* 10

 

... für den großen Geist, die Quelle des Lebens, müssen alle Dinge, im Raum wie in der Zeit, stets präsent sein... eine einmal begonnene Handlung dauert immer fort... so ist die Vergangenheit immer gegenwärtig, obgleich unsere gewöhnlichen Sinne zum Zwecke der Anpassung an dieses irdische Leben so eingerichtet sind, dass sie für diese Phänomene nicht empfänglich sind.

 

Catherine Crowe, aus: Die Nachtseite der Natur

 

Unter einem bleifarbenen Himmel legten sie Kilometer um Kilometer zurück. Nachdem sie Reading hinter sich gelassen hatten, wurde der Verkehr auf der M4 schwächer, und Gemma konnte sich so weit entspannen, dass ihr das Fahren sogar Spaß machte. Kincaid war auf dem Beifahrersitz eingenickt, den Kopf an die Kopfstütze gelehnt. Sie waren vor sieben in London losgefahren in der Hoffnung, dem Höhepunkt des morgendlichen Berufsverkehrs zu entgehen.

  Er hatte sie am Nachmittag zuvor angerufen und sie zu einem verlängerten Wochenende in Glastonbury eingeladen. Ihre erste Reaktion war ein kategorisches Nein; es hatte sich einfach zu viel Arbeit auf ihrem Schreibtisch angestaut. Kincaid blieb geduldig und erinnerte sie daran, dass sie befugt war, Aufgaben zu delegieren, und dass sie seit Beginn ihres neuen Jobs kein komplettes Wochenende mehr freigenommen hatte.

  Innerlich vor Wut kochend, hatte sie eine dringende Besprechung vorgeschoben und den Hörer aufgelegt. Doch hinterher, während der kurzen Ruheperiode nach der Mittagspause, saß sie an ihrem Schreibtisch und fragte sich, ob Kincaid nicht Recht hatte. Als sie gerade frisch befördert war, hatte er sie gewarnt, die größte Gefahr für Leute in Führungspositionen bestehe darin, sich für unersetzlich zu halten. War sie, ohne es zu ahnen, dieser Täuschung erlegen? Sie hatte ein fähiges Team, und obwohl es diverse unaufgeklärte Fälle gab - eine Serie kleinerer Einbrüche in der Portobello Road, einen Vergewaltiger, der sich als guter Samariter ausgab -, war nichts darunter, womit ihre Kollegen nicht für einige Tage allein fertig geworden wären.

  Und während sie in den Becher mit kaltem Kaffee starrte, der ihr ganzes Mittagessen darstellte, musste sie sich eingestehen, dass sie erschöpft war. In letzter Zeit hatte sie weder richtig gegessen noch geschlafen. Vielleicht würde ihr ein Wochenendausflug helfen, wieder auf den Damm zu kommen.

  Sie hatte Kincaid zurückgerufen und seinen Vorschlag angenommen. Und bevor er antworten konnte, hatte sie hinzugefügt: »Aber ich fahre. Wenn du glaubst, ich tue mir die lange Fahrt nach Somerset in deiner ollen Klapperkiste an, dann hast du dich getäuscht.«

  Jetzt, als sie sich nach ihm umdrehte, wie er vollkommen entspannt auf dem Sitz neben ihr saß, wurde ihr bewusst, dass ihr Arbeitseifer in den vergangenen Wochen vielleicht nicht nur reine Pflichterfüllung gewesen war - sie hatte es auch vermieden, Zeit mit Duncan zu verbringen.

  Was war sie doch für ein Feigling! Um ihren Verdacht zu bestätigen, musste sie nur in die nächste Apotheke gehen und sich einen Test besorgen. Aber dann würde sie sich mit den Alternativen auseinander setzen müssen - und mit Kincaids Reaktion, falls sie sich entscheiden sollte, das Kind auszutragen.

  Würde er erfreut sein? Entsetzt? Es war ihnen zwar gelungen, den Riss zu glätten, der durch ihren Weggang von Scotland Yard entstanden war, doch sie wusste, dass die Wunde noch nicht ausgeheilt war. Unter der Oberfläche schwärte sie weiter, und ihre Beziehung stand seither auf schwankendem Boden. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er gerade erst begonnen hatte, sich auf einen zwölfjährigen Sohn einzustellen, der plötzlich in sein Leben getreten war. Wie würde er damit umgehen, wenn er plötzlich auch noch sie und Toby und obendrein noch ein ungeborenes Baby am Hals hätte? Es war ja nicht so, als könne sie nicht allein zurechtkommen, das hatte sie bereits bewiesen, aber im Augenblick war ihr der bloße Gedanke daran schon zu viel.

  O Gott, wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können, gerade jetzt, wo in ihrem Job so viel auf dem Spiel stand? Sie war an einem Punkt in ihrer Karriere angelangt, wo sie nichts weniger gebrauchen konnte als einen  Mutterschaftsurlaub. Und wie würden ihre neuen Vorgesetzten auf einen schwangeren und unverheirateten Detective Inspector reagieren?

  Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und konzentrierte sich darauf, einen LKW zu überholen, um den Escort anschließend wieder in die mittlere Spur zu lenken. Das passierte ihr in letzter Zeit viel zu oft: beim geringsten Anlass gleich loszuheulen. Ein schlechtes Zeichen. Außer Kontrolle geratene Hormone, gemischt mit einer gehörigen Dosis Selbstmitleid. Die Ironie der ganzen Situation ließ sie prustend auflachen, worauf Kincaid neben ihr blinzelte und sich in seinem Sitz zu räkeln begann.

  »’tschuldigung. Hab ich geschnarcht?«

  »Im Gegenteil, du hast ganz sanft geschlummert. Aber du könntest mal einen Blick auf die Karte werfen. Ich glaube, unsere Ausfahrt kommt bald.«

  Er griff hinter sich und fischte den großformatigen Autoatlas von der Rückbank. Nachdem er einen Blick auf die aufgeschlagene Seite geworfen hatte, sagte er: »Ausfahrt 17 Richtung Chippenham, Bridgewater und Taunton.«

  »An der 16 sind wir schon vor ein paar Kilometern vorbeigefahren.« Regentropfen begannen gegen die Windschutzscheibe zu klatschen, und Gemma schaltete die Scheibenwischer ein. »Es wird von Minute zu Minute dunkler.«

  »Hoffentlich kein schlechtes Omen für das Wochenende«, meinte Kincaid grinsend. »Soll ich das letzte Stück fahren?«

  »Es geht noch.«

  »Du willst mir ja bloß nicht das Steuer überlassen.« Kincaid klopfte mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett. »Na, bist du nicht froh, dass du endlich mal einen Grund hast, mit dem guten Stück über die Autobahn zu brausen?«

  »Ich freue mich darauf, deinen Cousin kennen zu lernen«, gab sie zurück. »Weil er mich dann nämlich über all eure peinlichen Jungenstreiche aufklären kann. Aber im Ernst«, fuhr sie fort und warf ihm einen Seitenblick zu, »das klingt ja schon ein bisschen nach Verfolgungswahn, wenn er sagt, jemand hätte seine Freundin absichtlich überfahren. Ich hoffe, du reitest dich da nicht in irgendeine unangenehme Geschichte rein.«

  »Jack ist wirklich der Letzte, den ich als übertrieben misstrauisch oder ängstlich bezeichnen würde. Aber ich habe ihn seit Emilys Tod nicht mehr gesehen. Vielleicht hat er sich ja verändert.«

  Seine Frau und ihr neugeborenes Kind, hatte Kincaid ihr erzählt. Gemma überlief es eiskalt. Man durfte gar nicht daran denken. »Wie lange ist es jetzt her, dass sie gestorben ist?«, fragte sie.

  »Zwei Jahre. Ungefähr zu der Zeit, als wir anfingen, zusammen zu arbeiten.«

  Wie unerfahren sie damals gewesen war. Und wie wenig sie von dem geahnt hatte, was sich zwischen ihnen entwickeln sollte.

  »Werden wir bei ihm übernachten?«, fragte sie.

  »Er hat nichts gesagt. Soweit ich mich erinnere, ist das Haus so ein großer viktorianischer Klinkerbau. Es steht direkt am Fuß des Tor.«

  »Des Tor?«

  »Du wirst schon sehen«, antwortete er geheimnisvoll. »Als ich noch klein war, fand ich ihn immer ganz aufregend und auch ein bisschen gruselig, aber Jack schien das egal zu sein. Wahrscheinlich, weil er dort aufgewachsen ist.«

  Fasziniert von diesem unbekannten Aspekt seiner Kindheit, fragte Gemma nach: »Hast du sie oft besucht?«

  »Nur ein paar Mal. Gewöhnlich kamen sie uns besuchen. Ich glaube, meine Tante Olivia hat ihr Heimweh nach Cheshire nie so ganz überwunden.«

  »Deine Mutter hat also den Familienbesitz geerbt?«

  Er lachte. »Das klingt ja, als wäre es irgendein gewaltiges Landgut. Es ist bloß ein ziemlich weitläufiges altes Bauernhaus, und auch hier und da schon ein wenig undicht. Ich werde es dir irgendwann mal zeigen. Dir und Kit.«

  »Das würde mich freuen«, antwortete Gemma unverbindlich, da sie das Thema nicht weiter verfolgen wollte. Stattdessen fragte sie: »Was hat Kit dazu gesagt, dass wir übers Wochenende weg sind?«

  »Er hatte schon Pläne mit den Millers gemacht. Eine Hundeausstellung in Bedford.«

  »Hat Ian sich mal wieder zu dem Job in Kanada geäußert?«

  »Nein. Er will sich immer noch nicht festlegen. Warum, weiß ich nicht.«

  »Vielleicht will er ja den Job, hat aber ein schlechtes Gewissen deswegen.«

  »Er muss sich bis zum Beginn des Frühjahrssemesters entscheiden.« Kincaids Verärgerung war offensichtlich. »Ich will nicht, dass die Umstellung für Kit noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon sein muss.«

  »Nimmst du da nicht zu viel vorweg, wenn du davon ausgehst, dass Ian nicht darauf bestehen wird, Kit nach Kanada mitzunehmen? Das Recht dazu hat er schließlich.«

  »Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er es wirklich tut. Das würde ihn zu sehr in seiner Lebensart behindern. Momentan kommt er bei den Damen ganz gut an mit seiner Nummer vom trauernden Witwer mit Kind, aber in einer neuen Umgebung könnte sich Kit eher als Klotz am Bein für ihn erweisen.«

  »Das ist aber ganz schön hart.«

  »Aber wahr.«

  Gemma musste ihm beipflichten. Im Laufe der Zeit hatte sie von Kit schon das eine oder andere über Ians »Tutorien« hinter der verschlossenen Tür von Vics ehemaligem Büro mitbekommen.

  Als sie ihre Ausfahrt erreicht hatten, verfielen sie in Schweigen, und bald schon fuhren sie in südlicher Richtung, mit dem Flachland von Wiltshire zur Linken und den sanft ansteigenden Hügeln von Somerset zur Rechten. In Trowbridge nahmen sie die A 361 in Richtung Shepton Mailet und Glastonbury. Im Westen wurde es allmählich heller.

  »Vielleicht verziehen sich die Wolken ja wieder«, meinte Kincaid hoffnungsvoll, und als sie durch das idyllisch am Hang gelegene Dorf Pilton fuhren, nur noch wenige Kilometer östlich von Glastonbury, erwies sich seine Vorhersage als korrekt. Die dichte Wolkendecke war aufgerissen und einem milchigblauen Himmel gewichen, an dem nur ein paar dünne Wolkenfetzen dahinzogen.

  Gemma, die sich auf die Straße konzentrierte, erblickte plötzlich aus dem Augenwinkel einen seltsamen kegelförmigen Berg, der nach der nächsten Kurve bereits wieder verschwunden war. »Was in aller Welt war das?«

  »Der Glastonbury Tor.«

  Am Horizont wurde der Berg wieder sichtbar, und dieses Mal blieb er auch dort. Er sah künstlich aus, wie ein von Menschenhand errichteter Hügel, und auf dem Gipfel war der gedrungene Umriss eines Gebäudes zu sehen, das einem Papierhut von der Sorte glich, wie man sie in Knallbonbons findet. »Hat irgendjemand den künstlich errichtet?«, fragte Gemma.

  »Nein. Der Berg selbst ist eine geologische Formation. Die Form der Hänge könnte durchaus Menschenwerk sein, aber wenn das so ist, dann liegt es so lange zurück, dass niemand mehr weiß, wer es gemacht hat und warum.«

  »Und das Bauwerk auf dem Gipfel?«

  »Das ist der St.-Michaels-Turm. Der einzige Überrest einer Kirche aus dem zwölften Jahrhundert, die von einem Erdbeben zerstört wurde. Der Legende nach war es der letzte Rückzugsort der Christen im Kampf gegen die Heiden.«

  »Das glaubst du doch wohl nicht?«

  Er schüttelte den Kopf. »Ich bin dort oben gewesen. Der Wind bläst durch den Turm hindurch wie ein Messer, und die Steine sind kälter als das Grab. Ich bezweifle, dass irgendetwas Christliches sich auf diesem Gipfel lange Zeit halten konnte.«

 

»Bist du sicher, dass du nicht hineingehen und dich ein paar Minuten zu ihr setzen willst?«, fragte Suzanne Sanborne. »Ich glaube, es würde ihr helfen -«

  »Nein!« Als er die erschrockenen Blicke der anderen Besucher bemerkte, senkte Andrew seine Stimme zu einem Fauchen. »Du verstehst das nicht. Unsere Eltern -« Er brach ab; selbst nach so vielen Jahren brachte er es immer noch nicht fertig, das Entsetzen in Worte zu fassen, das er damals empfunden hatte - damals, als man ihn gezwungen hatte, am Bett seiner bewusstlosen Mutter zu stehen. Sie war schon zu lange im Wasser gewesen, als man sie vor der Küste von Dorset aus dem Wrack ihres Segelbootes geborgen hatte. Und nun Winnie...

  »Dann solltest du dir etwas Ruhe gönnen. Du tust Winnie keinen Gefallen, wenn du dich derart erregst.«

  »Ich kann nicht schlafen.« Andrew verschränkte seine sichtlich zitternden Hände zwischen den Knien, um sie ruhig zu stellen. Sie saßen in der Besucherzone vor dem Eingang zur Intensivstation und warteten darauf, dass die Schwestern Suzanne einen weiteren zehnminütigen Aufenthalt an Winnies Bett einräumten.

  »Dann gehst du eben noch in der Praxis vorbei und lässt dir von David Tabletten verschreiben. Ich bleibe hier und bei Winnie, bis Jack kommt. Es ist nicht nötig, dass du -«

  »Was gibt ihm das Recht, hier zu sein?« Die Wut, die sich über Monate in ihm aufgestaut hatte, brannte wie Salzsäure in seiner Kehle. »Dir vorzuschreiben, wie du deine Zeit einzuteilen hast, das Pflegepersonal herumzukommandieren -«

  »Jack ist hier, weil Winnie es so wünschen würde.« Wieder diese leichte Berührung von Suzannes Fingern an seinem Arm, wieder der unverwandte Blick, den er nicht erwidern konnte. »Andrew, wir sind schon so lange befreundet. Jack ist ein guter Mensch, und deine Schwester bedeutet ihm sehr viel. Was könntest du dir denn mehr für sie wünschen?«

  »Jemanden, der kein Spinner ist«, entgegnete er verbittert. Er hatte die Aufzeichnungen gelesen, die sie offen im Pfarrhaus hatte herumliegen lassen, so als ob eine Korrespondenz mit einem toten Mönch nichts sei, wofür man sich schämen müsste. Ja, er wusste alles über ihre kleine esoterische Tafelrunde, und es machte ihn krank.

  Aber das war nicht die volle Wahrheit. Er hatte nie sein Leben mit einer anderen Frau als seiner Schwester teilen wollen, und Jack Montfort hatte ihm das weggenommen. Der vertraute Rhythmus ihrer gemeinsam verbrachten Tage war für ihn wie ein Anker gewesen, ein ruhender Pol, und ohne sie trieb er hilflos dahin.

  Und als ob das noch nicht genug wäre (so dachte er, als er sich von Suzanne verabschiedete), hatte er jetzt auch noch erfahren, dass Montfort Winnie gefährlich nahe an Dinge herangeführt hatte, die sie nie erfahren sollte... Dinge, die um jeden Preis vor ihr verborgen werden mussten.

 

Nachdem er einen ganzen Vormittag zu Hause verbracht und sich so lange wie möglich mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen aufgehalten hatte, konnte Bram Allen sich nicht länger davor drücken, in die Galerie zu fahren - so ungern er Fiona allein lassen mochte.

  Wäre er gestern Abend zu Hause gewesen, dann hätte er Jack Montfort vielleicht daran hindern können, die schreckliche Erinnerung an Winnie Catesbys Unfall wieder aufzuwühlen. Warum musste ausgerechnet Fiona Winnie auf der Straße finden? Und warum wollte Winnie Fiona aufsuchen - vorausgesetzt, das stimmte tatsächlich -, ohne eingeladen oder zumindest angekündigt zu sein?

  Stirnrunzelnd knöpfte er sein sauber gebügeltes Hemd zu, wählte eine Krawatte aus und ging nach seiner Frau sehen.

  Er fand sie im Atelier. Sie saß auf ihrem Hocker, doch zu seiner Erleichterung war die Staffelei leer, und sie hatte die Hände müßig in den Schoß gelegt.

  »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte er und nahm sie in die Arme. Früher einmal hatte er geglaubt, er hätte das Zeug zum Künstler. Und dann begegnete er Fiona, sah die Leinwand unter ihrem Pinsel zu strahlendem Leben erwachen und wusste von da an, dass er diese Gabe nie besitzen würde. So förderte er also ihre Arbeit nach Kräften, schirmte sie von den Unbilden des Lebens ab und empfand mit ihr gemeinsam den Stolz auf ihren Erfolg - so lange, bis sie begann, das eine Motiv zu malen, dessen Anblick er nicht ertragen konnte.

  Fiona ließ sich mit dem Rücken an seine Brust sinken. »Es ist nur... da ist diese merkwürdige Spannung in den Dingen. Ich dachte, wenn ich anfinge zu malen, würde sie sich lösen; aber als ich dann Winnie fand, war ich mir sicher, dass meine Empfindung darauf vorausgedeutet hatte. So etwas wie Präkognition vielleicht. Aber das Gefühl ist immer noch da.«

  »Es könnte einfach nur Stress sein, allgemeine Überlastung. Versuch dir nicht zu viele Gedanken zu machen, Schatz.«

  »Sicher hast du Recht«, murmelte Fiona, aber er war keineswegs überzeugt, dass sie wirklich so dachte.

  Er schloss sie fester in die Arme. »Ich liebe dich, Fi. Das weißt du doch, nicht wahr?«

  »Natürlich weiß ich das. Wie kommst du nur darauf, dass es anders sein könnte?« Sie tätschelte seine Hand. »Geh nur. Um mich musst du dir keine Sorgen machen, das verspreche ich dir.«

  Damit musste er sich zufrieden geben.

 

Vorsichtig öffnete Jack die Tür des Gästeschlafzimmers um einen Spalt und spähte hinein. Faith lag auf der Seite und hatte das Kinn auf die zu Fäusten geballten Hände gelegt. Der Anblick ihres unschuldigen, im Schlaf entspannten Gesichts gab ihm einen Stich. Das Mädchen dort im Bett hätte sein Kind sein können, dachte er, seine kleine Olivia - wenn sie nur überlebt hätte.

  Er wandte sich ab, schloss lautlos die Tür und ging zurück in die Küche. Weil ihm niemand sonst mehr eingefallen war, den er hätte anrufen können, hatte er David Sanborne aus dem Bett geklingelt und ihn gebeten, nach Faith zu sehen. Erschöpfung, Stress und Unterkühlung, so hatte Davids Diagnose gelautet - nichts, was man mit einer Wärmflasche und reichlich Ruhe nicht hätte beheben können. Allerdings musste das Mädchen in Zukunft auf solche verrückten Eskapaden verzichten, wenn sie nicht riskieren wollte, dass die Wehen vorzeitig einsetzten.

  Aber nachdem Jack ihr endlich eine einigermaßen schlüssige Geschichte entlockt hatte, ging Faith ihm mit ihrer Sorge um Garnet so lange auf die Nerven, bis er schließlich die Polizei anrief. Der Dienst habende Beamte inYeovil erklärte ihm, sie könnten Garnet Todd vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden nicht offiziell als vermisst melden. Jack hinterließ eine Nachricht für Detective Greely, und erst danach war Faith in einen unruhigen Schlaf gefallen.

  Nachdem er selbst ein paar Stunden geschlafen hatte, verbrachte Jack den Vormittag damit, Anrufe entgegenzunehmen Und selbst im Krankenhaus nachzufragen. Winnies Zustand war weiterhin stabil, und Suzanne Sanborne hatte sich erboten, den Vormittag über bei ihr zu bleiben.

  Inzwischen wartete er auf die versprochene Ankunft seines Cousins. Duncan hatte am Abend zuvor angerufen und angekündigt, dass er übers Wochenende kommen würde. So erleichtert er auch war, begann Jack dennoch, sich Gedanken zu machen. Wie sollte er die Ereignisse der vergangenen Monate erklären? Würde Duncan ihn für ebenso verrückt halten, wie es die Polizei offensichtlich tat? Doch das spielte keine Rolle, sagte er sich. Er musste Duncan davon überzeugen, dass Winnie in Gefahr war. Und jetzt hatte er auch noch Angst um Faith.

  Wie viel von dem wirren Zeug, das sie gestern Abend von sich gegeben hatte, waren Fieberfantasien gewesen? Nick hatte am Morgen angerufen und gesagt, er glaube, Garnet habe Winnie mit ihrem Lieferwagen angefahren. Aber warum sollte Garnet Todd so etwas tun? Und wenn es stimmte - wo war denn Garnet jetzt?

  Jack füllte den Kessel mit Leitungswasser und löffelte dann lose Teeblätter in die alte Brown-Betty-Teekanne aus Terrakotta, die seiner Mutter gehört hatte. Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass Tee das Denken stimulierte? Wenn das der Fall war, dann hätte er nach der nächsten Tasse Sherlock Holmes Konkurrenz machen können; doch in seiner Suche nach Antworten war er noch keinen Schritt weitergekommen.

  Er hatte soeben das kochende Wasser in die Kanne gegossen, als es an der Haustür klingelte. Jack eilte hin und riss die Tür weit auf.

  Während er seinem Cousin die Hand schüttelte, stellte er fest, dass der hohläugige Blick, der ihm beim letzten Treffen an Duncan aufgefallen war, verschwunden war. Aber wer war die hübsche Rothaarige an seiner Seite?

  Mit einem herzlichen Lächeln streckte sie ihm die Hand hin. »Jack, ich bin Gemma James. Ich nehme an, Duncan hat Ihnen gesagt, dass ich mitkomme?« Der Blick, den sie seinem Cousin zuwarf, war zugleich liebevoll und vernichtend. »Deine Manieren lassen einiges zu wünschen übrig, mein Schatz.«

  Sie hatten zuallererst die heikle Frage geklärt, wo sie übernachten würden. Jack entschuldigte sich vielmals und erklärte, dass er gerade jemanden im Gästezimmer untergebracht habe, er würde aber mit seinen Sachen in sein altes Zimmer umziehen und ihnen das große Schlafzimmer überlassen. Angespornt durch einen gezielten Tritt gegen den Knöchel, den Gemma ihm unter dem Küchentisch verpasste, zierte Kincaid sich und sagte, sie würden sich irgendwo eine Pension suchen, worauf Jack ein Haus in der Nähe der Abtei empfahl.

  Gemma atmete innerlich auf. Sie fand das düstere alte Haus mit seinen hässlichen viktorianischen Möbeln deprimierend, und die dunkle Masse des Glastonbury Tor, die den Garten hinter dem Haus überschattete, erweckte in ihr unerwartete klaus-trophobische Gefühle. Es schien, als könne der Berg jeden Moment nach vorne kippen und das Haus unter sich begraben.

  Beim Tee berichtete Jack stockend von seinem Erlebnis mit dem automatischen Schreiben. Er erzählte, wie er Winnie Catesby kennen gelernt hatte und wie die anderen nach und nach zu der Gruppe gestoßen waren, und er schloss mit Garnet Todds plötzlichem Verschwinden am Tag zuvor.

  Wenn Kincaid von Jacks Geschichte in irgendeiner Weise überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Seine Miene blieb neutral und drückte lediglich wohlwollendes Interesse aus - eine Demonstration seiner Kunst des Zuhörens, die Gemma bewusst machte, wie schmerzlich sie die Arbeit mit ihm vermisste.

  »Kannst du es auf Kommando?«, fragte Kincaid, als Jack eine Pause machte. »Das automatische Schreiben meine ich?«

 

  »Ich - ich weiß nicht. Ich habe es schon oft genug in Gegenwart von Nick oder Simon Fitzstephen gemacht, aber -«

  Kincaid beugte sich vor; das Leuchten in seinen Augen verriet sein Interesse. »Was musst du dafür tun?«

  »Ich brauche nur Stift und Papier, und dann muss ich Zusehen, dass mein Kopf frei ist. Ich muss über irgendetwas Belangloses reden oder zuhören, wie jemand aus der Zeitung vorliest. Manchmal funktioniert es und manchmal nicht.«

  »Dann versuchen wir es doch einmal. Ich werde dir assistieren.« Der Blick, den Kincaid seinem Cousin zuwarf, war herausfordernd. Gemma fragte sich, welchen Unfug die beiden wohl in den langen Sommern in Cheshire zusammen angestellt hatten.

  Sie sah ihnen zu, wie sie sich gegenüber von ihr an den Tisch in Jacks mit Gerätschaften überladener Küche setzten, und hörte zu, wie Kincaid einen unverständlichen Artikel über irgendwelche Finanzdinge aus dem Guardian vorlas, während Jack entspannt dasaß und Stift und Papier bereithielt. Jack Montfort war kräftiger als sein Cousin, er hatte einen helleren Teint und gröbere Gesichtszüge, aber wenn man genau hinsah, erkannte man die Ähnlichkeit. Was noch offensichtlicher zu Tage trat, war die Ungezwungenheit ihres Umgangs, der Eindruck von erprobtem gegenseitigem Vertrauen und bewährter Kameradschaft. Und der Mann wirkte zweifellos vernünftig und ausgeglichen, trotz all seiner Sorgen und Probleme. Konnte diese bizarre Geschichte, die er ihnen erzählt hatte, denn tatsächlich wahr sein?

  Kincaids Stimme und ihre eigenen abschweifenden Gedanken hatten sie eingelullt, und so fuhr Gemma heftig zusammen, als Jacks Kugelschreiber sich plötzlich über das Papier zu bewegen begann. Er schrieb ohne Pause und ohne auf das Blatt zu schauen. Seine halb geschlossenen Augen schienen irgendeinen fernen Punkt zu fixieren.

  Nachdem er mehrere Seiten voll geschrieben hatte, legte er den Stift nieder. »Es hat geklappt, wie ich sehe«, sagte er und blickte auf die verstreuten Blätter herab.

  »Sie meinen, Sie wissen gar nicht, was Sie geschrieben haben?«, fragte Gemma.

  »Ich denke, auf einer gewissen Ebene ist es mir bewusst, aber ich kann es nicht verarbeiten - es ist wie atmosphärisches Rauschen in einem Radio.«

  Kincaid tippte auf eines der Blätter. »Was steht denn da nun?«

  »Ich muss erst übersetzen, also habt bitte ein wenig Geduld ...

  »O Herr, vergib mir, denn ich habe mich schwer versündigt gegen Dich. Sind die Tage meiner Fleischeslust auch nicht mehr als eine ferne Erinnerung, so spüre ich doch noch immer ihre Haut, zart wie Gänsedaunen, und die runde Fülle ihrer Brüste...«

  Jack brach stirnrunzelnd ab und räusperte sich. Gemma fand es sympathisch, dass er ein wenig rot geworden war.

  »Alys war ihr Name, erst sechzehn und doch schon eine Frau; sie war die Tochter eines Steinmetzen, der gekommen war, die Schäden an der Kirche zu reparieren. Sie fand Gefallen an mir und wartete auf mich, wenn ich zum Brunnen ging. Der Worte wurden wenig gewechselt zwischen uns... wir kamen zusammen in Triebhaftigkeit und Lust, wie das Vieh es tut.

  Die Arbeit war vollendet, da fand Alys, dass sie ein Kind unter ihrem Herzen trug. Sie bat mich flehentlich, ihr Kräuter zu geben... Zu meiner Schande tat ich ihr den Willen... um meiner Feigheit und meiner Lust willen habe ich uns alle ins Unglück gestürzt...

  Bei Bruder Ambrosius, der sich meiner angenommen hatte, stahl ich das benötigte Elixier. Dazu gab ich ihr, was mir das Kostbarste war... ein Band zwischen uns, das stärker war als der Tod. Dann gingen Alys und ihr Vater fort von der Abtei. Solche Trauer hatte ich noch nie gekannt; sie fesselt mich noch immer an diesen Ort...

  Jack starrte die anderen mit großen Augen an. »Diese Frau - Alys - sie wollte ihr Baby abtreiben. Glaubt ihr nicht auch, dass er darauf hinauswill?«

  Gemma, die von der Geschichte des Mädchens und der Zwangslage, in die es geraten war, extrem bewegt war, sagte: »Es - es wäre durchaus möglich, denke ich. Sie waren damals sehr geschickt im Gebrauch von Kräutern, und die Position des Mädchens wäre schließlich unhaltbar gewesen, nicht wahr? Edmund hätte sie nicht heiraten können.«

  »Ich vermute, man hätte es so interpretiert, dass sie sich auch gegen die Kirche versündigt hatte, indem sie Edmund verführte, und nicht etwa umgekehrt«, gab Kincaid zu bedenken.

  »Aber wenn Alys es sich nun anders überlegte? Oder wenn die Kräuter vielleicht nicht wirkten?«, fragte Jack. »Wir haben monatelang nach einer verwandtschaftlichen Beziehung gesucht - vielleicht durch eine Nichte oder einen Neffen -, da wir vermuteten, die Beziehung zwischen Edmund und mir könnte eine genetische Komponente haben.«

  »Ein uneheliches Kind?«, meine Kincaid sinnend. »In diesem Fall hätte es keinerlei Dokumente gegeben.«

  »Das muss ich Simon sagen. Das lässt die Sache in einem neuen Licht erscheinen« - Jack schnitt eine Grimasse -, »obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass uns der Versuch, die Tochter eines fahrenden Steinmetzen aus dem elften Jahrhundert aufzuspüren, sehr viel weiter bringen wird.« Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügte er hinzu: »Und jetzt muss ich sowieso erst mal ins Krankenhaus. Als ich heute Morgen mit Nick telefonierte, meinte er, er würde um die Mittagszeit herkommen und sich um Faith kümmern. Ich wollte sie nicht gerne allein lassen, solange Garnet immer noch -«

  »Ihr habt sie also noch nicht gefunden?«

  Verblüfft drehten sie sich alle zur Tür um. Wie lange hatte das Mädchen schon da gestanden und alles mitgehört? Ihr kurzes Haar stand vom Kopf ab, als sei sie eben erst aus dem Bett gekrochen; auf ihrer Wange war noch der Abdruck des Kopfkissens zu sehen. Als sie ins Zimmer trat, sah Gemma, wie das Gewicht das Kindes, das sie im Leib trug, ihren schlanken Körper plump und unbeholfen machte.

  Jack war der Erste, der die Fassung wieder fand. »Nein, leider nicht. Faith, das hier sind mein Cousin Duncan und seine Freundin Gemma. Sie sind gekommen, um zu helfen.«

  »Ich glaube nicht, dass das irgendjemand kann«, sagte Faith leise. In ihren dunklen Augen schimmerten Tränen.

  »Setz dich«, sagte er in besänftigendem Ton, während er auf-stand und ihr einen Stuhl zurechtrückte, »und trink erst mal eine Tasse Tee. Ich bin sicher, dass Garnet nichts fehlt -«

  Es klingelte an der Tür. »Das muss Nick sein«, sagte Jack hastig und verschwand in Richtung Diele.

  Doch die mit gedämpfter Stimme vorgebrachte Erwiderung auf Jacks Begrüßung hatte den unverkennbaren Unterton des Offiziellen, wenn auch Gemma nicht genau verstehen konnte, was gesagt wurde. Kincaid hatte es auch bemerkt - er war aufgestanden und eilte nun ebenfalls zur Tür. Gemma warf noch einen raschen Blick auf Faith, die sich auf den Stuhl niederließ, den Jack ihr hingestellt hatte, dann folgte sie Duncan.

  Als sie an der Haustür ankam, zeigte Kincaid gerade einem kräftigen Mann mit Tweedjacke und schütterem rotem Haar seine Dienstmarke. »Duncan Kincaid von Scotland Yard«, sagte er und gab dem Mann die Hand. Zu Gemma gewandt, fügte er hinzu: »Inspector James.«

  Sie bemerkte Jacks Verblüffung, während sie dem Ankömmling ebenfalls die Hand schüttelte - sie hatte sich zuvor nicht mit ihrem Dienstgrad vorgestellt.

  »Alfred Greely, Kripo Somerset.« Greely hatte einen starken  West-Country-Akzent, und sein Blick war unverhohlen abschätzend. »Könnten wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«

  »Wir gehen am besten in die Küche«, erwiderte Jack. »Ist es wegen Winnie - Miss Catesby?«

  »Ich fürchte nein, Mr. Montfort. Sie sollen gestern Nacht angerufen und eine gewisse Miss Garnet Todd als vermisst gemeldet haben.«

  Als sie die Küche betraten, deutete Jack mit einer Kopfbewegung auf Faith. »Diese junge Dame wohnt bei Miss Todd. Sie kam gestern Abend zu mir, nachdem Garnet nicht nach Hause gekommen war.«

  Als Greelys Blick auf sie fiel, schien Faith noch weiter in ihrem Stuhl zusammenzusinken. »Ich fürchte, wir haben Miss Todd gefunden«, sagte er. »Einem Herrn ist bei seinem Morgenspaziergang rund um den Tor aufgefallen, dass ein Weidegatter ein ungewöhnlicher Ort ist, um einen Lieferwagen abzustellen, worauf er etwas genauer hingeschaut hat.«

  »Garnets Wagen?« Faith war erschreckend blass geworden.

  »Ich fürchte ja, Miss. Und sie war drin.«

  »Tot?«

  »Ja. Es tut mir Leid.«

  Faiths Augen wirkten in ihrem bleichen Gesicht riesig. »Dann hat sie sich also umgebracht«, sagte sie, und Gemma hätte schwören können, dass in ihrer Stimme Erleichterung schwang.

  »O nein«, entgegnete Greely, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Ich habe den dringenden Verdacht, dass Miss Todd ermordet wurde.«