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Glastonbury ist die einzige große religiöse Gründung unserer britischen Vorfahren in England, die ohne Unterbrechungen die Periode der angelsächsischen und normannischen Eroberungen überlebt hat, und seine erhabene Geschichte führt uns zurück bis in die Zeit der frühesten christlichen Ansiedlung in Britannien.

 

Frederick Bligh Bond, aus:

Architektonisches Handbuch der Abtei von Glastonbury

 

An einem milden Juniabend stand Gemma James neben Duncan Kincaid in einer Bankreihe in der St. John’s Church in Hampstead. Sie waren gekommen, um Kincaids Nachbarn, Major Keith, bei der Abendmesse mit seinem Chor singen zu hören.

  Gemma war mit den dürftigen Traditionen des methodistischen Gottesdienstes groß geworden und fühlte sich bei den Anglikanern immer noch etwas befangen. Sie beobachtete Kincaid genau und stand auf, wenn er aufstand; wenn er kniete, ließ auch sie sich unbeholfen auf die Knie nieder, und sie bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der er die Antworten sprach. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, sie hier zu sehen, dachte sie mit einem kleinen Lächeln, doch bei der Laufbahn, die Gemma eingeschlagen hatte, war sie missbilligende Reaktionen von ihrer Mutter gewohnt.

  Die Musik aber entschädigte sie voll und ganz für das Unbehagen, das die Gottesdienstordnung ihr bereitete. Gemma verfolgte eifrig das Programm in ihrem Faltblatt: zuerst das wunderschöne Eröffnungsgebet, dann ein Psalm, dann das Magnificat und das Nunc Dimittis.

  Dann war ein Rascheln zu hören, als der Chor sich wieder erhob und zu singen begann. Eine Stimme nach der anderen fiel ein, und jede jubilierte noch freudiger als die vorige. Der Klang traf Gemma mit einer nahezu körperlichen Wucht - so reich war er, so voll, dass es den Anschein hatte, als verdränge er selbst die Luft. Sie erzitterte und musste blinzeln, weil ihr die Tränen in die Augen stiegen.

  Kincaid sah sie mit hoch gezogenen Augenbrauen von der Seite an und legte ihr den Arm um die Schultern. »Frierst du?«, fragte er, indem er lautlos die Lippen bewegte.

  Sie schüttelte den Kopf und schlug den Text in ihrem Faltblatt nach. Das Ave Maria von Robert Parsons. »Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade; der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes«, lautete die Übersetzung.

  Gemma schloss die Augen und ließ sich von dem voll tönenden, pulsierenden Klang tragen. Der Rest des Gottesdienstes verging wie in einem Traum.

  »Alles in Ordnung?«, fragte Kincaid, als sie hinterher mit der Menge nach draußen gingen. Die tief stehende Sonne tauchte die knorrigen Bäume des sanft abfallenden Friedhofs in dunkle Schatten.

  »Die Musik...«

  »Sehr hübsch, nicht wahr? Die haben einen guten Chor hier in St. Johns.« Er pfiff leise vor sich hin. »Ich habe dem Major versprochen, dass wir ihm einen Drink spendieren. Was hältst du vom Freemason’s Arms? Es ist noch warm genug, um draußen zu sitzen.«

  Gemma blickte ihn konsterniert an. Groß und schlank, mit widerspenstigem kastanienbraunem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und dem fragenden, interessierten Blick, mit dem er auf sie herabsah - so präsentierte er geradezu das Idealbild des sensiblen, verständnisvollen Mannes. Wie kam es dann, dass sie plötzlich das Gefühl hatte, er und sie hätten ebenso gut von verschiedenen Planeten stammen können?

  Wie konnte er eine solche Musik so selbstverständlich hinnehmen? Hatte er nicht gespürt, dass ihre Herrlichkeit fast die Grenze des Erträglichen überstieg? Die Kluft zwischen seiner und ihrer Wahrnehmung schien immens.

  »Ich - ich habe Toby versprochen, heute rechtzeitig zum Baden und Vorlesen zu Hause zu sein.« Aber das war gelogen. Die Wahrheit war, dass sie Zeit brauchte, um ganz in sich aufzunehmen, was sie gerade gehört hatte. Außerdem belastete sie das, was sie ihm sagen wollte, aber nicht über die Lippen brachte, zu sehr, als dass sie sich auf Small Talk hätte einlassen können. »Ich nehme die U-Bahn«, sagte Gemma. »Warte du ruhig auf den Major. Und grüß ihn von mir.«

  »Bist du sicher?«, fragte Kincaid. Für einen Moment verriet sein Gesicht seine Enttäuschung, bevor er es in eine Miene freundlicher Neutralität zwingen konnte.

  »Wir sehen uns morgen früh im Yard.« Sie legte ihm die Hand in den Nacken und gab ihm einen raschen Kuss, eine wortlose Entschuldigung. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, machte sie kehrt und ging mit großen Schritten davon.

  Doch bevor sie die Heath Street überquerte, um zur U-Bahnstation am oberen Ende der Hampstead High Street zu gelangen, hielt sie inne. Der Blick von hier oben über die Dächer von London hinweg in Richtung Süden verfehlte nie seine inspirierende Wirkung auf sie. Am liebsten stellte sie sich dann Hampstead als das Dorf vor, das es einmal gewesen war, ein schattiger, stiller Ort im Grünen, wo die Luft noch frei war von den giftigen Dämpfen und dem schmutzigen Nebel, der London dort unten im Tal erstickte.

  Diese Vision stand in krassem Kontrast zum Inneren der U-Bahnstation Hampstead, der tiefsten in ganz London. Gemma fand noch einen Sitzplatz in dem überfüllten Zug, wo sie sich große Mühe gab, die hygienischen Unzulänglichkeiten des Mannes neben ihr zu ignorieren, während sie das Echo des Chors in ihrem Kopf widerhallen ließ. So groß waren die Belastungen der letzten paar Monate gewesen, dass selbst eine halbe Stunde in der U-Bahn ihr ein willkommener Anlass war, ihre Gedanken zu sammeln.

  Durch den Tod seiner geschiedenen Frau zwei Monate zuvor war Kincaid zu einem elfjährigen Sohn gekommen, von dessen Existenz er bis zu diesem Zeitpunkt nichts geahnt hatte. Seine angestrengten Bemühungen, mit dieser komplizierten Beziehung zu Rande zu kommen, gepaart mit der Schuld, die er wegen des Todes der Mutter des Jungen empfand, hatten zu erheblichen Spannungen in seinem Verhältnis zu Gemma geführt. Und dann, gerade als sie glaubte, es sei etwas Ruhe in ihre Beziehung eingekehrt, musste sie sich mit einem besonders schwierigen Fall und ihrem eigenen tiefen Gefühl der Verbundenheit zu einem der Verdächtigen auseinander setzen.

  Letzten Endes war sie nicht bereit gewesen, die Bande zu lösen, die sie und Kincaid geknüpft hatten, doch der Vorfall verunsicherte sie nachhaltig. Sie spürte die heraufziehende Veränderung, und das löste in ihr den Wunsch aus, umso fester in der Gegenwart Fuß zu fassen und weiterzumachen wie bisher.

  In Islington stieg sie aus der U-Bahn aus und ging langsam durch die vertrauten Straßen zu ihrer Garagenwohnung, während die Dämmerung sich auf den Sommertag herabsenkte. Hazel, ihre Vermieterin, passte auf Gemmas Sohn Toby auf; eine Abmachung, die Gemma ein so beschauliches Jahr verschafft hatte, wie es sich eine berufstätige allein erziehende Mutter nur wünschen konnte.

  Gemma betrat den Garten durch das Garagentor und hoffte, sie würde ihren Sohn und Hazels Tochter Holly noch draußen beim Spielen antreffen. Aber auf den Steinplatten der Terrasse waren nur überstürzt zurückgelassene Spielsachen zu sehen, und aus einem offenen Fenster drang ausgelassenes Lachen an ihr Ohr.

  »Findet da etwa eine Party ohne mich statt?«, scherzte sie, indem sie zur Küchentür hereinschaute.

  »Mami!« Toby rutschte von seinem Stuhl am Küchentisch herunter, kam auf sie zugeschossen und schlang die Arme um ihre Oberschenkel.

  Sie hob ihn hoch, um ihn zu drücken und abzuküssen; dabei fiel ihr auf, dass sie dazu mehr Kraft zu brauchen schien als noch vor einer Woche. »Du hast ganz bestimmt Steine gegessen«, neckte sie, kniff ihn zärtlich in die Wange und setzte ihn mit einem gespielten Stöhnen wieder ab.

  »Wir haben Knete gemacht«, erklärte Hazel, die gerade aus dem Wohnzimmer kam. »Aus Mehl, Wasser und Lebensmittelfarbe. Zum Glück ist die ungiftig, denn ich glaube, die zwei haben mehr gegessen als modelliert. Wie sieht’s mit Abendessen aus? Es gibt Käsesuppe und frisch gebackenes Brot.«

  Hazel Cavendish war eine jener Frauen, denen alles mühelos von der Hand zu gehen schien, und Gemma hatte ihren Neid längst aufgegeben und durch uneingeschränkte Bewunderung ersetzt. »Käsesuppe liebe ich über alles«, sagte sie, »aber« - sie warf einen Blick auf die Kinder, Toby, der darauf bestand, dass sein fleckiger grüner Kneteklumpen ein Dinosaurier sei, und Holly, die ebenso unerschütterlich behauptete, es handle sich um eine Katze - »die Kleinen scheinen sich vorläufig noch ganz wohl zu fühlen. Würde es dir was ausmachen, wenn ich vorher noch ein bisschen Klavier übe?«

  »Nimm dir ein Glas Wein mit«, befahl Hazel. Sie nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte Gemma ein Glas ein.

  Gemma ging damit ins Wohnzimmer und bahnte sich einen Weg durch die überall verstreut liegenden Spielsachen, vorbei an den abgenutzten und durchgesessenen Polstermöbeln zu dem Klavier, das an der hinteren Wand stand. Es war ein altes Instrument, nicht gerade im allerbesten Zustand, aber Gemma war dankbar, dass sie überhaupt etwas hatte, worauf sie spielen konnte. In ihrer winzigen Wohnung war gewiss kein Platz für ein Klavier, selbst wenn sie sich eines hätte leisten können.

  Sie setzte sich auf den Schemel, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und brachte ihre Finger über der Tastatur in Stellung. Sie konnte immerhin versuchen, das Gefühl wieder aufleben zu lassen, das sie in der Kirche gehabt hatte, wenn auch in abgeschwächter Form. Ihre Noten waren auf dem Ständer - Bosworths Übungenfür Anfänger oder auch »das grüne Buch«, wie sie es gerne nannte -, und das Präludium in C-Dur war aufgeschlagen. Sie spielte jede einzelne Note mit großer Konzentration - linke Hand, rechte Hand... lauter, leiser -, dann die beiden letzten Systeme mit beiden Händen zusammen. Die Koordination machte ihr immer noch Mühe, aber mit jeder Stunde, die sie übte, wurde es leichter. Ihre Lehrerin war von ihren Fortschritten angetan, und Gemma war wild entschlossen, sich die Stunde am Samstag unter allen Umständen frei zu halten.

  Sie spielte ihre Übungen durch, kostete die wenigen Minuten voll aus, in denen sie an nichts denken musste außer an die Abfolge der Noten und in denen sie nichts wahrnahm bis auf den Klang der Musik. Aber allzu schnell war sie am Ende angelangt, und sie wusste, dass sie sich nur davor gedrückt hatte, über das Problem nachzudenken, mit dem sie schon seit Monaten rang.

  In den zwei Jahren, die sie Superintendent Duncan Kincaids Partnerin war, hatte ihre persönliche Beziehung zuweilen ihre berufliche Zusammenarbeit belastet - und doch auch bereichert. Sie kannten einander, konnten voraussehen, wie der andere denken und reagieren würde, und so hatte sich ihre Partnerschaft zu einer fein abgestimmten kreativen Einheit entwickelt: zu einem Ganzen, das mehr war als die Summe seiner Teile.

  All dies war Gemma bewusst, und es war ihr auch klar, wie viel es für sie beide bedeutet hatte, ihre Tage zusammen zu verbringen, einander so nahe zu sein und alles zu teilen.

  Aber sie war nicht zur Polizei gegangen, um ihre Karriere als Sergeant zu beschließen. Es war Zeit für eine Beförderung, und wenn sie sich nicht bald rührte, würde man sie als Blindgänger abtun. Aus dem Rennen, ihre Karriere noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag zu Ende, all ihre hoch fliegenden Träume zerplatzt.

  Eine ganz einfache Rechnung, wenn man es so sah. Aber die Beförderung zum Inspector würde die Zuteilung eines neuen Aufgabenbereichs zur Folge haben, vielleicht die Versetzung in eine andere Einheit, und damit das Ende ihrer beruflichen Zusammenarbeit mit Kincaid. Und sie konnte sich nicht überwinden, ihm zu sagen, wozu sie sich entschlossen hatte.

  Sie stand auf und ließ den Deckel des Klaviers hart auf die Tastatur fallen. Es würde nicht einfacher werden, also wäre es das Beste, endlich auf die Ausreden zu verzichten und die Sache durchzuziehen. Gleich morgen früh würde sie ihn beiseite nehmen und ihm sagen, was gesagt werden musste. Und dann würde sie den Konsequenzen ins Auge sehen.

 

Von der Stelle aus, wo Andrew Catesby stand, auf dem Gipfel des Wirral Hill, konnte er sich beinahe einbilden, in der Ferne die Mündung des Brue zu sehen, die leichte Senke, die den Übergang vom Land zum Meer markierte. Im Norden erhoben sich die Mendips, im Süden die etwas weniger hohen Hügel der Polden Ridge, und im Westen, zwischen seinem Standort und dem Meer, erstreckte sich die weite Ebene der Somerset Levels. Wann genau, fragte er sich, war ihm die Freude an dieser Aussicht abhanden gekommen? War denn gar nichts gefeit gegen diesen Zorn, der von ihm auszuströmen und alles zu beflecken schien, was er berührte?

  Phoebe, seine Spanielhündin, zog an ihrer Leine, und Andrew band sie los, damit sie noch ein wenig umhertollen konnte, bevor das Tageslicht ganz verschwunden war. Er wandte sich um und sah unten die Lichter des Safeway-Super-markts an der Straße nach Street, jenseits davon die ansteigende Flanke der Stadt selbst, und dahinter schließlich den allgegenwärtigen Schatten des Tor. Glastonbury war natürlich nicht wirklich eine Insel, schon seit Menschengedenken nicht mehr. Es war allerdings eine Art Halbinsel, verbunden mit dem höher gelegenen Gelände im Osten durch einen Vorsprung aus geschichtetem Kalkstein. Aber zu den verschiedensten Zeiten musste Glastonbury den Reisenden, die sich von Westen her genähert hatten, wie eine Insel erschienen sein - noch heute, da das Meerwasser durch ausgedehnte Deiche und tiefe Wassergräben, die so genannten rhynes, gebändigt war, konnten schwere Regenfälle dazu führen, dass das Wasser wieder gegen den Fuß des Wirral Hill klatschte. Andrew zog diesen Namen bei weitem der gebräuchlicheren Bezeichnung »Wearyall Hill« vor, einer direkten Anspielung auf die Legende des Joseph von Arimathia. An dem Abhang zu seinen Füßen wuchs der berühmte Dornbusch von Glastonbury - seiner Meinung nach eine höchst zweifelhafte Touristenattraktion.

  Der Legende zufolge war Joseph nach der Kreuzigung Jesu mit zwölf Gefährten auf dem Seeweg nach Glastonbury gekommen. Der lange, bucklige Rücken des Hügels war das erste Land gewesen, das die Reisenden erblickt hatten, und als Joseph erschöpft, aber dankbar an Land gegangen war, hatte er seinen Weißdornstab in den Boden des Hügels gesteckt. Der Stab hatte Wurzeln geschlagen, und ein blühender Strauch war entsprossen - für Joseph und seine Gefährten ein Zeichen, dass er an dieser Stelle einen Tempel erbauen sollte, die erste christliche Kirche auf englischem Boden.

  Natürlich war der ursprüngliche Dornbusch längst eingegangen und durch einen dürren, vom Wind gebeutelten Strauch ersetzt worden, von dem Andrew sich kaum vorstellen konnte, dass er in irgendeinem Pilger, und sei er auch noch so leichtgläubig, ehrfürchtige Gefühle erwecken würde. Aber schließlich befasste er sich mit Tatsachen, nicht mit Fiktionen. Er zog eindeutig Dinge vor, die sich messen, aufzeichnen und mit Proben belegen ließen.

  Seiner Meinung nach war die Geschichte Glastonburys so reich, dass es unnötig war, sie mit Mythen und fragwürdigen Legenden auszuschmücken, und die Archäologie dieser Gegend stellte eine unerschöpfliche Quelle immer neuer - und nachprüfbarer - Entdeckungen dar. Die Art, wie seine Studenten bedenkenlos all diesen hanebüchenen Unsinn hinnahmen, der über Glastonbury kursierte, machte ihn wütend. Wenn ihnen der Sinn nach Dramatik stand, dann bot er ihnen die brutale Hinrichtung des letzten Abts von Glastonbury, Richard Whiting, der auf dem Gipfel des Tor von den Schergen Heinrichs VIII. gehenkt worden war. Kaum war Whiting tot, wurde er enthauptet und gevierteilt, die einzelnen Teile wurden dann in Wells, in Bath, in Ilchester und in Bridgewater zur Schau gestellt. Den abgetrennten Kopf aber platzierten die Mannen des Königs über dem großen Eingangstor der Abtei.

  Whiting war ein liebenswürdiger alter Mann gewesen, und das Schicksal hätte sicherlich einen geeigneteren Kandidaten für die Rolle eines Märtyrers königlicher Habgier finden können. Doch der Abt war mit stiller Würde in den Tod gegangen. Andrew konnte nie den Tor besteigen, ohne an Richard Whitings Hinrichtung zu denken, und er war ein erbitterter Gegner derjenigen, die am liebsten aus einem der heiligsten Orte Glastonburys einen Themenpark gemacht hätten.

  In diesem Punkt hatte er die Unterstützung seiner Schwester Winifred. Als anglikanische Priesterin fand sie die Vermarktung von Glastonbury durch die New-Age-Industrie ebenso schwer erträglich wie er. Gewiss, sowohl die Stadt als auch die Abtei konnten auf eine lange Tradition von Ausschmückungen der Wahrheit zurückblicken, gipfelnd in dem größten Schwindel aller Zeiten, der Ausgrabung der angeblichen Gebeine von König Artus und Königin Guinevere auf dem Friedhof der Abtei im Jahre 1191.

  Winnie, die immer nur das Beste in den Menschen sehen mochte, beharrte darauf, dass die Mönche in gutem Glauben gehandelt hätten, aber Andrews Einstellung war da schon zynischer. Nach der verheerenden Feuersbrunst von 1184 hatte die Abtei dringend Geldmittel für den Wiederaufbau gebraucht. Die »zufällig« aufgefundenen Reliquien brachten Pilger nach Glastonbury - und damit Einnahmen. Die menschliche Natur hatte sich in acht Jahrhunderten nicht sehr verändert, dachte er grimmig.

  Er bemerkte, dass es inzwischen fast völlig dunkel geworden war, pfiff nach Phoebe und legte ihr die Leine wieder an. Sie machten sich auf in Richtung Tal. Während Phoebe sich ihren Weg durch die Grasbüschel bahnte, stapfte Andrew hinterher und dachte dabei über die Geschichtsstunde für seine Abschlussklasse nach, die er für morgen noch vorbereiten musste. Primaner waren immer schwierig - zutiefst überzeugt von ihrer Wichtigkeit, an der Schwelle zu Erwachsenenfreiheit und Studium -, doch bei einem bestimmten Mädchen hegte er durchaus Hoffnungen, denn sie war eine gelehrige Schülerin und sehr an Archäologie interessiert. Aber er war schon des Öfteren enttäuscht worden. Es zahlte sich nicht aus, sich für Jugendliche allzu sehr zu engagieren.

  Winnie neckte ihn gerne wegen seiner Schüler; sie sagte, er sei im falschen Jahrhundert geboren. Ihrer Ansicht nach hätte er einen perfekten Gentleman-Archäologen des neunzehnten Jahrhunderts abgegeben, umringt von andächtig lauschenden Jüngern. Andrew fand jedoch, dass der Ausdruck »andächtig« bei der Clique von gammeligen Doktoranden, die ihm gewöhnlich bei seinen Grabungen halfen, eher fehl am Platz war.

  Er und seine Schwester hatten seit ihrer Kindheit ein sehr enges Verhältnis zueinander. Nach dem frühen Tod beider Eltern rückten sie noch näher zusammen, und als Winnie nach fünf Jahren London eine Pfarrei in der Nähe von Glastonbury bekam, da dachte er, sein Leben sei vollkommen. Er hatte es wohl als selbstverständlich hingenommen, dass alles einfach immer so weitergehen würde - er spielte bis vor kurzem sogar mit dem Gedanken, sein Haus auf Hillhead zu verkaufen und zu Winnie ins Pfarrhaus zu ziehen. Sie teilten schon immer gemeinsame Interessen, insbesondere ihre Liebe zur Musik, und sie waren gewohnt, ihre Freizeit zusammen zu verbringen.

  Aber alles war anders geworden, seit Winnie im letzten Winter ein Verhältnis mit Jack Montfort angefangen hatte.

  Mit Winnie an seiner Seite war Andrew zufrieden gewesen - mit seinem Lehrerberuf, seiner archäologischen Arbeit, seinen Aktivitäten in der Gemeinde -, aber nun schienen all diese Dinge, die ihm einmal so viel bedeutet hatten, plötzlich sinnlos.

  Der Dornbusch ragte vor ihm auf, und seine windschiefe Silhouette zeichnete sich als dunklerer Schatten gegen die Dämmerung ab. Kurz darauf erreichte Andrew den Zauntritt an der Stelle, wo der Pfad auf seine Straße traf. Winnie liebte das Haus auf Hillhead mit seinem herrlichen Blick über die Somerset Levels, und sie war es, die ihm zu der schlichten Ausstattung geraten hatte, die die Wirkung der Aussicht noch erhöhte. Hier verbrachten sie so manchen Winterabend vor dem Kamin und verweilten im Sommer bis nach Einbruch der Dämmerung auf der Terrasse.

  Als Andrew das Haus betrat, schien es ihn mit seiner Leere zu verspotten. Er hängte Phoebes Leine sorgfältig an den Haken neben der Tür und füllte dann ihre abendliche Portion Futter in den Napf. Doch nachdem er einen kurzen Blick in den Kühlschrank geworfen hatte, verlor er jegliches Interesse an der Zubereitung seiner eigenen Mahlzeit.

  Stattdessen goss er sich nur ein Glas Rotwein ein und ging dann mit Glas und Flasche hinüber in das dunkle Wohnzimmer. Durch seine vorhanglosen Fenster konnte er unten in der Ebene schwache Lichtpunkte schimmern sehen, so weit entfernt wie die Sterne, die wie kleine Nadelstiche die Samtdecke des südlichen Himmels überzogen.

  Es schien, als breche sein ganzes Leben um ihn herum zusammen, und in seiner Brust spürte er ein dunkles, kaltes Gewicht, das an ihm nagte wie ein Tumor. Er hatte anderswo Trost gesucht - ein törichter Irrtum mit so katastrophalen Folgen, dass er alles tat, um den Vorfall aus seinem Gedächtnis zu verdrängen.

  Nie hätte er sich träumen lassen, dass irgendetwas - oder irgendjemand - ihn von seiner Schwester trennen könnte, oder dass er ihre Abwesenheit als so niederschmetternd empfinden würde. Hätte er je Winnies Glauben geteilt, so hätte dieser Schlag ihn erschüttert - wie konnte irgendein Gott ihn mit einem solchen Verlust strafen, nach all dem, was er durchgemacht hatte? Und kein Gott könnte es je wieder gutmachen, dachte er, während er sich ein zweites Glas Wein einschenkte. Das, so erkannte er nun in aller Klarheit, lag ganz und gar bei ihm.

 

Fiona Finn Allen war an diesem Morgen mit dem Geruch ihrer Kindheit in der Nase aufgewacht, der als Erinnerung an einen schon halb vergessenen Traum in der Luft lag. Der Duft, frisch und waldig-grün wie die Luft eines Sommermorgens am Loch Ness, begleitete sie den ganzen Tag über, immer kurz davor, aus ihrem Unterbewusstsein aufzutauchen. Er erfüllte sie mit einem tiefen, fast körperlichen Bedürfnis zu malen, doch sie widerstand dem Impuls.

  Wann immer sie in den letzten paar Monaten zum Pinsel gegriffen hatte, war dasselbe Bild entstanden: ein Kindergesicht, das Gesicht eines kleinen Mädchens von vielleicht vier oder fünf Jahren. Wo das Bild herkam oder warum es so hartnäckig wiederkehrte, wusste sie nicht, aber immer wenn es auftauchte, fühlte sie sich hinterher krank, ihr Kopf schmerzte, und sie ahnte allmählich, dass damit irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

  Jetzt kniete sie in dem dick mit Mulch bedeckten Rosenbeet, wo sie gnadenlos die verwelkten Blüten abschnitt und durch die Arbeit ihr Unbehagen abzuschütteln suchte. Bald würde sie ins Haus gehen und letzte Hand an ihre Gemüsesuppe legen. Sie erwartete ihre Freundin Winnie Catesby zum Mittagessen.

  Es war eine sonderbare Freundschaft. Sie hatte die fundamentalen Glaubenssätze der christlichen Lehre nie akzeptieren können, und Winnie war eine anglikanische Geistliche, aber dennoch hatte Fiona ihre Verbindung mehr und mehr schätzen gelernt, seit sie Winnie vor einem Jahr bei einer Gemeinderatssitzung begegnet war. Winnie besaß die seltene Gabe, ihrem Gegenüber den Eindruck zu vermitteln, dass er oder sie ihre Aufmerksamkeit wirklich verdiente, und die Zeit, die sie mit ihr verbrachte, half Fiona, mit dem Kummer fertig zu werden, der ihre Lebensfreude schon so lange trübte.

  Nicht einmal ihr Mann konnte diesen Schmerz heilen, obwohl er ihr in anderer Beziehung so viel Freude schenkte. Sie setzte sich auf die von der Sonne angewärmte Erde, dachte daran, wie schön Bram gewesen war, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und lächelte.

  Auch jetzt, obwohl seine einst goldenen Locken kurz geschnitten waren und sein Haar dünner geworden war, und trotz der unvermeidlichen leichten Erschlaffung seiner feinen Gesichtszüge, fand sie ihn noch unwiderstehlich.

  Welch ein Glück für sie, dass das Schicksal beschlossen hatte, sie beide wie gestrandete Pilger aus alten Zeiten zum ersten Pilton Festival zusammenzubringen - zum Glastonbury Fayre. Sie und Bram hatten in Glastonbury ihre Bestimmung gefunden, und sie mussten es nie bereuen. Bram verkaufte ihre ersten paar Bilder auf der Straße, und dann hatte der Erfolg es ihm ermöglicht, eine Galerie zu finden, die ihre Arbeiten ausstellte. Nicht lange darauf gehörte die Galerie schon ihm, und seither hatte er sich einen internationalen Kundenkreis erschlossen, nicht nur für ihre Arbeiten, sondern auch für die anderer Maler, deren er sich annahm.

  Sie hatten sich ein gutes Leben aufgebaut, Fiona und Bram, auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Anstrengungen und ihrer Liebe zueinander. Aber in ihren Träumen erkannte sie bisweilen dieses Leben als das zerbrechliche Ding, das es war, und dann riss die plötzliche Angst sie aus dem Schlaf.

 

Unschlüssig stand Jack vor dem Gebäude der Glastonbury As-sembly Rooms, einem hässlichen würfelförmigen Block, der um 1860 zum Teil aus Steinen erbaut worden war, die vom Gelände der Abtei stammten. In der Abenddämmerung wirkte auch die Gasse, die von der High Street zu dem Gebäude führte, nicht sonderlich einnehmend - es roch nach Feuchtigkeit und Katzenurin, und die zerfetzten Überreste von Plakaten an den Türen bildeten eine triste Collage.

  Aber das Plakat, das für die Veranstaltung am heutigen Abend warb, hatte noch nicht unter den Verwüstungen von Zeit und Witterung gelitten. Simon Fitzstephens asketisches Gesicht war Jack vertraut - er hatte es oft genug auf den Schutzumschlägen von Fitzstephens Büchern gesehen, seit er damit begonnen hatte, in Nick Carlisles New-Age-Buchladen zu stöbern. Fitzstephen war ein anglikanischer Geistlicher, der sein Amt aufgegeben hatte, um sich ganz seinen Studien zu widmen, und seine Bücher gehörten zu den konservativeren im Angebot der Buchhandlung. Der Autor stammte aus der Gegend; er war eine anerkannte Autorität auf den Gebieten der frühen Kirchengeschichte und der Gralsmythologie. Was würde Fitzstephen wohl denken, fragte sich Jack, wenn er von der Korrespondenz wüsste, die er seit einigen Monaten mit einem toten Mönch führte?

  Wie ein Juwel gefasst in grüne Auen, so lag die Abtei da... eine Stadt, sich selbst genügend. Wir traten durch die östliche Pforte ein... die nicht mehr existiert... alles ist verschwunden.

  Mein Vater, stets ein gewitzter Geschäftsmann, wollte ein Maul weniger zu stopfen haben und dennoch die Abtei um seine Schenkung betrügen, denn ich war ein kränkliches Kind, und er sah voraus, dass ich das Mannesalter nicht erreichen würde. Meine Mutter jammerte und klagte, doch mein Vater wollte nicht auf sie hören...

  Der Abt segnete mich, legte mir die Hände aufs Haupt. Dann zogen sie mich aus, wuschen mich, legten mir den Habit aus rauem braunem Stoff an. Ich wurde Gott versprochen, doch ich wusste nichts...

  So lautete die heutige Aufzeichnung, die erste seit mehreren Wochen. Obwohl die seltsamen Mitteilungen schon vor drei Monaten eingesetzt hatten, hatte Jack Winnie noch immer nichts von Edmund von Glastonbury und seinen Botschaften erzählt. Er fürchtete, dass eine Sache wie diese mit ihrem Beigeschmack von Spiritismus bei ihr nur Entsetzen und Abscheu auslösen würde - und er fühlte sich schuldig, weil es ihm nicht gelungen war, die hartnäckige Hoffnung zu dämpfen, seine sonderbare Gabe könnte ihn irgendwie in Kontakt mit seiner toten Frau bringen.

  Er sagte sich, dass er heute Abend nur hierher gekommen war, um seine Neugier zu befriedigen - um zum Beispiel zu fragen, ab wann die östliche Pforte der Abtei nicht mehr genutzt worden war, oder wann die Kirche die Praxis eingestellt hatte, Kinder als Schenkungen in den Orden aufzunehmen.

  Aber er wusste, dass mehr dahinter steckte. Er musste einfach mit der Vergangenheit in Verbindung treten, er musste die Abtei so sehen, wie Edmund sie gesehen hatte, und sich das Universum in Edmunds Begriffen vorstellen.

  Noch immer zögerte er. Es kam ihm vor, als sei er im Begriff, eine öffentliche Absichtserklärung abzulegen, als überschreite er die Schwelle, die den Skeptiker vom leichtgläubigen Narren trennte; als würde es ihm nach diesem Schritt unmöglich sein, seine Erfahrung vor allen außer Nick geheim zu halten.

  Dann dachte er an die letzte Zeile, die an diesem Tag aus seiner Feder geflossen war:

  Ich weinte nicht.

  Er ging die Stufen hinauf und öffnete die Eingangstür der Assembly Rooms.