warum sollte Andrew glauben, dass jemand, den Winnie durch Jack kennen gelernt hatte, ihr schaden wollte? Und wie konnte er nur behaupten, es sei besser für Winnie, tot zu sein als mit Jack zusammen? Waren Andrews Gefühle seiner Schwester gegenüber etwa noch verquerer, als er vermutet hatte?
Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf. War es vielleicht gar nicht seine Stimme gewesen, die vor wenigen Minuten Winnies schwache Reaktion ausgelöst hatte, sondern die Erwähnung von Andrews Namen?
Jack... Jacks Stimme... tief, sanft, ein Strom von Lauten... Er sagte ihr - nein, sie hatte es wieder verloren. Sie versuchte zu sprechen, ihm zu sagen, dass sie ihn verstanden hatte, aber es war, als läge sie am Boden eines tiefen Brunnens... Sie konnte die Oberfläche nicht erreichen. Ihre schweren Glieder gehorchten ihr nicht. Oder gehörten sie jemand anderem? Da war ein Licht... Irgendwie wusste sie das. War sie tot?
Aber da waren auch Schmerzen. Ihre Schmerzen, da war sie sich sicher, wenn sie auch weit weg waren, als hätten sie gar nichts mit ihr zu tun. Also doch nicht tot.
Aber wo war sie? Und wie war sie hierher gekommen?
Andrew - es hatte etwas mit Andrew zu tun. Irgendetwas Schlimmes, das mit Andrew zusammenhing. Etwas Bestimmtes, das sie tun musste...
Müde... Zu müde... Jacks Stimme wurde immer leiser, verlosch ganz, und sie trieb wieder davon, losgelöst... nur dass sie noch, wie aus großer Entfernung, Stimmen hörte, die sangen.
Kaum hatte er die Lichter von Taunton hinter sich gelassen, da wurde Jack klar, dass er zu erschöpft war, um noch sicher fahren zu können. Er hätte sich in der Nähe des Krankenhauses ein Hotelzimmer nehmen und über Nacht dort bleiben sollen, doch die Energie zum Umkehren konnte er nicht aufbringen.
Alle seine Sinne schienen geschärft, extrem empfindlich, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos erschienen ihm unnatürlich hell. Er musste blinzeln - und einmal sogar die Augen zusammenkneifen, was ihm einen solchen Schrecken einjagte, dass er den Rest der Strecke mit weit aufgerissenen Augen fuhr und das Lenkrad fest umklammert hielt.
Als er in seine Einfahrt einbog, streifte der Lichtkegel seiner Scheinwerfer etwas Weißes unter dem Vordach. Es dauerte einen Augenblick, bis er registrierte, dass es ein menschliches Gesicht gewesen war. Nichts Gutes ahnend, stieg er aus und rief: »Hallo?«
Als Antwort vernahm er den Hauch eines Lautes, möglicherweise ein leises Wimmern. Mit wachsender Befremdung trat er näher. Er musste niederknien, bevor er das zusammengekauerte Bündel auf seiner Türschwelle sicher identifizieren konnte.
»Faith?«
»Ich habe nichts verraten«, flüsterte sie erregt; ihre Zähne klapperten. »Aber sie - sie hat mich allein gelassen... das hätte sie nicht tun sollen... Ich hätte doch nichts gesagt.«
Jack berührte ihre Wange. Das Mädchen glühte vor Fieber.
»Wer hat dich allein gelassen?«
»Sie geht sonst nie weg, nicht so spät am Abend, nicht mit dem Lieferwagen... Ich habe nichts verraten, oder?« Sie blickte flehend zu ihm auf.
Er half ihr auf die Beine und drückte das zitternde Mädchen an seine Brust. »Natürlich nicht. Jetzt müssen wir dich ins Haus schaffen und einen Arzt rufen -«
Faith machte einen schwachen Versuch, sich von ihm zu lösen. »Sie müssen sie finden, bevor es zu spät ist -«
»Wen denn, Faith?«
»Garnet. Sie haben sie geholt.«
»Wer hat sie geholt?«
Mit sichtlicher Anstrengung blickte sie um sich, als habe sie Angst, dass jemand mithören könnte. Dann schmiegte sie ihr Gesicht an seine Brust und flüsterte: »Die Alten. Aber eigentlich wollten sie mich.«