Es gibt Zeiten in der Geschichte der Völker, in denen die Dinge des inneren Lebens an die Oberfläche Vordringen und Ausdruck erlangen, und aus diesen Rissen im Schleier strömt das Licht des Heiligtums hervor.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
Sie lag neben ihm und lauschte auf seinen ruhigen Atem, mit diesem leisen Pfeifen beim Ausatmen, aus dem leicht ein Schnarchen werden konnte. Zu ihrer Überraschung störte sie der Gedanke wenig, obwohl sie doch so viele Jahre hindurch allein geschlafen hatte.
Dabei war Winnie die Tatsache, dass sie mit Jack schlief, keineswegs nur angenehm, und die Ausrede, die Missetaten einer ganzen Reihe anglikanischer Geistlicher würden die ihren weit in den Schatten stellen, war keine wirkliche Rechtfertigung, wie sie sehr wohl wusste. Aber sie wusste auch, dass es einfach wunderbar war, ein Segen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gott an solcher Freude Anstoß nehmen würde. Gott hatte sich über andere Dinge zu sorgen als um ein bisschen außerehelichen Verkehr hier und da... und ihr ging es ebenso.
Sie schlüpfte aus dem Bett und tastete nach Hausschuhen und Morgenrock; dann fiel ihr ein, dass sie nicht über Nacht hatte bleiben wollen und ihre Kleider deshalb in einem Haufen am Boden lagen. Sie musste sich also Jacks Morgenrock, der am Bettpfosten hing, borgen und dicke Socken überziehen.
Inzwischen konnte sie sich schon im Dunkeln in diesem Zimmer zurechtfinden, das früher das Schlafzimmer von Jacks Eltern gewesen war. Als sie das erste Mal über Nacht da geblieben war, hatte Jack einigermaßen verlegen zugegeben, dass er immer noch das kleine Einzelbett in seinem Kinderzimmer benutzte, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, das große Himmelbett aus Mahagoni zu übernehmen, in dem seine Eltern fast fünfzig Jahre lang geschlafen hatten. Aber das Einzelbett war nicht groß genug für zwei, und so waren sie gemeinsam in das größere Schlafzimmer umgezogen.
Wenn sie geglaubt hatte, das Haus sei an sonnigen Sommertagen recht kalt, so glich es jetzt im Oktober einem Eisschrank. Winnie bildete sich zuweilen ein, dass es der Schatten des Tor war, der es so kühl hielt, aber das war absurd. Das Haus war ganz einfach alt, sagte sie sich zitternd, und die Zentralheizung unzureichend.
Während sie die Treppe hinuntertappte und sich am Geländer festklammerte, gab sie sich für einen Augenblick einer Fantasie hin, in der sie und Jack sich gemütlich in ihrem warmen Zimmer im Pfarrhaus aneinander kuschelten. Aber sie wusste genau, dass die Leute sich die Mäuler zerreißen würden, egal wie diskret sie vorgehen würden, und noch mehr Klatsch konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen. Ihre Erzdiakonin Suzanne Sanborne hatte bereits ihre Besorgnis wegen der Gerüchte über Winnies »Beschäftigung mit okkulten Praktiken« zum Ausdruck gebracht, und diesen Stein hatte, wie Winnie vermutete, Andrew ins Rollen gebracht.
Andrew hatte sich nach ihrem Streit bei ihr entschuldigt, und sie hatte alles getan, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen, doch es war ein Keil des Unbehagens zwischen ihnen zurückgeblieben, ein Riss, der, wie sie fürchtete, vielleicht nie mehr heilen würde. Seine Kritik hatte sie tief verletzt, und sie fand es sehr schwer, zu vergeben. »Du musst praktizieren, was du predigst, Winnie«, flüsterte sie, als sie in die Küche kam.
Sie schaltete die Lampe über dem Tisch ein, öffnete den Kühlschrank, goss sich Milch in einen Becher und stellte ihn in die Mikrowelle.
Von Jack konnte sie sich noch eine Scheibe abschneiden, was das Vergeben betraf, dachte sie, während sie ihre heiße Milch aus dem Ofen nahm und den süßen, beruhigenden Duft einatmete. Nachdem sie an jenem Abend beim Essen all ihren Mut zusammengenommen und Jack von ihrer früheren Beziehung mit Simon Fitzstephen erzählt hatte, da hatte er nur ganz ruhig gesagt: »Ich habe nie geglaubt, dass du eine Heilige bist, Winnie. Der Gedanke, dass du dir monatelang deswegen Sorgen gemacht hast, gefällt mir gar nicht.«
»Du bist mir nicht böse?«
»Es gibt mir schon einen Stich, wenn ich mir dich zusammen mit einem anderen Mann vorstelle«, gab er zu. »Aber es ist lange her, und ich wüsste nicht, welchen Einfluss das auf unsere Beziehung haben sollte.«
»Ich habe dir noch nicht gesagt, warum ich damals Schluss gemacht habe.« Winnie zögerte, während sie die einzelnen Teile einer Geschichte zusammenfügte, die sie über zehn Jahre lang für sich behalten hatte. »Da war ein anderer Student, Ray hieß er, ein Schützling von Simon. Er kam bei einem Autounfall ums Leben.«
»Wart ihr befreundet?«
»Ja. Er wäre ein guter Priester geworden - ein sehr warmherziger Mann mit einem echten Talent zur Seelsorge. Aber er war auch ein Wissenschafder, und er vergötterte Simon. Hätte Ray länger gelebt, dann hätte er das alles mit der Zeit hinter sich gelassen, denke ich. Aber er bekam nie die Gelegenheit dazu.«
Jack runzelte die Stirn und meinte: »Tragisch - aber ich verstehe nicht, was das mit Simon zu tun hat.«
»Ray arbeitete an einem Forschungsprojekt, das von Simon betreut wurde, einer Abhandlung über eine obskure Gralslegende aus dem dreizehnten Jahrhundert. Nachdem Ray verunglückt war, veröffentlichte Simon die Arbeit unter seinem eigenen Namen.«
»Aber da lag doch sicherlich irgendein Irrtum vor -«
»Kein Irrtum. Wenige Monate nach Rays Tod bat mich seine Familie, seine Sachen durchzusehen. Ich fand das Originalmanuskript. Als ich Simon damit konfrontierte, behauptete er, es sei sein Werk, und Ray habe es lediglich für ihn abgetippt.«
»Natürlich, das wird’s gewesen sein«, sagte Jack sichtlich erleichtert.
»Aber Ray hatte Aufzeichnungen hinterlassen, jede Menge Konzeptmaterial. Es war nicht der geringste Zweifel möglich, dass er sowohl die Forschungsarbeit geleistet als auch den Artikel verfasst hatte.«
Jack schien die Information zuerst verdauen zu müssen. Er fragte: »Hast du irgendjemand davon erzählt?«
Winnie spürte, wie sie rot wurde. »Nein, Simon sagte, er würde mich vor dem Bischof lächerlich machen - er würde ihm sagen, dass ich aus Rachsucht handelte, weil er meine Avancen zurückgewiesen habe; er würde dafür sorgen, dass ich niemals eine gute Pfründe bekommen würde. Er hatte genügend Einfluss, um seine Drohung wahr zu machen. Also habe ich mir eingeredet, dass es nur ein unbedeutendes akademisches Problem gewesen sei - und das habe ich mir seither nie verzeihen können.«
Jack legte seine Hand auf ihre. »Du warst jung und unerfahren -«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass man Simon Fitzstephen nicht trauen kann. Er würde dich von einer Minute auf die andere verraten, wenn es zu seinem Vorteil wäre.«
»Aber es gibt nichts zu verraten«, protestierte Jack. »Welchen denkbaren Nutzen könnte Simon davon haben, dass er mir hilft?«
»Ich weiß es nicht. Aber versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst.«
Damit musste sie sich zufrieden geben. Jack hatte darauf bestanden, bis zum Beweis des Gegenteils nur das Beste von Simon anzunehmen, und ihr wurde klar, dass sie diesen Zug an ihm nicht ändern würde, selbst wenn sie es gekonnt hätte - es war einer der Gründe, weshalb sie ihn liebte.
Wenn ihr Bruder nur ebenso großmütig wäre, dachte Winnie, womit sie wieder bei dem Problem war, das sie ursprünglich am Einschlafen gehindert hatte. Sie wusste nicht, wie sie Andrew anders würde beschwichtigen können als durch eine Trennung von Jack, wozu sie nicht bereit war, oder indem sie Jack dazu überredete, seine Kommunikation mit Edmund aufzugeben, wozu er wiederum nicht bereit war - selbst wenn es möglich gewesen wäre. Dieser Riss in ihrer Beziehung zu ihrem Bruder quälte sie unaufhörlich wie ein schmerzender Zahn.
Sie nippte an ihrer Milch und dachte an Faith Wills und an Andrews Kritik an ihrem Versuch, zwischen Faith und ihrer Familie zu vermitteln. In gewisser Weise hatte Andrew Recht behalten, da die Dinge sich keineswegs so entwickelt hatten, wie Winnie gehofft hatte, aber dennoch war sie immer noch der festen Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Faith hatte sich bereit erklärt, ihre Mutter zu treffen, und sogar schon einen Zeitpunkt für eine Zusammenkunft im Pfarrhaus ausgemacht, hatte es sich dann jedoch urplötzlich anders überlegt. Winnie war es nicht gelungen, das Mädchen von ihrer Entscheidung abzubringen, und Faith verweigerte jede Erklärung. Je näher Faiths Termin rückte - es waren jetzt nur noch wenige Wochen bis zu dem Datum Ende Oktober -, desto größere Sorgen machte Winnie sich um sie.
Zwar hatte Garnet ihr versichert, es gehe Faith gut und die Schwangerschaft verlaufe völlig normal, doch Winnie hatte das Gefühl, dass Garnet mit etwas hinter dem Berg hielt - und dass sowohl Faith als auch Garnet sie mieden. Hatte sie in ihrer Ahnungslosigkeit die beiden gegen sich aufgebracht, indem sie sich bemüht hatte, Faith wieder mit ihren Eltern zusammenzuführen?
Die Spannungen zwischen Nick und Garnet hatten sich ebenfalls nicht gelegt, da ihre gemeinsame Sorge um Faith ihre Feindseligkeit nur zu verstärken schien.
Und soweit Winnie wusste, schien immer noch niemand in der Gruppe wirklich zu verstehen, was Edmund eigentlich von ihnen wollte.
Mit einem Seufzer stellte sie ihre leere Tasse ab und rieb sich das Gesicht. Müde, aber dem Schlaf immer noch nicht näher, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass irgendeine Krise unmittelbar bevorstand, und sie fand auch keinen Trost in der Stelle aus dem Epheserbrief, die ihr plötzlich in den Sinn kam. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Konnte es sein, dass an Garnets unheilvollen Vorhersagen von Verhängnis und dunklen Mächten etwas Wahres war?
Nein, gewiss nicht. Das war absurd. Aber was immer der Grund für ihre Vorahnungen war, sie musste Jack beschützen, so gut sie konnte - und das würde ihr nur gelingen, wenn sie genau wusste, womit sie es zu tun hatte.
Sosehr ihr die Vorstellung missfiel, es war Zeit, dass sie Simon Fitzstephen Auge in Auge gegenübertrat. Und sie durfte nicht vergessen, dass sie es war, die die besseren Karten hatte.
Nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte, wusch sie ihre Tasse im Spülbecken aus, schaltete das Licht aus und ging nach oben. Sie kroch unter die Decke, und kaum hatte sie sich an Jacks massige und beruhigend warme Gestalt geschmiegt, da fiel sie auch schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Wir, die Wachenden... verwünschen den Tag, da Thurstan kam... An jenem Tag senkte sich Finsternis auf uns herab.
Simon Fitzstephen saß neben Jack Montfort an dem runden Tisch in Fitzstephens Wohnzimmer und übersetzte laut, was Montfort soeben in seinen Notizblock geschrieben hatte. Im Kamin knisterte ein Feuer, die Stereoanlage spielte leise John Rutters Bearbeitung von William Byrds Miserere mei, und sie hatten die schweren Samtvorhänge zugezogen, da der Abend schon nahte.
Nachdem er Jack unter dem Vorwand zu sich eingeladen hatte, ihre genealogischen Nachforschungen fortführen zu wollen, regte Simon an, dass er noch einen Versuch unternehmen solle, Edmund um weitere Informationen zu bitten. Fitzstephen war davon überzeugt, dass die Anwesenheit der anderen den Prozess des automatischen Schreibens behinderte, und es hatte den Anschein, als sollten die Ergebnisse dieser Sitzung ihm Recht geben.
Thurstan war der erste normannische Abt von Glastonbury gewesen; König William hatte ihn nach der Eroberung aus Caen kommen lassen und als Nachfolger von Aethelnoth eingesetzt. Nach Simons Berechnungen musste Edmund dreizehn oder vierzehn gewesen sein, als Thurstan im Jahre 1077 das Amt übernahm.
Wieder bewegte sich Jacks Hand über das Papier: Die Kirche wurde nie vollendet... sie war verflucht. Eines Tages begab sich der Abt in den Kapitelsaal und führte Reden gegen die Mönche. Er sandte nach seinen Mannen, und sie fielen schwer bewaffnet über uns her. Entsetzt liefen wir in alle Richtungen davon. Manche flohen in die Kirche, wo sie sich sicher glaubten. Doch das Böse... an jenem Tag... Die Normannen brachen in den Chor ein... Einige schossen Pfeile in Richtung des Altarraumes, wo sie in dem Kruzifix über dem Alter stecken blieben. Viele... Mönche wurden verwundet... drei wurden getötet. Blut floss vom Altar auf die Stufen und von den Stufen auf den Steinboden herab...
»Wo warst du zu der Zeit?«, fragte Simon leise.
Ich hatte mich im Skriptorium versteckt, zwischen den Büchern. Doch ich sah alles... hinterher. Ich wusch die Leichen der Getöteten... und weinte um sie. Ich weine immer noch um das, was uns der Abt an jenem Tag geraubt hat.
»Was war das? Was hat ihnen der Abt weggenommen?«
Aber Jacks Hand lag jetzt reglos auf dem Papier, seine Finger entspannten sich, und kurz darauf blinzelte er.
»Ist irgendwas gekommen?«, fragte er, indem er den Stift hinlegte und sich streckte.
»Sehen Sie selbst.« Simon ging im Zimmer auf und ab, während Jack las, denn obwohl seine Übersetzungen besser geworden waren, dachte er immer noch nicht so mühelos auf Latein wie Simon.
Als Jack das Ende der Seite erreicht hatte, blickte er auf. »Da ist etwas, was ich nicht verstehe. Warum hat Thurstan >Reden gegen die Mönche geführt<? Hatten sie etwas Falsches getan?«
»Nein. Thurstan war zwar ein gottesfürchtiger Mann und hat viel gebaut, wie alle Normannen, doch er verbot den Mönchen, weiterhin den gregorianischen Gesang zu pflegen, der seit undenklichen Zeiten zur Tradition der Abtei gehört hatte, und ersetzte ihn durch einen französischen Choral von William von Fecamp. Als die Mönche dagegen protestierten, griff er sie an. Sie müssen verstehen, dass diese Neuerung für die Mönche keine Bagatelle war - der Gesang war ein fester Bestandteil ihres täglichen Lebens.«
»Und Edmund hat das alles miterlebt...«, meinte Jack nachdenklich. »Vielleicht war es ja noch mehr als das... wissen Sie noch, wie Winnie sagte, als sie Edmunds Schilderung des Gottesdienstes gehört habe, sei sie von einem gewaltigen Gefühl der Freude und der Harmonie überwältigt worden? Sie hat mir später erzählt, sie habe eine Vision gehabt, in der sie selbst in der Kirche war und die Mönche singen hörte...«
Würden die Wunder denn nie ein Ende nehmen, dachte Simon. Die pragmatische Winifred Catesby wäre der letzte Mensch gewesen, dem er eine Vision zugetraut hätte. Zu Jack sagte er: »Sie hat sie singen hören... Glauben Sie... Könnte es der Choral sein, den wir für Edmund zurückgewinnen sollen?«
»Das klingt ein wenig weit hergeholt. Die Gesänge sind doch sicherlich sehr gut dokumentiert -«
»Nein, warten Sie.« Simon war plötzlich ein Gedanke gekommen. Er trat an den Bücherschrank und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, bis er den gesuchten Band gefunden hatte. Doch die bloße Berührung hatte seinem Gedächtnis schon auf die Sprünge geholfen, und er hielt das Buch ungeöffnet in der Hand, während er sagte: »Es gibt eine keltische Überlieferung, der zufolge Joseph von Arimathia einen zwölfteiligen Choral nach Britannien mitbrachte, der von vorchristlichen ägyptischen Tempelpriestern stammte und über die Jahrhunderte hinweg heimlich von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Zwar weiß niemand genau, was in Glastonbury tatsächlich gesungen wurde, aber einige Quellen behaupten, es sei der einzige Ort gewesen, an dem dieser Choral in seiner ursprünglichsten Form von einem ständigen Chor gepflegt wurde... Wenn es nun dieser Choral war, den Thurstan verboten hat?«
»Und die Mönche hätten dafür ihr Leben riskiert?« Jacks Zweifel waren unüberhörbar.
»Vielleicht ja, wenn sie nämlich glaubten, das Überleben ihrer Gemeinschaft hinge davon ab. Das lateinische cantus bedeutet sowohl >Gesang< als auch >Zauberspruch<. Die Alten sahen in der Musik die stärkste Form der Magie, die dafür sorgte, dass die Menschen im Einklang mit dem Kosmos blieben und ihr Zusammenleben harmonisch verlief. Die Musik war fast immer Sache der Priesterschaft, und in manchen Kulturen wurden ihr solche Kräfte zugeschrieben, dass jede Musik, die von den rituellen Vorschriften abwich, strengstens verboten war. Und ein zwölfteiliger Choral war auch ein Bestandteil der keltischen Magie«, fuhr Simon fort. »Möglicherweise sind die beiden Traditionen im Lauf der Zeit miteinander verschmolzen und haben dabei noch an Bedeutung und Tragweite gewonnen.«
Jack stand auf und trat an den Kamin, um sich die Hände zu wärmen. »Angenommen, Sie haben Recht - wie sollen wir es denn schaffen, etwas Derartiges wiederzugewinnen? Ich wüsste überhaupt nicht, wo ich anzufangen hätte.«
»Vielleicht existieren irgendwelche Aufzeichnungen«, sagte Simon sinnend. »Da könnte die Verbindung zu Ihrer Familie liegen.«
Es war ihnen gelungen, eine Linie der Montforts bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückzuverfolgen, doch sie hatten keinerlei Verbindung entdecken können zwischen jenem Montfort - einem Wollhändler aus Glastonbury - und Edmund, dem Mönch, der im zwölften Jahrhundert in der Abtei gelebt hatte. Als sie Edmund direkt befragt hatten, war seine Antwort nur gewesen: »Blut hilft zuweilen, die Verbindung herzustellen. .. oftmals verschleiert es...« Im Lauf der Monate hatte Simon an ihrem Gesprächspartner aus dem Jenseits immer deutlicher bestimmte Charakterzüge unterscheiden können, und hier gab sich Edmund wieder einmal besonders zugeknöpft.
Jack wippte auf den Fußballen auf und ab, eine Angewohnheit, die bei einem so schweren Mann hätte unbeholfen wirken müssen, was jedoch nicht der Fall war. »Glauben Sie ernsthaft, dass so ein Dokument all die Jahre hindurch unversehrt geblieben sein könnte?«
«Erst vor kurzem sind in einer Pfarrkirche Urkunden der Abtei gefunden worden.« Simon war bemüht, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Ein unberührtes Fragment der Vergangenheit zu entdecken, es in den Händen zu halten -
»Aber nehmen wir an, wir finden diesen Choral, was tun wir dann damit? Wir könnten ihn schließlich nicht selbst singen -«
»Wir wollen doch nicht das Pferd beim Schwanz aufzäumen«, sagte Simon beschwichtigend. »Vielleicht sind wir ja wirklich auf der falschen Spur. Es ist allerdings bemerkenswert, dass die meisten von uns - Ihre anglikanische Freundin eingeschlossen - ein ausgeprägtes Interesse an Kirchenmusik haben.«
»Winnie! Verdammt, ich soll in einer Viertelstunde zum Abendessen im Pfarrhaus sein. Das habe ich vollkommen vergessen. Und Winnie hat die Erzdiakonin mit ihrem Mann eingeladen und auch ihren Bruder - sie will wohl irgendwie versuchen, Frieden zu stiften -, da wird bestimmt der Teufel los sein, wenn ich nicht auftauche. Ich sollte wirklich die Beine in die Hand nehmen.«
Simon folgte ihm hinaus auf die Veranda, wo er eine Weile stand, ohne die Kälte zu beachten, und zu dem Stückchen Sternenhimmel aufblickte, das durch eine Lücke im Laubwerk des Gartens zu sehen war. Hatte Jack Montfort überhaupt eine Vorstellung von der Bedeutung dessen, was sie soeben in Erfahrung gebracht hatten? Oder von den Möglichkeiten, die darin verborgen lagen?
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass er nichts ahnte, dachte Simon. Sie waren jetzt über das Stadium der Gesellschaftsspiele hinaus, und es war an der Zeit herauszufinden, auf wen man sich verlassen konnte. Er ging ins Haus, um seine Autoschlüssel zu holen, und machte sich auf den Weg, um jemanden zu besuchen.
Faith hatte den Eindruck, dass es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel, den verdammten Berg hoch zu gehen. Die steil ansteigende Wellhouse Lane war jetzt noch tückischer durch die glitschige Masse von welkem Laub, die den Asphalt bedeckte, und wenn sie stürzte, würde sie so hilflos sein wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte. Das Baby hatte seine Füße fest gegen ihr Zwerchfell gestemmt, und der Druck seines Kopfes auf ihren Ischiasnerv verursachte stechende Schmerzen, die ihr bis in den Oberschenkel fuhren. Jedenfalls hatte Garnet ihr das so erklärt, und Garnet musste es ja wissen.
Faith blieb schnaufend stehen, drückte mit der flachen Hand gegen ihr Kreuz und schüttelte ihre Füße aus, die schon vom stundenlangen Stehen hinter der Theke des Cafes geschwollen waren. Unter sich konnte sie das Plätschern von Wasser hören. Diese Hügel waren von einem Netz von Wasseradern durchzogen - es floss durch die unter dem Asphalt verlegten Röhren, sickerte unter den Randbefestigungen hervor und quoll aus allen Winkeln und Spalten.
Der Rauch eines Holzfeuers hing schwer in der stillen, feuchten Luft. Garnet hatte bestimmt den Ofen geheizt, und Faith malte sich aus, wie der Rauch aus dem Schornstein auf-stieg und sich über den Hang ausbreitete wie ein Mantel, der alles darunter vor den Blicken der Sterblichen verbarg. Aber solche sonderbaren Gedanken hatte sie in letzter Zeit öfter, und ihre Träume waren noch sonderbarer.
Es war merkwürdig - je näher der Geburtstermin ihres Babys rückte, desto mehr vermisste sie ihre eigene Mutter. Sie träumte jetzt oft, dass sie die Stimme ihrer Mutter hörte, wie sie ihren Namen rief - und manchmal spürte sie sogar, wie sie ihr die Hand auf die Stirn legte und ihr über das Haar strich - und dann erwachte sie in dem stillen, kalten Zimmer, wo das einzige Lebewesen die hellbraune Katze war, die zusammengerollt am Fuß ihres Bettes lag.
Sie machte sich wieder an den mühevollen Anstieg und setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den rutschigen Asphalt. Zu ihrer Linken erhob sich der massive Kegel des Tor und verdunkelte den Himmel. In der ersten Zeit, nachdem sie bei Garnet eingezogen war, hatte sie Vergnügen daran gefunden, zu der Quelle oberhalb des Hauses hinaufzuklettern und den Blick über die Levels schweifen zu lassen; dort konnte sie sich in längst vergangene Jahrhunderte zurückversetzen und sich vorstellen, wie das Land zu ihren Füßen mit Wasser bedeckt gewesen war - vom Sommersee, aus dem Glastonbury als Insel herausragte.
Aber jetzt war die Anziehungskraft des Tor zu stark - sie trug sie mit sich herum, im Wachen wie im Schlaf. Stand dieses Gefühl einer erdrückenden Energie im Zusammenhang mit dem, was Jack und die anderen zu tun versuchten? Oder war es etwas gänzlich anderes, etwas, das so alt und dunkel war, dass es jenseits der Erinnerung lag?
Sie wünschte, sie hätte mit Winnie darüber sprechen können. Winnie hörte zu, ohne zu urteilen, ohne zu versuchen, einen zu ihrer Sicht der Dinge zu bekehren. Aber nach dem, was Garnet ihr erzählt hatte, war sie sich nicht mehr sicher, dass sie Winnie vertrauen konnte. Das machte sie traurig, genau wie ihre Entscheidung, sich nicht mit ihrer Familie zu treffen. Sosehr sie ihr auch fehlte - dies war nicht ihr Weg, und das wusste Faith ebenso sicher, wie sie wusste, dass sie zwei Menschenleben in ihren Händen hielt.
Der Geruch des Holzfeuers wurde stärker, als sie am Hoftor angelangte. Unter dem spitzen Schieferdach des Hauses lag der Hof in tiefem Schatten. Doch als sie den Riegel der Pforte mit einem klickenden Geräusch öffnete, ging die Haustür auf. Garnets Umrisse tauchten vor dem warmen Schimmer der Küche auf. Besorgt spähte sie in die Dunkelheit hinaus, und Faith eilte ihr entgegen.
Bis auf Andrew Catesby war Jack Winnies Gästen zuvor noch nicht begegnet.
Die Erzdiakonin Suzanne Sanborne, Winnies unmittelbare Vorgesetzte, war eine Frau in den Vierzigern mit kurz geschnittenem dunklem Haar, dessen mit silbernen Strähnen durchsetzte Locken ihr eher kantiges Gesicht umrahmten. Sie hatte eine offene und direkte Art und ein Talent, ihrem Gegenüber jede Befangenheit zu nehmen, und Jack wusste, dass Winnie sie ebenso sehr mochte wie bewunderte.
Ihr Ehemann, David Sanborne, war Arzt und hatte eine gut gehende Praxis in Street. Seine sanfte Art bildete einen interessanten Kontrast zu der energischeren Persönlichkeit seiner Frau.
Die Sanbornes schienen beide mit Andrew Catesby gut bekannt zu sein, ebenso wie Winnies Freundin Fiona Allen und deren Mann Bram. Die beiden Frauen hörten Andrew mit gebannter Aufmerksamkeit zu und lachten wie aufs Stichwort über seine Geschichten, und es kam Jack merkwürdig vor, dass ein Mann, der so anziehend auf Frauen wirkte, nie geheiratet hatte. Andrew verstand es geschickt, ihn aus der allgemeinen Unterhaltung auszuschließen, doch es schien niemand sonst aufzufallen, und Jack begnügte sich damit, die anderen zu beobachten, bis Winnie die Gesellschaft zum Essen rief.
Winnie hatte das Esszimmer auberginefarben gestrichen, was den weiten Raum kleiner und intimer wirken ließ. Über dem Tisch hatte sie einen viktorianischen Kronleuchter aufgehängt, den sie in einem Trödelladen entdeckt hatte. Sie hatte das Messing so lange poliert, bis es glänzte, und dann die Kerzen eingesetzt. Der Effekt war bezaubernd. Und auch Winnie sah im Kerzenschein bezaubernd aus mit ihrem nachtblauen Samtkleid, dessen Farbe das Blau ihrer Augen und ihren zarten Teint besonders gut zur Geltung brachte. Bildete Jack sich nur ein, dass Andrew seine Schwester noch aufmerksamer beobachtete als sonst?
Als der erste Gang serviert war, wandte sich David Sanborne an Andrew: »Gibt es vielleicht irgendwelche neuen archäologischen Projekte, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
»Es gibt immer Projekte - was nicht so reichlich vorhanden ist, sind die Mittel dafür.« Andrew setzte ein giftiges Lächeln auf. »Ist eben nicht sehr schlagzeilenträchtig, dieses Buddeln nach Tonscherben aus dem sechsten Jahrhundert. Aber dann kommen Typen daher, die sich Pendragon nennen und auf der Suche nach einem Schatz die High Street mit einem Bulldozer aufreißen, und so was steht dann auf der Titelseite.«
Suzanne lachte. »Die Geschichte hat im Stadtrat für einigen Wirbel gesorgt. Mr. Pendragon dürfte wohl als echter englischer Exzentriker durchgehen.«
»Das kann ich nur bestätigen.« Bram Allen lächelte. »Das Ganze hat sich direkt vor meiner Galerie abgespielt, ich hatte also einen Platz in der ersten Reihe. Er sah aus, als sei er gerade von König Artus’ Tafelrunde entsprungen, mit wehenden weißen Haaren und einem sternengeschmückten Umhang. Sie mussten ihn mit Gewalt wegschaffen, den armen Kerl - und den Bulldozer hat die Polizei beschlagnahmt.«
»Reif für die Anstalt, wenn Sie mich fragen«, sagte Andrew zu laut. »Diese Hokuspokus-Jünger sind doch alle nicht ganz richtig im Kopf, mit ihrem Geschwätz von Träumen und Visionen.«
Fiona Allen war plötzlich sehr still, und in das betretene Schweigen hinein sagte Winnie: »Die biblischen Propheten wären mit dieser Ansicht vielleicht nicht ganz einverstanden, meinen Sie nicht auch, Suzanne?«
Die Unterhaltung nahm wieder ihren Lauf, während sie sich mit dem gedünsteten Lachs mit Dillsauce und neuen Kartoffeln befassten, doch ein deutliches Gefühl des Unbehagens lastete nun auf der Runde.
Nach dem Salat servierte Winnie Zitronenröllchen, die sie, wie sie bereitwillig zugab, im Laden gekauft hatte. »Für Desserts fehlt mir die Geduld«, erklärte sie. »Das ist mir alles zu umständlich - das ganze Abmessen und Mixen und Sieben.«
»Warum sollte man sich auch die Mühe machen, wenn es so was hier zu kaufen gibt?« Mit einem zufriedenen Seufzer verzehrte Fiona ihren letzten Bissen. »Denk dran, wenn ich das nächste Mal zum Mittagessen komme, erwarte ich, dass du mir so was vorsetzt.«
»Hoffentlich nicht zu bald«, warf ihr Mann ein. »Sonst sind die Wände meiner Galerie bald leer. Fiona verbringt neuerdings mehr Zeit mit Essenseinladungen als mit Malen.«
»So eine Art Malhemmung, würden Sie sagen?«, fragte David Sanborne interessiert.
»So was in der Art«, erwiderte Fiona gereizt, indem sie Bram einen beleidigten Blick zuwarf.
»Möchte jemand Kaffee?«, rief Winnie fröhlich, und aus dem Chor der bejahenden Antworten war Erleichterung herauszuhören.
»Ich helfe dir, ja?«, bot sich Andrew an, als sie aufstanden, um ins Wohnzimmer zurückzugehen.
»Jack und ich kommen schon klar«, gab Winnie zurück, und der Blick, den Andrew Jack zuwarf, hätte töten können. Nachdem Jack Winnie geholfen hatte, den Tisch abzuräumen, und ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, ignorierte er Andrew bewusst. Er legte eine CD mit Händels Dixit Dominus ein, und während die Unterhaltung um ihn herum dahinplätscherte, dachte er an sein Gespräch mit Simon. War es möglich, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lagen - dass es der verlorene Choral der Abtei war, den sie für Edmund finden sollten?
Winnies Warnung vor Simon kam ihm in den Sinn, doch er tat sie ohne weitere Zweifel ab. Sicherlich hatte Winnie sich geirrt - vielleicht in dem übereifrigen Bemühen, ihren verstorbenen Freund zu verteidigen. Und wenn nicht - wenn Simon wirklich so skrupellos gewesen war, dann konnte Jack sich immer noch nicht vorstellen, dass es mehr gewesen sein sollte als ein vereinzelter Vorfall, den Simon später bedauert hatte.
In der Hoffnung, einen Augenblick mit Winnie allein sein zu können, ging er in die Küche. Sie stand mit dem Rücken zu ihm an der Anrichte und stapelte Tassen und Untertassen auf einem Tablett. Er fasste sie an den Schultern, beugte sich herab und küsste ihren entblößten Nacken gleich oberhalb des Ausschnitts. Sie ließ sich entspannt an ihn sinken, und er schloss sie in die Arme.
Doch bevor er etwas sagen konnte, verspürte er ein Kribbeln im Nacken und einen leichten Luftzug. Er wandte sich um und sah Andrew Catesby in der Tür stehen, der sie beobachtete.
»Oh, Andrew, das ist gut - dann kannst du ja gleich den Kaffee reinbringen«, sagte Winnie, als ob gar nichts geschehen sei, doch Jack hatte das Gift in den Augen ihres Bruders gesehen.
Mit einem gezwungenen Lächeln hielt sie Jack das Tablett mit dem Käse hin, und als er damit hinausging, hörte er Andrew sagen: »Ist das vielleicht ein angemessenes Benehmen für eine Priesterin, so um ihn herumzuscharwenzeln wie ein billiges Flittchen?«
Winnie fauchte eine Erwiderung, die Jack nicht richtig verstehen konnte. Er drehte sich um, bereit zum Eingreifen, als Winnie mit hochroten Wangen aus der Küche kam.
»Winnie -«
»Später. Wir sollten uns lieber um die Gäste kümmern.«
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer, und nachdem Andrew sich zu ihnen gesellt hatte, meinte David Sanborne: »Gute Wahl, der Händel. Ich glaube, der Chor von Somerfield wird genau dieses Stück an Weihnachten aufführen - hab ich Recht, Schatz?« Er sah seine Frau an.
»Unser Nigel wird große Mühe haben, seinen Sopranpart zu behalten, fürchte ich. Wir beten alle, dass seine Stimme noch ein paar Monate hält.«
»Es muss frustrierend sein für Jungen in diesem Alter; da ist man weder Fisch noch Fleisch«, sagte Winnie, deren Wangen immer noch gerötet waren. »Und wenn sie das dann irgendwie hinter sich gebracht haben und ihnen schon ein paar Haare aus der Brust sprießen, dann werden sie versetzt und bekommen es mit Andrew zu tun.«
»Ich tue, was ich kann«, sagte Andrew. »Die meisten sind ja wirklich bösartige, hinterhältige kleine Scheißer. Ihr Sohn bildet selbstverständlich eine Ausnahme.« Er nickte den Sanbornes zu.
David Sanborne grinste. »Taugen sie was dieses Jahr, die Primaner?«
»Auch nicht weniger als sonst - was bedeutet, dass ein Wunder nötig wäre, um aus ihnen gute Historiker zu machen.« Er schoss Jack einen boshaften Blick zu. »Montfort ist ja so eine Art Amateurhistoriker. Warum erzählen Sie den anderen nicht von Ihrem Interesse an der Geschichte der Abtei?«
Dieses Schwein, dachte Jack, während er verzweifelt nach einer akzeptablen Antwort suchte. »Bloß ein wenig regionale Ahnenforschung, das ist alles. Es ist merkwürdig, aber nachdem ich beide Eltern verloren hatte, wurde mir plötzlich klar, dass ich gerne mehr über meine Familie herausfinden würde. Es ist mir gelungen, die Montforts in Glastonbury bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückzuverfolgen, aber wenn man noch weiter forscht, wird das Bild unscharf.«
»Montfort ist doch sicherlich ein französischer Name«, meinte Fiona, die seit der Bemerkung ihres Mannes über ihre Malerei geschwiegen hatte. »Wenn Ihre Ahnen sich erst nach der normannischen Eroberung hier angesiedelt haben, dann würde das erklären, warum die Spur sich verliert.«
»Gibt es Verbindungen zu Simon de Montfort, dem Reformer?«
»Ein interessanter Gedanke«, meinte Andrew nachdenklich, »aber dieser de Montfort nahm ein böses Ende. Wenn ich mich recht entsinne, hat sein revolutionärer Eifer dazu geführt, dass er auf dem Schlachtfeld niedergemetzelt wurde.«
»Simon Fitzstephen war mir eine große Hilfe«, sagte Jack, als er Winnie erbleichen sah. »Ich bin sicher, wenn es eine Verbindung gäbe, hätte er sie aufgedeckt.«
»Ja, aber hätte er es Ihnen auch gesagt?«, murmelte Suzanne. Und dann, als sie merkte, wie alle Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet waren, schüttelte sie ein wenig den Kopf. »Oh, das hätte ich nicht sagen sollen. Ich habe wohl schon zu viel Wein getrunken. Ich meinte nur, es ist schon mal vorgekommen, dass Simon Informationen für sich behalten hat, wenn es für ihn von Vorteil war. In der Kirchenpolitik kann es zuweilen überraschend intrigant zugehen, und Simon hat das Spiel schon immer meisterlich beherrscht.«
David Sanborne stand auf. »Ich denke, ich sollte dich besser nach Hause bringen, bevor du noch mehr Geheimnisse ausplauderst. Und ich habe morgen Frühdienst - Sie wissen ja, wie es heißt: Bauern und Ärzte können nie richtig ausschlafen.«
»Wir gehen dann am besten auch«, sagte Bram Allen. »Fiona braucht ihre Ruhe. Es war ein interessanter Abend. Irgendwie einmalig, könnte man sagen.«
Als sie sich verabschiedeten, ergriff Fiona Jacks Hand. Mit einem Seitenblick auf ihren Mann sagte sie leise: »Ich freue mich wirklich, Sie kennen gelernt zu haben.«
Es war ein angenehmer Abend. Die Luft war frisch, und die Sterne strahlten hell und klar von einem wolkenlosen Himmel herab. Als die beiden Paare gegangen waren, blieb Andrew auf dem Treppenabsatz stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Winnie rückte näher zu Jack und legte den Arm um seine Hüfte.
»Na, dann sollte ich die jungen Liebenden wohl besser allein lassen, was?«, zischte Andrew, machte auf dem Absatz kehrt und ging mit großen Schritten davon. Einen Augenblick später sahen sie seinen Wagen die Auffahrt hinunterrasen.
Jack nahm Winnie bei der Schulter, ging mit ihr ins Haus und schloss die Tür. Im helleren Licht der Eingangshalle konnte er sehen, dass in ihren Augen mühsam zurückgehaltene Tränen standen.
»Er hat sich scheußlich benommen«, sagte sie. »Absolut scheußlich.«
»Es tut mir Leid, Schatz. Es ist meine Schuld, ich habe dich da hineingezogen -«
»Wenn irgendjemand Schuld hat, dann ich, weil ich es nicht habe kommen sehen - aber für sein Verhalten gibt es trotzdem keine Entschuldigung.«
»Winnie, er ist eifersüchtig! Und ich glaube, er hat panische Angst, dich zu verlieren.«
»Nein, irgendetwas stimmt da nicht, irgendetwas Ernstes, aber er will ja nicht mit mir reden. Fast unser ganzes Leben lang waren wir die besten Freunde, und jetzt scheine ich plötzlich der Erzfeind zu sein.«
»Lass uns jetzt nicht an Andrew denken.« Er zog sie an sich heran und strich ihr übers Haar. »Du frierst. Komm mit ans Feuer. Ich muss dir etwas erzählen.«
Gemma schob den Stuhl zurück, streckte sich und gähnte ausgiebig, dann nippte sie noch einmal an dem Rest von kaltem Tee in ihrem Becher. Die Uhr an dem Herd in ihrer winzigen Kochecke zeigte halb zwölf, und wenn sie nicht bald zu Bett ginge, würde sie morgen bei der Arbeit mit der Müdigkeit zu kämpfen haben. Lustlos schob sie die Papiere auf dem Tisch zusammen und stand dann auf, um auf Strümpfen in Tobys Zimmer zu schleichen.
Obwohl es eine der ersten kalten Herbstnächte war, hatte er sich von dem kleinen Federbett freigestrampelt und lag auf dem Bauch, alle viere von sich gestreckt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er zu groß für sein Kinderbett war; aber wie sollten sie irgendetwas Größeres in diesem Zimmer unterbringen, das im Grunde nur eine Abstellkammer war?
Sie strich noch einmal über die Bettdecke und wandte sich mit einem Seufzer ab. Irgendwie würden sie klarkommen müssen. Sie war noch nicht bereit, über einen Auszug aus der Garagenwohnung nachzudenken - mit der einen Veränderung in ihrem Leben hatte sie zunächst einmal genug zu tun.
Die Eingewöhnung in den neuen Job war schwieriger, als sie geglaubt hatte. Damals in Notting Hill war sie zwar ein Greenhorn gewesen, doch sie hatte sich auch nur um ihr eigenes kleines Revier kümmern müssen. In den vergangenen zwei Monaten hatte sie herausgefunden, dass die Wirklichkeit einer Führungsposition etwas völlig anderes war, und sie brachte einen Berg von Papierkram mit sich, der nie kleiner wurde - daher auch ihre Mitternachtsschicht mit dem kalten Tee am Küchentisch. Dazu kam noch der latente Sexismus ihres Chief Inspectors und einiger der männlichen Beamten, die ihr unterstellt waren. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie ihr dienstliches Verhältnis zu Kincaid als selbstverständlich hingenommen hatte und wie sehr sie dadurch gegen offene Vorurteile abgeschottet gewesen war.
Verschärft wurden die Probleme noch durch ihre erzwungene Trennung von Kincaid: Wenn sie Glück hatten, ließen ihre Dienstpläne ihnen einige wenige gemeinsame Stunden in der Woche. Sie sagte sich jeden Tag aufs Neue, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, dass es mit der Zeit leichter werden würde, dass sie nicht anfangen würde, über Veränderungen zu jammern, die sie selbst so gewollt hatte. Aber immer öfter musste sie feststellen, dass sie noch wach lag, wenn sie schon längst hätte schlafen sollen, und ruhelos über die Frage nachgrübelte, was sie denn nun wirklich von ihrem Leben erwartete.
Sie goss den Rest ihres Tees in den Ausguss und spülte die Tasse ab, dann ging sie im Zimmer hin und her, schlug die Bettdecke zurück und sammelte umherliegende Spielsachen und Bücher auf. Sie empfand diese Routinehandlungen als beruhigend, denn wenn sie auch körperlich müde war, fühlte sie doch, dass sie noch keinen Schlaf finden würde.
Beim Herumstöbern in dem Schrankkoffer, der ihr als Garderobe diente, stieß sie auf ein altes Flanellnachthemd, das sie seit dem letzten Winter nicht mehr getragen hatte. Einen Augenblick lang hielt sie den Stoff an ihre Wange, genoss das weiche Gefühl auf ihrer Haut und atmete das Rosenaroma des Duftkissens ihrer Mutter ein. Das Nachthemd war ein heiß ersehntes Weihnachtsgeschenk von ihren Eltern gewesen, als sie noch zur Schule ging, und sie konnte sich nie dazu durchringen, sich davon zu trennen, auch nicht während ihrer Ehe mit Rob, der das Teil mit einer Leidenschaft hasste, die er sich normalerweise für gegnerische Fußballteams aufsparte.
Sie schlüpfte aus ihren Kleidern und zog das Nachthemd über, dann suchte sie sich ein Paar dicke Socken heraus. So gegen die Kälte gewappnet, ging sie ins Bad und bürstete ihr Haar, bis es knisterte, worauf sie ihr Gesicht wusch und sich die Zähne putzte. Die Toilette hob sie sich bis zum Schluss auf - aus einer Art Aberglauben heraus -, doch als sie das Papier anschließend untersuchte, war keine Spur von Rot darauf zu finden.
Die Panik, die in ihr aufstieg, machte sie schwindelig und benommen. Aber es gab keinen wirklichen Grund zur Besorgnis, redete sie sich ein - sie war nur wenige Tage über die Zeit, und es bestand gewiss kein Anlass, Kincaid irgendetwas zu sagen. Noch nicht.