Der einzige Prüfstein liegt in der Qualität der Botschaft; ist sie wahrhaftig oder nicht, ist sie erbaulich oder entbehrt sie jeglicher hilfreicher Eigenschaften?
Frederick Bligh Bond, aus: Das Tor der Erinnerung
Das Leben, dachte Winifred Catesby, hat die Eigenschaft, dir eine klassische Rechts-Links-Kombination zu verpassen, wenn du es am wenigsten erwartest. Sie war sechsunddreißig Jahre alt und ledig - und es war mindestens ein Jahrzehnt her, dass sie zuletzt ernsthaft überlegt hatte, an diesem Zustand etwas zu ändern. Zwar durften anglikanische Geistliche heiraten, aber kaum ein Mann war gewillt, neben Gott die zweite Geige zu spielen oder überhaupt hinter den Anforderungen ihres Berufs zurückzustehen. Und da Winifred nicht schön war und kein Talent zum Flirten besaß, war sie der Meinung gewesen, sie habe sich recht gut mit ihrer zölibatären Lebensweise und dem geruhsamen Trott abgefunden, in den sie mit ihrem Bruder Andrew verfallen war.
Und dann hatte sie auf einmal neben Jack Montfort im Chorgestühl der Kathedrale von Wells gesessen, und seitdem war nichts mehr so wie vorher.
An diesem Juniabend waren sie zum Abendessen im Cafe Galatea in der High Street verabredet, einem netten Restaurant mit ausgeprägter Hippie-Atmosphäre und überraschend guter Küche. Jack zog sie zwar gerne ein wenig auf wegen des vegetarischen Essens, das er als »Vogelfutter« bezeichnete, aber dennoch war dieses Café zu ihrem regelmäßigen Treffpunkt nach der Arbeit geworden.
Während sie den Wagen vor dem Kreisverkehr an der Street Road langsam ausrollen ließ, inspizierte sie sich noch rasch im Rückspiegel. Haare o.k., Lippenstift o.k., Nase könnte durchaus etwas klassischer sein... Ach was, es passte schon alles, genau wie ihr zweckmäßiges Kostüm aus Rock und Pullover und ihr Priesterkragen.
Sie kam direkt von einem Termin mit der Erzdiakonin, und sie war spät dran. Der Tag war noch strapaziöser gewesen als gewöhnlich, denn sie hatte ihren Terminkalender umstellen müssen, um die Verpflichtungen von zwei Pfarrern zu übernehmen, die verreist waren. Aber sie konnte sich glücklich schätzen, dass man sie, jung wie sie war und zudem noch als Frau, zur Provinzdekanin ernannt hatte, zusätzlich zu den Aufgaben, die sie in ihrer eigenen Pfarrei St. Mary’s zu erfüllen hatte. Das sagte sie sich, wenn sie wieder einmal versucht war, über ihr Los zu jammern.
Sie verlangsamte die Fahrt, als sie an der Abtei vorbeikam, und warf einen Blick durch das schmiedeeiserne Tor auf die Anlagen. Als Kind hatte sie eine heimliche Neigung zum Klosterleben verspürt, und auch heute noch empfand sie ein seltsames Gefühl von Ruhe und Frieden, wann immer sie die Luft der Abtei atmete. Waren die Pilger zu Tausenden gekommen, weil sie auf Ablass und Rettung ihrer Seelen hofften oder weil sie dem Paradies auf Erden vielleicht niemals näher kommen konnten als durch den Anblick der Abtei?
Sie bog in die High Street ein und hatte das Glück, ein paar Häuser weiter vom Galatea einen Parkplatz zu finden. Sie lenkte den Fiat in die Lücke und ging die paar Schritte zum Café zurück. Bevor sie eintrat, warf sie einen Blick durchs Fenster.
Die Eingangstür stand offen, um die frische Luft hereinzulassen. Jack saß an ihrem gewohnten Tisch etwas weiter hinten im Lokal und war in irgendeine Lektüre vertieft. Winnie nutzte die Gelegenheit, um ihn einen Augenblick ungestört anzusehen, und sie bemühte sich, ihn unvoreingenommen zu betrachten. Er war ein großer, stämmiger Mann mit einem blonden Haarschopf, markigen Gesichtszügen und einer Hakennase, und er hatte die durchdringendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Er hätte Rugbyspieler sein können - ganz bestimmt war er nicht der schmächtige Landpfarrer-Typ, den sie immer attraktiv gefunden hatte. Bei dem Gedanken musste sie lächeln, und genau in diesem Moment blickte Jack auf und entdeckte sie.
Als sie am Tisch ankam, hatte er seine Papiere bereits beiseite geräumt. »War wohl ein langer Tag?«, meinte er und gab ihr einen raschen Kuss. »Du siehst ein bisschen kaputt aus. Ich habe uns schon mal Wein bestellt.«
»Du bist ein Schatz«, entgegnete sie und ließ sich mit einem Seufzer auf ihren Stuhl sinken, während er ihr aus der Burgunderflasche einschenkte, die bereits entkorkt auf dem Tisch stand. »Es wurde heute ein bisschen mehr als sonst gezankt und gekabbelt in der Kapitelsitzung.«
Jack betrachtete sie mit diesem intensiven Blick, der sie immer noch leicht aus der Fassung bringen konnte. »Das sehe ich. Du hast wieder diesen angespannten Ausdruck um die Augen herum.«
Sie nahm einen Schluck von dem Wein, ließ ihn genüsslich über ihre Zunge rollen und deutete dann auf seine Aktentasche: »Arbeit?«
»Mmmmmh«, antwortete er unbestimmt. »Hungrig?«
»Wie ein Bär. Das macht die frische Luft.«
»Erzähl mir nicht, dass du mit diesem schrecklichen Rad gekommen bist.«
»Nein, leider nicht. Der Tag wäre ideal gewesen dafür, aber ich musste zu weit rausfahren.« Sie lagen in einer Art Dauerclinch wegen ihres Fahrrads, das er als eine Gefahr für Leib und Leben betrachtete. Aber sie liebte den alten Drahtesel, und nach ihrer Londoner Zeit genoss sie das Gefühl der Freiheit, wenn sie damit ihre täglichen Runden drehte. Es kam aber auch vor, dass das Wetter oder die Entfernungen, die sie zurücklegen musste, sie dazu zwangen, den praktischen kleinen Fiat zu benutzen, den man ihr als Dienstwagen zur Verfügung gestellt hatte. Jetzt funkelte sie ihn mit gespielter Empörung an. »Ich habe nicht die Absicht, darauf zu verzichten, ist das klar? Und wenn du noch so viel rumnörgelst.«
»Dann sorgen wir besser mal dafür, dass du zu Kräften kommst«, erwiderte er spöttisch, während die Bedienung sich ihrem Tisch näherte.
Beim Essen plauderten sie entspannt und erzählten einander, wie ihr Tag gewesen war, doch Winnie spürte schon bald, dass Jack nicht ganz bei der Sache war, wenn er sich auch Mühe gab, es zu verbergen. Während er wartete, bis sie fertig gegessen hatte, verfiel er in Schweigen, und sie wurde plötzlich von der Furcht gepackt, er könne ihrer überdrüssig sein und es nur nicht fertig bringen, es ihr zu sagen.
Nun, wenn es so war, dann hatte es auch keinen Sinn, die Sache aufzuschieben, ermahnte sie sich. Sie klammerte sich am Stiel ihres Weinglases fest und fragte ihn: »Jack, stimmt irgendwas nicht?«
Er sah sie verblüfft an; sein Blick wanderte zu der Aktenmappe, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Er runzelte die Stirn. Nachdem er noch einen Augenblick gezögert hatte, antwortete er: »Nein. Ja. Ich weiß nicht. Es gibt da etwas, was ich dir noch nicht gesagt habe.«
Winnies Herz krampfte sich zusammen; sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Jack jedoch schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken. »In den letzten Monaten ist etwas ganz Merkwürdiges mit mir passiert, Winnie, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich habe dir nichts davon gesagt, weil... nun ja, ich befürchtete, du würdest mich für ein bisschen übergeschnappt halten. Und ich hatte auch das Gefühl, wenn ich dir davon erzählte, dann würde das der Sache eine Glaubwürdigkeit verleihen, die ich ihr nicht zubilligen wollte.«
»Wovon redest du überhaupt?«, fragte Winnie, die jetzt vollkommen verwirrt war.
»Ich schätze, du bekommst so allerhand verqueres Zeug zu hören...«
»Meistens ganz gewöhnliche Dinge. Die Leute machen sich Sorgen wegen ihrer Angehörigen, wegen Krankheiten, Schulden ... Jack, bist du in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Nichts dergleichen. Obwohl das es vielleicht leichter machen würde.« Er zögerte noch einen Moment, griff dann nach seiner Aktentasche und nahm ein Blatt Papier heraus. »Lies das.«
Neugierig nahm sie das Blatt. Es war ein ganz gewöhnlicher Bogen Schreibpapier. Darauf standen einige lateinische Sätze in einer kleinen, winkligen Handschrift. Darunter waren einige Satzfragmente auf Englisch geschrieben, und sie erkannte sofort Jacks Handschrift.
Des Nachts leuchteten die Kerzen in den Fenstern der großen Kirche wie die Sterne des Himmels... Der Klang unserer Stimmen hallte von Gewölbe und Kreuzgang wider... aus den Wasserspeiern tönte das Lob unseres Herrn. Ihr wisset dies... Was verborgen war, muss... ans Licht. Aus einem Gedanken wird die Wahrheit hervorgehen. Fürchtet euch nicht...
»Was ist das?«, fragte sie und sah Jack an. »Übersetzt du vielleicht irgendetwas?«
»So könnte man es sagen. Nur dass ich es selbst geschrieben habe. Beide Teile.«
»Du hast den lateinischen Text geschrieben? Aber das ist doch nicht deine Handschrift. Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Er beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und schob das Weinglas beiseite. »Als es anfing, die ersten paar Male, da war ich mir dessen überhaupt nicht bewusst - ich musste einfach annehmen, dass ich das geschrieben hatte, weil es keine andere Erklärung gab. Danach musste ich erst mal ein paar kräftige Schlucke nehmen, das kann ich dir sagen. Aber jetzt... ganz besonders heute - bei dem hier« - er tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt -, »da ist es, als ob ich mich zwar selbst aus der Ferne beobachte, aber ich habe das Gefühl, gar nichts mit dem zu tun zu haben, was da geschieht.«
»Aber du verstehst doch, was du schreibst -«
»Nein. Erst hinterher. Und dann habe ich immer noch meine liebe Mühe mit der Übersetzung.«
Winnie starrte ihn an. »Aber du kannst es doch ganz bestimmt steuern, wenn du willst -«
»Auf den Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen. Du denkst doch, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin, nicht wahr? Ich sehe es an deinem Gesicht.«
Sie gab sich Mühe, sich zusammenzunehmen. »Nein, ich... natürlich denke ich das nicht. Aber du solltest zum Arzt gehen und dich gründlich untersuchen lassen. Vielleicht ist da irgendetwas -«
»Ein Gehirntumor?« Er schüttelte den Kopf. »Keine sonstigen Symptome. Ich konnte auch keine Anzeichen für irgendwelche anderen körperlichen Leiden entdecken. Glaub mir, ich hab’s versucht.«
»Aber dann -«
»Es ist wohl möglich, dass ich eine Art Nervenzusammenbruch erlitten habe, aber ansonsten scheine ich doch ganz gut klarzukommen. Findest du nicht?«
»Natürlich«, beeilte sich Winnie ihm zu versichern. Er wirkte so normal und im Vollbesitz seiner Kräfte wie nur irgendjemand, dem sie je begegnet war, und das machte seine Geschichte nur umso verstörender.
»Gut. Das ist immerhin etwas«, meinte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Nachdem ich körperliche Erkrankungen ausgeschlossen hatte, begann ich mit meinen Nachforschungen. Es gibt da Parallelen zu gewissen Ereignissen in der Vergangenheit.«
Winnie bemerkte, dass sie immer noch ihr Weinglas umklammert hielt. Sie entspannte ihre Finger und nahm einen Schluck. Sie zwang sich zu schweigen, denn sie wollte ihn die Geschichte in seinen Worten schildern lassen.
»Sagt dir der Name Frederick Bligh Bond etwas?«
»Hatte er nicht irgendetwas mit der Abtei zu tun? Tut mir Leid, mehr fällt mir dazu nicht ein.«
»Bond war Architekt, genau wie ich, und eine Kapazität auf dem Gebiet der frühen Kirchenarchitektur. Aber er war auch Amateurarchäologe, und als die Kirche von England 1907 die Abtei ihren privaten Eigentümern abkaufte, erhielt er den Auftrag, die Ausgrabungen auf dem Ruinengelände durchzuführen. Er machte einige fantastische Entdeckungen; so war er es zum Beispiel, der die Edgarskapelle freilegte. Das war alles ganz seriös, ganz korrekt; aber dann, mehrere Jahre nach dem Beginn der Ausgrabungen, verkündete er plötzlich, dass er seine Funde den Instruktionen von Mönchen der Abtei verdankte - und dass die Mönche auf dem Wege des automatischen Schreibens mit ihm kommuniziert hätten. Er wurde gefeuert, sein Ruf war ruiniert, und er hat sich nie mehr von dem Rückschlag erholt.«
»Aber wenn er mit der Geschichte der Abtei vertraut war, dann hat er doch höchstwahrscheinlich nur aus seinem eigenen Unterbewusstsein geschöpft«, protestierte Winnie.
»Bond selbst hat komischerweise nie etwas anderes behauptet. Er glaubte, das individuelle Bewusstsein sei nur ein Teil eines transzendenten Ganzen - eines kosmischen Gedächtnisses -, und dass es in der Macht jedes Einzelnen stehe, die Pforte zu jener Realität aufzustoßen. Zu der Zeit gab es in Glastonbury eine spirituelle Erweckungsbewegung, insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Alle möglichen Größen wurden davon angezogen - Yeats, Shaw - Dorothy Sayers hat sogar an einer von Bonds Sitzungen teilgenommen. Das generelle Klima war also günstig für Bonds Ideen.«
»Er glaubte also, sowohl dieses kollektive Gedächtnis als auch sein eigenes Unterbewusstsein anzuzapfen?«
»Aufgeschrieben hat die Botschaften ein Freund Bonds, ein gewisser Captain John Bartlett, aber Bartlett wusste sehr wenig über die Abtei und hatte auch kaum Ahnung von Archäologie -«
»Aber Bond hat ihm doch sicherlich die Stichworte geliefert?«
»Bond stellte ganz spezifische Fragen«, korrigierte Jack. »Anfangs ist das automatische Schreiben bei Bartlett spontan aufgetreten; dann regte Bond an, dass diese... Übertragung... auf bestimmte Weise gesteuert werden könnte. Aber sehr oft bekamen sie vollkommen unerwartete Ergebnisse.«
Jacks blaue Augen strahlten vor leidenschaftlicher Erregung, und plötzlich kam Winnie ein Gedanke, der sie erschauern ließ. Er hatte nie über seine verstorbene Frau gesprochen - sie hatte nur gehört, was man sich in der Stadt erzählte, dass seine Frau bei der Geburt ihres Kindes gestorben sei, ebenso wie ihr neugeborenes Mädchen, und zwar nur wenige Monate nachdem Jack seine Mutter durch eine lange Krankheit und seinen Vater durch einen Herzinfarkt verloren hatte. »Jack... Du denkst doch nicht, dass du... diese Sache steuern kannst? Dass du... mit Emily... Kontakt aufnehmen könntest?«
Er blickte sie unverwandt an. »Ich hatte daran gedacht«, antwortete er schließlich. »Und ich muss gestehen, dass die Vorstellung, die Toten könnten vielleicht... gar nicht so weit weg sein, etwas... Tröstliches hat. Aber so einfach ist es nicht, Winnie. Ich glaube, dass es nicht so sehr darum geht, was ich von ihm will, sondern vielmehr darum, was er von mir will.«
»Er?«
»Es scheint sich um einen >Er< zu handeln. >Edmund<, ein Mönch der Abtei von Glastonbury. Allerdings ist es mir nicht gelungen, die Zeit genau einzugrenzen.«
»Deshalb hast du dich so für Simon Fitzstephen interessiert!«, rief Winnie.
»Ich bin neulich abends zu seinem Vortrag gegangen. Wenn ich ein Treffen mit Fitzstephen arrangieren könnte, um ihm die genauen Einzelheiten vorzulegen, dann könnte er mir vielleicht helfen.«
»Jack -«Winnie wollte ihn nicht dazu ermutigen, den Kontakt mit Simon Fitzstephen zu suchen, doch es fiel ihr kein konkreter Einwand ein, der nicht vorausgesetzt hätte, dass sie ihren früheren Umgang mit dem Mann offen legte.
Jack, der ihr Zögern falsch deutete, sagte: »Ich nehme es dir nicht übel, dass du skeptisch bist. Ich kenne die Erklärung nicht - ich weiß nur, dass es nicht von selbst aufhört. Wenn du meinst, dass wir uns nicht mehr treffen können -«
Winnie ergriff seine Hand, nahm sie fest in beide Hände. »Jetzt redest du aber wirklich Unsinn. Natürlich werde ich mich weiter mit dir treffen. Und ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen. Das weißt du.«
»Auch wenn ich verrückt bin?«
»Du bist nicht verrückt«, sagte sie mit leidenschaftlichem Nachdruck. »Du wirst eine Erklärung für diese Botschaften finden. Darf ich sie lesen?«
»Würdest du das tun?« Der Gedanke schien ihm zu gefallen. »Vielleicht entdeckst du ja einen Hinweis, der mir entgangen ist.«
»Tja«, sagte sie leise, und sie fragte sich, ob sie jetzt völlig den Verstand verloren hatte, »hast du schon mal versucht, Edmund ganz einfach zu fragen, was er will?«
Genau so sollte eine Kirche eigentlich aussehen, dachte Bram Allen, während er sich in seiner Galerie umsah. Der Plüschteppichboden dämpfte Stimmen und Schritte, die angestrahlten Gemälde an den mit Sackleinen ausgekleideten Wänden leuchteten wie von Licht durchflutete Buntglasfenster, und bei jedem Öffnen und Schließen der Tür erklang das melodische Läuten von Glöckchen. Es war wie eine uneinnehmbare Zufluchtsstätte... und es war der einzige Ort, an dem er sich wirklich sicher fühlte.
Es gab Leute, das wusste er wohl, denen das grimmige Aussehen der Kreaturen in Fionas Gemälden Unbehagen bereitete, doch auf ihn hatten sie immer merkwürdig beruhigend gewirkt, so als könnten sie durch eben diese Eigenschaft das Böse fern halten.
Was ihm Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass die Zahl von Fionas Gemälden an den Wänden der Galerie stetig abnahm. Seine anderen Künstler verkauften sich zwar gut, doch es waren Fionas Arbeiten, die das Rückgrat des Unternehmens bildeten, und schon seit Monaten hatte sie nichts mehr hervorgebracht, was sie ihm auszustellen erlaubt hätte. Nicht, dass er diese jüngsten Bilder aufhängen wollte - Gott bewahre! Was war nur in sie gefahren, dass sie ausgerechnet dieses Gesicht malen musste?
Fionas Talent war keiner rationalen Analyse zugänglich - das hatte er jedenfalls immer angenommen. Aber nun fragte er sich, ob da nicht irgendein externer Faktor im Spiel war, irgendeine Veränderung in ihrem gemeinsamen Leben. Oder in Fionas Leben?
Während er aus dem Fenster der Galerie blickte, begann gegenüber die Glocke der Kirche von St. John’s zur Abendmesse zu läuten. Das war für ihn das Zeichen, die Galerie zu schließen. Mechanisch begann Bram aufzuräumen und die Lichter zu löschen. Und dann, während er zu den letzten Schlägen der Glocke die Tür abschloss, fiel es ihm plötzlich ein. Tatsächlich hatte sich im letzten Jahr etwas in Fionas Leben verändert. Sie hatte sich mit Winnie Catesby angefreundet, die ihr anfangs nur helfen wollte, der Trauer über ihre Kinderlosigkeit Ausdruck zu verleihen. War das der Auslöser für Fionas Visionen?
Aber das erklärte noch nicht, warum sie ausgerechnet dieses Kind malte. War es Winnie irgendwie gelungen, ein Fragment der Erinnerung aus Fionas Unterbewusstsein zu lösen? Oder wusste Fiona mehr, als er immer angenommen hatte?
Bram bemerkte, dass er schwitzte, und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Eines war sicher - es musste ihm irgendwie gelingen, Winnies Einmischungen ein Ende zu bereiten, bevor sie alle ruiniert waren.
In der Küche des Dream Café roch es stark nach Kohl, aber das machte Faith nichts aus. Ihre morgendliche Übelkeit schien sich endlich gelegt zu haben, und die Essensdüfte halfen, den allgegenwärtigen Feuchtigkeitsgeruch zu überdecken, der das Lokal durchzog.
Das Café war direkt in den Fuß des Tor hineingebaut, und die Kalksteinwände waren stets mit einer glänzenden Schicht aus Kondenswasser überzogen. Im vorderen Teil standen Tische, während der hintere Bereich in einen kleinen Laden zur Linken und die Küche zur Rechten aufgeteilt war; der Restaurantbereich war durch eine Theke abgetrennt. Nicht, dass sie besonders viele Speisen angeboten hätten - die Karte beschränkte sich auf Suppe, Tee (Kräutertees und andere) und ein vegetarisches Tagesgericht. Faith, die zu Hause höchstens einmal das Teewasser gekocht hatte, stellte sich inzwischen gar nicht so ungeschickt an beim Zubereiten der Suppen und der warmen Gerichte, und an diesem Morgen würde sie alles fertig haben, wenn sie aufmachten. Sie summte vor sich hin, während sie noch ein wenig Paprika über den Blumenkohlauflauf streute, der heute als Tagesgericht im Angebot war, und sie stellte sich vor, was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie das Resultat ihrer Arbeit in der Küche sehen könnte. Aber der Gedanke versetzte ihr nur einen Stich, und das Heimweh trieb ihr heiße Tränen in die Augen.
Es waren fast drei Monate vergangen seit jenem Tag Anfang April, als sie von zu Hause weggelaufen war. Sie hätte nie geglaubt, dass sie ihren gemeinen Bruder und ihre scheußliche Schwester so vermissen könnte - oder ihre Eltern. So oft schon war sie versucht gewesen, wieder zurückzugehen, sich irgendeine Geschichte auszudenken, die sie ihr abkaufen würden - sie würde sagen, es sei ein Junge aus ihrer Klasse gewesen... aber nein, das wäre nicht fair... also dann eben ein Fremder, der Station gemacht hatte auf seiner Pilgerfahrt nach Avalon...
Aber sie wusste instinktiv - damals wie heute -, dass sie mit Lügen nicht durchkommen würde und dass sie genau das von ihr verlangen würden, was sie ihnen nicht bieten konnte - die Wahrheit. So hatte sie sich eben so gut es ging durchgeschlagen. Sie bettelte Freunde an, sie durch ihr Schlafzimmerfenster einsteigen zu lassen und ihr einen trockenen Schlafplatz zu gewähren. Später, als deren Gastfreundschaft erschöpft war, schlief sie im Freien, wo immer sie ein Plätzchen finden konnte, und nahm Almosen von den örtlichen Wohltätigkeitsvereinen an.
Die Schule erschien ihr wie ein fernes Universum, und manchmal vermisste sie auch das, und zwar mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. Aber jetzt lief es besser, seit sie Buddy begegnet war und den Job im Café bekommen hatte. Sie war zunächst misstrauisch gewesen, aber es hatte sich herausgestellt, dass es wirklich nicht mehr war als das freundliche Angebot, das es zu sein schien. Nach ein paar Wochen erbot sie sich freiwillig, das Öffnen und Schließen des Cafés zu übernehmen. Wenn ihr Boss wusste, dass sie die Nächte in der winzigen Kammer im Obergeschoss verbrachte, dann ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Und wenn es ihr manchmal unheimlich war - die schimmlige Feuchtigkeit, die aus den Wänden sickerte, die seltsamen Träume, die ihr keine Ruhe ließen und sie schweißgebadet aufschrecken ließen -, dann wusste sie doch immer, dass diese Lösung besser war als jede Alternative.
Oben gab es eine Toilette und ein Waschbecken, und so konnte sie sich immerhin sauber halten und ihre wenigen Kleidungsstücke waschen. Aber inzwischen war ihr alles zu eng, die Sachen spannten über ihrem anschwellenden Bauch.
Sie dachte nicht darüber nach, wie sie zurechtkommen würde, wenn das Baby da war.
Man musste einfach eins nach dem anderen erledigen, und jetzt musste erst einmal die Suppe umgerührt werden. Es handelte sich um eine reichhaltige Mischung aus Kohl, Tomaten und Kümmelkörnern - von Buddy Schii genannt, nach dem Rezept seiner deutschen Großmutter, die ins Texas Hill Coun-try ausgewandert war. Faith schmeckte die Suppe ab, griff nach dem Salz und hatte plötzlich ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Ein Flattern, fast ein Kitzeln - da war es schon wieder.
Sie stand da, den Löffel in der einen Hand, das Salzfass in der anderen, den Mund vor Verblüffung geöffnet, als die Tür aufging und eine Frau eintrat. Dunkles Haar mit silbernen Strähnen, hinten zu einem Zopf gebunden, hageres Gesicht, klimperndes Ohrgehänge, langes indisches Baumwollkleid. Faith kannte die Frau - sie war eine Stammkundin und mit Buddy befreundet, aber sie hatte eigentlich nie richtig mit ihr gesprochen.
»Fehlt dir etwas?«, fragte die Frau und trat auf die Theke zu.
»Ich - ich hab nur gerade etwas gespürt... Ich glaube, das Baby hat sich bewegt.«
»Ist es dein erstes?«
Faith nickte. Sie stellte das Salzfass ab und legte den Löffel hin, dann legte sie die Hand behutsam auf ihren Bauch.
»Gut. Das ist ganz normal, weißt du. Kein Grund zur Sorge. Ehe du dich versiehst, wird sie dich treten und kicken wie ein Fußballer.« Die Frau musterte Faith mit einem offensichtlich fachmännischen Blick. »Hast du eine Hebamme?«
Faith schüttelte den Kopf.
»Warst du schon zur Schwangerschaftsberatung?«
»Nein.« All diese Dinge bedeuteten, dass man sich bei den Sozialdiensten registrieren lassen musste, Namen und Adresse angeben, die Namen der Eltern...
Die Frau betrachtete sie noch einen Moment. »Aha, so ist das also. Wie alt bist du?«
»Siebzehn. Alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Deine Eltern wissen, wo du bist?«
»Die wollen das gar nicht wissen«, entgegnete Faith. Sie musste Acht geben, dass ihre Stimme nicht versagte. »Und ich wüsste auch nicht, was Sie das angeht.«
»Wie wär’s, wenn du mir eine Tasse Tee machst?«, sagte die Frau, offensichtlich unbeeindruckt von Faiths Grobheit. »Übrigens, ich heiße Garnet. Ich wohne oben am Berg.«
Faith erfüllte ihr den Wunsch, dankbar für die Gelegenheit, sich ein wenig zu sammeln. Garnet blieb an der Theke stehen und beobachtete sie.
Nachdem Garnet ihren Tee bekommen hatte, sagte sie beiläufig, als führe sie eine zwanglose Plauderei fort: »Dürfte nicht sehr bequem sein, da oben in der Abstellkammer zu schlafen. Und auch nicht gerade ideal für ein Mädchen in deinem Zustand - die ganze Feuchtigkeit.«
Faiths Herz begann vor Panik zu rasen. »Aber... woher haben Sie -«
»Buddy und ich sind alte Freunde. Er macht sich Sorgen um dich.«
Faith lief vor Scham über ihre eigene Dummheit rot an. Sie stammelte: »Aber ich dachte nicht, dass er -«
»Lass dich nicht von seiner schleppenden Aussprache täuschen. Er ist ein schlauer alter Fuchs, und er hat ein warmes Herz, aber er will nicht, dass es irgendjemand merkt. Er meinte, ich hätte vielleicht noch ein Zimmer frei. Es ist nicht gerade der reine Luxus«, fuhr Garnet fort, »aber warm und trocken, und es gibt da auch ein richtiges Bett.«
»Aber ich -«
»Du könntest mir ein bisschen Miete zahlen und in der Küche aushelfen. Buddy sagt, du mauserst dich allmählich zu einer richtig guten Köchin.«
»Aber warum würden Sie das für mich tun wollen? Ich verstehe das nicht.«
Garnet deutete auf Faiths Bauch. »Du wirst jemanden brauchen, der sich um dich kümmert, und ich kann für dich sorgen. Ich war früher mal Hebamme, und diese Dinge vergisst man nicht.«
»Das ist aber immer noch kein Grund«, erwiderte Faith trotzig. »Nehmen Sie öfter Streunerinnen bei sich auf?«
Garnet lächelte. »Nur Katzen.« Dann zuckte sie mit den Achseln und fügte hinzu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir einen besseren Grund nennen kann. Ich hatte mich noch nicht entschieden, bevor ich dich jetzt wieder gesehen habe. Irgendetwas ist da... ich weiß auch nicht. Sagen wir einfach, ich habe noch ein paar alte Rechnungen zu begleichen.«
»Ich könnte nicht viel zahlen«, sagte Faith zögernd.
»Bevor wir darüber reden, kommst du am besten mal vorbei und schaust dir die Bude an«, sagte Garnet, jetzt wieder in geschäftsmäßigem Ton. »Du gehst die Wellhouse Lane hoch und dann einfach geradeaus weiter. Es ist das alte Bauernhaus auf der rechten Seite, gleich hinter der Kreuzung mit der Stonedown. Wenn du heute nach der Arbeit kommst, bin ich zu Hause. Und jetzt kümmerst du dich besser um deine Suppe.« Sie trank ihren Tee aus, reichte Faith ihren leeren Becher und wandte sich zum Gehen.
Erst als sich die Tür mit einem Klingeln hinter ihr geschlossen hatte, fiel Faith auf, dass die Frau von ihrem Baby als »sie« gesprochen hatte.
Winnie war es nie so recht gelungen, das deprimierende Gefühl loszuwerden, das Jacks Haus in ihr auslöste. Obwohl das frei stehende, aus orangerotem Backstein errichtete Gebäude durchaus solide und respektabel wirkte, wie es dem viktorianischen Stil entsprach, ließ die Silhouette des Tor, die im Hintergrund aufragte, es doch irgendwie klein erscheinen. Dieser wenig einnehmende erste Eindruck wurde noch verstärkt durch das wild wuchernde Strauchwerk und das Laub des Vorjahrs, das immer noch den Pfad und die überdachte Veranda bedeckte. Und selbst an diesem schwülen Julinachmittag herrschte im Haus eine Kälte, die einem durch und durch ging.
Sie rieb sich die Gänsehaut auf ihren bloßen Armen und folgte Jack durch einen mit klobigen und gnadenlos hässlichen viktorianischen Möbeln angefüllten Salon in die Wohnküche. Das war das gemütlichste Zimmer im ganzen Haus; vor einem Fernseher stand ein Ledersessel, ein Eichentisch wies noch Spuren von Jacks hastig abgeräumtem Abendessen auf, und ein eiserner Küchenherd strahlte angenehme Wärme ab.
Jack schaltete die Lampe mit dem roten Schirm über dem Tisch ein. »Wie wär’s mit einer Tasse Tee, um uns die Wartezeit zu verkürzen?«, schlug er vor, während Winnie sich setzte. »Nick hat angerufen, er ist unterwegs.«
Winnie lehnte den Tee ab. »Wie hat Nick es bloß geschafft, von Simon Fitzstephen eine Einladung zu einem Drink zu ergattern?«
»Fitzstephen war zum Signieren in seinem Buchladen. Nick hat die Gelegenheit genutzt, um ein paar gezielte Schmeicheleien loszuwerden.«
Winnie sah dem Treffen mit Simon Fitzstephen nicht eben freudig entgegen, aber sie hatte nicht die Absicht, Jack allein hingehen zu lassen. »Man müsste schon ein ausgesprochener Griesgram sein, um Nick etwas abschlagen zu können. Er hat so etwas unwiderstehlich Ernsthaftes an sich«, sagte sie leichthin, während sie sich vorzustellen versuchte, wie ihr ehemaliger Mentor wohl auf ihr unerwartetes Erscheinen reagieren würde.
Und wie würde Simon Fitzstephen wohl ihre Geschichte aufnehmen? Seinen Ruf verdankte er seinen Arbeiten zur Geschichte der Gralslegenden, aber Winnie hatte immer den Verdacht gehegt, dass die Gralsstudien für ihn weniger eine Herzensangelegenheit als vielmehr eine Sache des wissenschaftlichen Stolzes waren.
Jack schien an diesem Abend unfähig, auch nur einen Moment still zu sitzen, woraus sie schloss, dass ihn das bevorstehende Treffen ebenfalls nervös machte. »Du musst Fitzstephen ja nichts erzählen, wenn du kein gutes Gefühl dabei hast.«
»Ich weiß«, antwortete Jack, indem er sich mit einer fahrigen Bewegung auf den Stuhl neben ihr fallen ließ. »Aber dann werde ich mir blöd Vorkommen, weil ich nur seine Zeit vergeude.«
»Unsinn«, beruhigte sie ihn. »Es ist doch bloß ein geselliges Beisammensein.«
»Stimmt.« Er quittierte ihre Bemühungen mit einem Grinsen und zog dann ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche. »Aber ich habe hier etwas Handfesteres, worauf ich mich berufen kann.«
»Ist das heute gekommen?« Winnie nahm das Blatt und fügte dann hinzu: »Ich rede ja gerade so, als sei es mit der Post gekommen.« Tatsächlich waren die Mitteilungen sporadisch, die Zusammenhänge zuweilen schwer zu erkennen. Oft brach eine Botschaft mitten im Satz ab, um dann ein oder zwei Wochen später an derselben Stelle fortzufahren, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben.
Es war fast so, als arbeite man an einem Puzzle - indem man mal hier, mal dort ein Teil einsetzt, versucht man dem Gesamtbild Schritt für Schritt näher zu kommen.
Aethelnoth war damals unser Abt, und unter ihm wurden wir noch ärmer. Zart wie ein Weidenschössling war ich, doch von zäher Konstitution. Zäher, als mein Vater geahnt hatte. Er hatte nicht mit der Fürsorge des Bruders Ambrosius gerechnet, unseres Hospitarius, der mich nicht vor die Tür ließ, wenn der Nordwind wehte, und der mir Kräuter und wärmende Suppen verabreichte. Da war ich denn endlich reif für meine Berufung, und mein Herz frohlockte. Doch all das war vor der Zeit, da... Gottes Zorn auf uns herabrief...
Sie sah auf. »Das ist alles?«
»Ja. Aber der Name des Abts gibt uns ein Datum. Aethel-noth war der letzte angelsächsische Abt, von 1053 bis 1078. Ich hoffe, Fitzstephen kann uns mehr erzählen.«
Es würde sich nicht vermeiden lassen, dass sie Jack die Wahrheit über Simon sagte, das war ihr klar. Und je länger sie wartete, desto schlimmer würde es werden. Winnie nahm all ihren Mut zusammen und setzte zu ihrem Geständnis an. »Jack, es gibt da etwas, was ich -«
»Da ist Nick.«
Gerettet vom Geräusch eines Motorrads, dachte sie, als Jack aufstand, offenbar ohne ihre stockenden Worte überhaupt gehört zu haben. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, während sie ihm zur Tür folgte, schwor sich aber, dass sie es ihm wirklich sagen würde, sobald sich die Gelegenheit ergäbe.
Sie ließen Nicks Motorrad in der Einfahrt stehen und fuhren die kurze Strecke bis zu dem Dorf Pilton mit Jacks Wagen. Die sanften Hügel lagen im dämmrigen Abendlicht, und hinter ihnen schob sich die Silhouette des Tor vor die untergehende Sonne.
Vor dem Dorfeingang machte die Straße eine scharfe Linkskurve. Nick dirigierte anhand einer Wegbeschreibung, die er auf einen Zettel gekritzelt hatte. »Es ist unterhalb der Kirche. Sie nehmen die Abzweigung mit dem Wegweiser »Zum alten Pfarrhaus<.«
Pilton war gewiss eines der reizvollsten Dörfer in ganz Somerset, in ein mäanderndes Bachtal geschmiegt und umgeben von steilen bewaldeten Hügeln. Es war auch ein Labyrinth von gewundenen Sträßchen und Sackgassen. Nachdem sie abgebogen waren, führte der Weg bergab, vorbei an der hübschen kleinen Kirche St. John the Baptist, worauf sie ein weiteres Mal scharf links abbiegen mussten. Die jäh abfallende Straße war gerade eben breit genug für den Volvo. »Gleich auf der rechten Seite«, rief Nick und zeigte in die Richtung. »Riverside Cottage.«
Jack folgte dem Sträßchen bis zum Ende und parkte den Wagen auf einem Rasenstück nahe einer Steinbrücke, die über ein felsiges Bachbett führte. Sie stiegen aus und sahen sich um. Unter dem dichten Baldachin der Bäume war das Licht von einem wässrig schimmernden Grün; die Stille wurde nur vom Geräusch des Wassers durchbrochen, das über die Felsen plätscherte. Vor ihnen stand das Häuschen, durch eine Steinmauer von der Straße getrennt. Jenseits der Mauer war eine Rasenfläche, die sanft zum Bach hin abfiel, und ein Weg aus Steinplatten führte von der Pforte zu der mit einem Rundbogen versehenen Eingangstür.
Winnie ließ die Männer vorgehen und blieb einen Augenblick stehen, die Hand auf die Pforte gelegt. Sie hatte das Gefühl, in der seltsamen, bedrückenden Atmosphäre den Boden unter den Füßen zu verlieren, und sie fragte sich, ob sie es sich nicht im allerletzten Moment noch anders überlegen könnte.
Dann drehte Jack sich um und blieb stehen, um auf sie zu warten, und sie wusste, dass es keinen Weg zurück gab, ganz gleich, was dieser Abend noch bringen mochte.
Simon Fitzstephen stapelte das Geschirr von seinem kalten Abendessen im Spülbecken, wo es Mrs. Beddons, seine Haushälterin, am nächsten Morgen abwaschen würde. Im Lauf der Jahre waren sie zu dieser praktischen Regelung gelangt: Mrs. Beddons kam morgens und machte ihm das Frühstück, dann kümmerte sie sich um den Haushalt und kochte ihm später ein warmes Mittagessen, und bevor sie ging, bereitete sie ihm noch einen Salat oder eine kalte Platte fürs Abendessen zu.
Obwohl die Tantiemen auf seine Bücher ihm ein luxuriöseres Leben als dieses hier in Riverside Cottage erlaubt hätten, hegte er nicht den Wunsch, von Pilton fortzugehen. Das Dorf war nicht nur wunderschön, es war auch eines der ältesten Besitztümer der Abtei von Glastonbury, eine Schenkung des angelsächsischen Königs Ine irgendwann im achten Jahrhundert. Fitzstephen konnte die Beziehungen seiner eigenen Familie zur Abtei nur bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen, als ein Vorfahre für Heinrich II. in loco abbatis fungiert hatte, nachdem der vorige Abt gestorben war.
Diese lokalen und familiären Zusammenhänge vermittelten Simon Fitzstephen das Gefühl einer tiefen und wesentlichen Verbundenheit mit seiner Arbeit, die ganz erfreuliche Erfolge gezeitigt hatte. Als er das Priesteramt aufgegeben hatte, um sich ganz seinen Gralsstudien zu widmen, hatte er sich nicht träumen lassen, dass seine Bücher beim Publikum so gut ankommen würden. Der einzige Nachteil seines bescheidenen Ruhmes, den er entdecken konnte, war die Neigung seiner Leser, ihm mit einer Vertraulichkeit zu begegnen, die ihm unangenehm war. Er war vom Wesen her eher reserviert; die erste und letzte Lesereise durch die Vereinigten Staaten, die er hinter sich gebracht hatte, war einfach nur unerträglich gewesen.
Wenigstens war der junge Mann, der ihm die Einladung abgeluchst hatte, Engländer, und er wirkte einigermaßen kultiviert. Er war zudem umwerfend schön, was ihm anscheinend selbst nicht bewusst war.
Der Gedanke ließ Simon einen Blick auf seine Uhr werfen. Nicholas Carlisle und sein Freund, der Architekt, würden bald kommen. Besser, er bereitete alles für seine Gäste vor.
Zufällig war Simon an diesem Nachmittag seiner alten Freundin Garnet Todd begegnet und hatte sie ebenfalls eingeladen. Sie war eine kenntnisreiche und scharfsinnige Frau; sicherlich würde sie der abendlichen Runde ein wenig zusätzliche Würze verleihen.
Er arrangierte Gläser, Mixer, Gin und Whiskey auf dem großen Wohnzimmertisch, der mit Einlegearbeiten aus gemasertem Walnussholz verziert und ringsum mit zwei Reihen von Schubladen versehen war. Die Herren von Pilton Manor hatten an diesem Tisch ihre Pachten eingezogen. Mit einer Vase voller blühender Gartenrosen in der Mitte machte er dem Zimmer - Simons Lieblingszimmer - alle Ehre. Drei Fenster mit gotischen Spitzbögen öffneten sich zum Rasen hin, und die grünen Seidentapeten brachten den Garten direkt ins Haus. Sepiafarbene Fotografien in reich verzierten Rahmen hingen an allen Wänden, ganze Generationen von Fitzstephens. Doch Simon war der letzte Spross seines Zweigs der Familie, und er hatte keine Kinder. Sein Name würde in seinen Büchern weiterleben müssen; ein Gedanke, der ihm keinen Kummer bereitete, bis auf die Tatsache, dass in letzter Zeit die Quelle seiner schöpferischen Kraft zu versiegen schien. Was konnte er über den Gral noch sagen, was er nicht schon einmal gesagt hatte - und zwar gut? Und dennoch hatte er mit seinem Verleger noch einen Vertrag über ein weiteres Buch, und er konnte es nicht mehr sehr viel länger hinausschieben.
Er ging zurück in die Küche und holte die Silberschälchen mit Oliven und gesalzenen Mandeln, die Mrs. Beddons vorbereitet hatte. Als er eben alles fertig arrangiert hatte, läutete es an der Tür. Er fuhr sich einmal mit der Hand durch sein dichtes Haar und ging seine Besucher begrüßen.
Nick Carlisle stand da mit seinem Freund, einem großen, kräftigen Mann mit blondem Haar - und, zu Simons großer Bestürzung, mit Winnie Catesby. Was hatte sie denn hier zu suchen?
Nick stellte zunächst Jack Montfort vor, was Simon die Gelegenheit gab, sich ein wenig von seinem Schock zu erholen, während er Montfort abwesend die Hand schüttelte. Als er sie wieder losließ, kam Simon Nicks zweiter Vorstellung zuvor.
»Winifred.« Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, doch seine Lippen gingen ins Leere, als sie im letzten Moment ihr Gesicht abwandte.
»Hallo, Simon.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Montfort.
»Simon hat einige Kurse in meinem Theologieseminar geleitet«, antwortete Winifred kühl. »Das ist lange her.«
»Ja, nicht wahr?«, entgegnete Simon trocken. Er geleitete sie ins Wohnzimmer, wobei er nicht umhin konnte, ihre bloßen Arme und ihr ärmelloses blaues Seidenkleid zu bemerken.
Sie hatten eben Platz genommen, als die Türglocke ein zweites Mal läutete und die Ankunft von Garnet Todd und einer unbekannten Begleiterin verkündete. Garnet trug ihre übliche Zigeunerkluft, was Simon fast ebenso amüsant fand wie ihren standhaften Vegetarismus; in einem unbedachten Moment hatte sie ihm einmal verraten, dass sie die Tochter eines Metzgers aus Clapham war.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Simon«, sagte Garnet. »Ich habe meine Mieterin mitgebracht. Das hier ist Faith.«
Das Mädchen war groß und schlank, mit langem Hals und kurz geschnittenem Haar, das ihre feinen Gesichtszüge gut zur Geltung brachte. Sie war auch ganz offensichtlich schwanger, wie Simon bemerkte, als sie an ihm vorbei in die Diele trat, und dabei war sie selbst fast noch ein Kind. »Faith?«, wiederholte er. »Einfach nur Faith?«
»Einfach nur Faith.« Das Mädchen blickte ihn mit ernsthaften dunklen Augen an, ohne die Spur eines Lächelns. Worauf hat Garnet sich da nur eingelassen, dachte Simon.
Und wenn er irgendwelche Zweifel hinsichtlich der sexuellen Vorlieben des jungen Nick Carlisle gehabt hatte, so wurden sie in dem Moment zerstreut, als Faith das Wohnzimmer betrat. Beide Männer erhoben sich, doch Nick wirkte wie vom Blitz getroffen. Dem Mädchen schien nicht bewusst zu sein, welche Wirkung von ihm ausging; es betrachtete alle mit dem gleichen ernsten Blick.
Als Simon Garnet vorstellte, sagte Winifred: »Garnet Todd, die Keramikkünstlerin? Ich bin ganz begeistert von Ihrer Arbeit! Ich hatte gehofft, Sie würden eines Tages die Fliesen in meiner Kirche restaurieren können.«
»In Ihrer Kirche?« Garnets abgezehrtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Ich bin Pfarrerin von St. Mary’s in Compton Grenville«, antwortete Winifred, und bald waren sie in eine Diskussion über die Fliesenarbeiten in der Kirche vertieft.
Das ist typisch Garnet, wie sie gleich das Gespräch an sich reißt, dachte Simon bitter, während er die Drinks servierte. Sobald es ihm gelang, das Wort zu ergreifen, warf er ein: »Nick erzählte mir, Sie hätten ein besonderes Interesse an der Geschichte der Abtei, Mr. Montfort?«
»Das kann man wohl sagen. Sagen Sie doch bitte Jack zu mir. Und wie ich höre, sind Sie der Experte, was die Abtei betrifft. Ich interessiere mich insbesondere für das elfte Jahrhundert und die Amtszeit des Abts Aethelnoth.«
»Aethelnoth? Das ist ein Name, den die meisten Leute noch nie gehört haben. Nicht gerade ein leuchtender Stern in der Geschichte der Abtei, der Mann.«
»Ich habe mich gefragt, was während seiner Zeit geschehen sein könnte, von dem die Mönche glauben mussten, dass es den Zorn Gottes auf ihr Haus herabrufen würde?«
»Aethelnoth hat unter anderem das Gold und Silber aus den heiligen Büchern der Abtei entfernt und es zu seinem eigenen Profit verkauft, und er hat sich Ländereien der Kirche angeeignet. Seine unrühmliche Karriere endete damit, dass er offiziell abgesetzt und in der Christ Church in Canterbury unter Arrest gesetzt wurde.
Genau genommen«, fuhr Simon fort, der allmählich in Fahrt kam, »war an keinem der beiden letzten angelsächsischen Äbte irgendetwas Herausragendes. Aethelnoths Vorgänger Aethel-weard zerhackte König Edgars sterbliche Überreste und versuchte sie in ein Reliquiar zu stopfen, worauf er unheilbar geisteskrank wurde - kein Wunder - und kurz darauf stürzte und sich das Genick brach. Aber ich könnte nicht behaupten, dass irgendeine ihrer Missetaten es gerechtfertigt hätte, den Zorn Gottes auf die Abtei herabzurufen.«
Montfort und Nick Carlisle tauschten enttäuschte Blicke. »Solche Dinge waren damals wohl an der Tagesordnung, nehme ich an?«, fragte Montfort.
»Leider ja. Die Wahl eines Abts hatte gewöhnlich mehr mit politischem Geschick als mit religiöser Berufung zu tun, aber diesen zweien fehlte es an beidem. Gewiss, Frederick Bligh Bond hat mit seinem automatischen Schreiben ein viel glorreicheres Bild von Aethelnoth gezeichnet, aber in diesem Fall bin ich geneigt, den Historikern Glauben zu schenken.«
»Bligh Bond?«, echote Nick mit belegter Stimme. Dann räusperte er sich. Wieder tauschten er und Montfort bedeutungsschwangere Blicke aus.
»Sie wissen über Bond Bescheid?«, fragte Simon.
Aus Montforts Antwort ging klar hervor, dass dies der Fall war. »Wollen Sie etwa sagen, dass Sie die von Bond... äh... empfangenen Informationen in anderen Fällen gelten lassen?«
»Ob ich glaube, dass Bond einen direkten Draht zu den früheren Mönchen der Abtei hatte?« Dieses Treffen erwies sich als sehr viel interessanter, als Simon geahnt hatte. »Wohl kaum. Aber Bonds Wissen über die Geschichte und Architektur der Abtei war umfassend. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er dieses Wissen auf irgendeine Weise seinem Freund Captain Bartlett übermittelt hat.«
»Ach, komm schon, Simon!«, fuhr Garnet dazwischen. »Warum sagst du nicht >Telepathie<, wenn du Telepathie meinst? Und wenn du bereit bist, diese Möglichkeit einzugestehen, warum schließt du dann die Vorstellung aus, dass Bond oder auch Bartlett eine Art kollektives Gedächtnis angezapft haben könnten? Du kennst doch ganz bestimmt die Bedeutung, die das kollektive Gedächtnis bei den Kelten hatte -«
»Das ist etwas völlig anderes. Ihr Kollektiv- oder Stammesgedächtnis basierte auf der Überlieferung von Mythen und Traditionen durch extrem stilisierte Erzählungen, Rituale und Zeremonien.«
»Und es war eine gewaltige Kraft, die wir bis heute nicht annähernd begreifen können«, warf Garnet hitzig ein. »Warum ist es denn unmöglich, dass noch andere Dinge existieren jenseits dessen, was unser Verstand erfassen kann?«
»Wovon redet ihr eigentlich?«, fragte Faith, die bisher noch kein Wort gesagt hatte. »Was ist überhaupt automatisches Schreiben?«
Jack Montfort lächelte ihr aufmunternd zu. »Das ist, wenn jemand Dinge niederschreibt, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne zu wissen, woher die Informationen stammen.«
»Meinen Sie so was wie Geister? Oder eine Séance?«
Montfort zuckte ein wenig zusammen und sagte dann: »Nicht unbedingt. Es könnte sich um das Unterbewusstsein desjenigen handeln, das sich dieses... nun, man kann wohl sagen, dieses ungewöhnliche Ventil sucht.«
»Glauben Sie, dass es das ist, was mit Mr. Bond passiert ist - wer auch immer er war?«
»Es war eigentlich Bonds Freund, der die Botschaften niederschrieb«, sagte Simon knapp. »Das heißt also, ob die Informationen nun aus Bonds Unterbewusstsein oder aus einer anderen Quelle stammten, er musste sie immer noch irgendwie an Bartlett übermitteln. Es sei denn, die beiden waren ausgesprochene Scharlatane, und das glaube ich wiederum nicht.«
»Es scheint aber doch merkwürdig, finden Sie nicht«, sinnierte Montfort, »dass sich nie irgendjemand die Frage gestellt hat: >Wieso John Bartlett?< Bonds Beziehungen zur Abtei waren offensichtlich - wurde Bartlett also einfach wegen seiner Freundschaft mit Bond auserwählt, oder war da noch etwas anderes? Bartlett war Offizier der Reserve, ein intelligenter und recht gebildeter Mann, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er zum Medium prädestiniert gewesen wäre.«
»Wenn Sie sagen, Bartlett sei >auserwählt< worden, dann darf ich wohl annehmen, dass Sie der Hypothese des kollektiven Gedächtnisses den Vorzug geben?«
»Ich neige dazu, ja«, erwiderte Montfort. Es klang ganz wie ein Seufzer. »Nach meiner eigenen Erfahrung zu urteilen, wäre alles andere äußerst unwahrscheinlich.«
Eine Weile herrschte verblüfftes Schweigen, dann fragte Garnet: »Nach Ihrer eigenen Erfahrung? Wollen Sie damit sagen, dass Sie selbst automatische Texte produziert haben?«
Montfort zögerte einen Moment und zog dann mit einem Seitenblick auf Winnie einen Stapel zusammengefalteter Papiere aus der Innentasche seiner Jacke. »Das alles hier seit März. Und ich wusste nur sehr wenig über die Abtei, bloß das, was man in der Schule so beigebracht bekommt.«
Simons Neugier lag im Widerstreit mit seinem Unglauben, als er nach den Papieren griff. Die Geschichte von Bligh Bond und seinen übersinnlichen Erlebnissen hatte ihn schon immer fasziniert - wie, wenn er sich nun geirrt hatte, wenn Bond gar nicht selbst die Quelle gewesen war? Gebannt las er alles von den ersten zögernden Aufzeichnungen an durch. Wenn er mit einer Seite fertig war, griff Garnet sogleich begierig danach, um das Blatt anschließend an Faith weiterzureichen.
Während des Lesens gewann er den deutlichen Eindruck, dass aus den Mitteilungen eine ausgeprägte, starke Persönlichkeit sprach. Simon betrachtete verstohlen Jack Montfort, der schweigend dasaß, das Glas mit beiden Händen umklammert. Montfort schien nicht der Typ für einen schlechten Scherz zu sein, und Simon konnte sich auch nicht vorstellen, dass irgendein unterdrückter Teil von Montforts Persönlichkeit sich in Gestalt eines mittelalterlichen Mönchs auszudrücken suchte. Und als Architekt konnte der Mann sich gewiss keine Vorteile davon erhoffen, dass er etwas Derartiges preisgab - im Gegenteil, es könnte seiner Karriere zweifellos ernsthaft schaden.
Simon spürte die ersten Anzeichen einer Erregung, wie er sie seit Jahren schon nicht mehr empfunden hatte. Angenommen, es bestünde auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit, dass diese Botschaften echt waren, dass es irgendwie möglich war, in eine lebendige Verbindung mit der Vergangenheit zu treten - was würde diese Chance eines direkten Zugriffs auf die Geschichte für seine eigenen Studien bedeuten? Vielleicht konnte daraus ein Buch werden, das seiner Karriere eine völlig unerwartete Richtung geben würde.
Er war bei der letzten Seite angelangt. Suchet ein Ziel, und ihr werdet gewinnen, begann der Mönch, der mit »Edmund« unterschrieb. Arbeitet an dem, was kommen wird. Nehmt andere hinzu, wie ihr sie findet, denn eine große Aufgabe ist zu erfüllen, bevor ihr in die Gemeinschaft eintretet. Wir sind die Wachenden, und wir sind stets an eurer Seite.
Garnet nahm ihm das Blatt aus der Hand, kaum dass er fertig gelesen hatte. Sie überflog es und las es dann noch einmal langsam durch, wobei sie die Lippen bewegte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Montfort an und hauchte: »Die Gemeinschaft der Wachenden. Sie haben Sie auserwählt.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Winifred. »Wer - oder was - ist die Gemeinschaft der Wachenden?«
»Die Wachenden sind diejenigen, die mit Glastonbury durch ein Band verbunden sind, das nicht einmal der Tod lösen kann. Sie bewachen das spirituelle Herz Britanniens - Logres -, und manche behaupten sogar, sie wachten über König Artus, in Erwartung des Tages seiner Auferstehung.«
»Britanniens Stunde der größten Not?«, spottete Simon. »Wer glaubt denn schon an diese alten Kamellen?«
»Vor sechs Monaten hätte ich mich noch keinen Pfifferling darum geschert«, antwortete Montfort bedächtig. »Aber jetzt... nach all dem...«
Garnet fingerte an dem keltischen Anhänger herum, den sie um den Hals trug. »Wir leben in einer Zeit des Konflikts, so kurz vor dem Millennium...«
»Deine Paranoia kommt mal wieder zum Vorschein, meine Liebe«, sagte Simon barsch. Dann fiel sein Blick auf die Blätter in Faiths schlanker Hand, und er war erneut unschlüssig.
»Und die Aufgabe?«, fragte Faith.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Montfort. »Das ist eines der Dinge, die ich herauszufinden hoffte, als ich hierher kam.«
»Nehmt andere hinzu, wie ihr sie findet«, las Faith, dann sah sie einen nach dem anderen mit durchdringendem Blick an. »Seht ihr denn nicht? Wir sind die anderen. Was immer es ist, es kann nur erreicht werden, wenn wir Zusammenarbeiten.«
»Alle für einen und einer für alle«, sagte Simon, immer noch halb im Spott, obwohl er sich in sonderbarer Weise von der Vorstellung angezogen fühlte. »Was meinst du, Winifred? Ich glaube kaum, dass die Kirche es billigen würde, wenn du dich mit paranormalen Phänomenen abgibst.«
»Sie hatte auch für Bonds Methoden nicht sehr viel übrig, und doch verdanken wir ihm unschätzbare Informationen über die Abtei. Können wir das Material nicht auf der Basis seiner historischen Stichhaltigkeit beurteilen anstatt im Hinblick auf seine Quelle?« Sie sah Jack Montfort an, als suche sie seine Bestätigung. Plötzlich dämmerte in Simon die unerfreuliche Erkenntnis, dass die beiden ein Paar waren.
Garnets Gesicht strahlte. »Deshalb sind wir heute Abend hier, Simon. Und deshalb ist Faith zu mir gekommen. Wir wurden alle zu diesem Zweck zusammengeführt. Ich bin überzeugt davon! Man könnte das Material unter historischen Gesichtspunkten interpretieren -«
»Und Sie haben die Mittel und die Fachkenntnisse, um herauszufinden, ob es möglicherweise eine Verbindung zwischen Jack und Edmund gibt«, unterbrach sie Nick Carlisle. »Vielleicht haben wir alle etwas beizutragen, wenn wir auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, was es ist.«
Simon las die Bestürzung in Winifreds Gesicht. Dies, und der Gedanke an das, was er selbst bei der Sache möglicherweise gewinnen konnte, veranlassten ihn zu sagen: »Wie sollten wir denn nun genau an diese... Nachforschungen herangehen?«
Vielleicht waren sie tatsächlich zu einem bestimmten Zweck zusammengeführt worden, und wenn das bedeutete, dass Winifred Catesby gezwungen war, ihn regelmäßig zu sehen, dann geschah es ihr ganz einfach nur recht.