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Die Fantasie ist eine großartige Gabe, eine göttliche Geisteskraft, und es ist möglich, sie solchermaßen zu üben und auszubilden, dass sie nur dasjenige aufnimmt, was wahr ist.

 

Frederick Bligh Bond, aus: Das Tor der Erinnerung

 

Die Schatten sickerten langsam in Jack Montforts kleines Büro und tauchten die Ecken in angenehmes Dämmerlicht. In letzter Zeit verspürte er immer eine gewisse Vorfreude auf die Stunden am Ende des Tages, die er für sich allein hatte. Er sagte sich, dass er mehr erledigt bekam, wenn das Telefon nicht läutete und keine Kunden vorbeischauten, aber vielleicht, so dachte er mit leiser Bitterkeit, lag es auch nur daran, dass er herzlich wenig Grund hatte, nach Hause zu gehen.

  Er stand an seinem Fenster, blickte auf die Fußgänger herab, die auf beiden Seiten der Magdalene Street vorüberhasteten, und überlegte beiläufig, wohin sie wohl alle an diesem Mittwochabend so eilig unterwegs waren. Die Tore der Abtei gegenüber waren um fünf Uhr geschlossen worden, und er beobachtete, wie der Wächter die letzten Nachzügler hinausließ. Es war ein wolkenloser Märztag gewesen, jedoch mit einem schneidenden Wind, und Jack konnte sich vorstellen, dass jemand, der sich vom Sonnenschein zu einem Spaziergang um den Fischteich des Abts hatte verleiten lassen, inzwischen bis auf die Knochen durchgefroren sein musste. Nun würden sich die Umrisse der verbliebenen Strebepfeiler der großen Kirche gegen das helle Rosa des östlichen Himmels abzeichnen, eine angemessene Belohnung für diejenigen, die der Kälte getrotzt hatten.

  Er konnte sich glücklich schätzen, die beiden Büroräume im ersten Stock bekommen zu haben, mit Blick auf den Marktplatz und den Eingang zur Abtei. Es war eine erstklassige Lage, und die Auflagen, die mit der Renovierung eines denkmalgeschützten Gebäudes verbunden waren, hatten ihn nicht abgeschreckt. Durch seine Jahre in London hatte er reichlich Erfahrung im kreativen Umgang mit Vorschriften gewonnen, und es war ihm gelungen, die Räumlichkeiten zu seiner Zufriedenheit zu modernisieren, ohne sein Budget zu überschreiten. Er hatte eine Sekretärin eingestellt, die über seinen neuen Empfangsbereich herrschte, und sich an die langwierige Aufgabe gemacht, ein Architekturbüro aufzubauen.

  Und wenn eine kleine Stimme immer noch gelegentlich flüsterte: Wozu das Ganze?, dann tat er sein Bestes, sie zu ignorieren, und machte weiter, so gut er eben konnte, auch wenn ihn die letzten Jahre gelehrt hatten, dass alle Pläne letztlich nur flüchtige Entwürfe waren. Schon als Kind hatte sein Lebensweg für ihn festgestanden: Universitätsabschluss, eine erfolgreiche Laufbahn als Architekt... Ehefrau... Familie. Was er nicht mit auf der Rechnung gehabt hatte, war die Weigerung des Lebens, dabei mitzuspielen. Jetzt waren sie alle nicht mehr da: seine Mutter, sein Vater... Emily. Mit vierzig fand er sich wieder in Glastonbury. Es war ein Schritt, der vor zwanzig Jahren für ihn unvorstellbar gewesen wäre; aber hier war er nun, allein in dem alten Haus seiner Eltern in der Ashwell Lane, bedrängt von Erinnerungen.

  Er krempelte die Hemdsärmel hoch, setzte sich an seinen Schreibtisch und rückte einen leeren Bogen Papier in den Lichtkegel seiner Architektenlampe. Nur dazusitzen und in Selbstmitleid zu schwelgen würde ihm auch nicht weiterhelfen, und schließlich gab es da einen Bauherrn, der für morgen ein Angebot für den Umbau eines Wohnhauses erwartete.

  Wenn er seine Arbeit rasch erledigte, konnte er sich vielleicht sogar auf ein Abendessen mit Winnie freuen.

  Er dachte daran, wie unerwartet Winifred Catesby in sein Leben getreten war, und musste lächeln. Nachdem die wohlmeinenden Freundinnen seiner Mutter einmal entschieden hatten, dass eine angemessene Trauerzeit verstrichen sei, hatte er sich vor arrangierten Rendezvous kaum retten können, und die Willensanstrengung, die es ihn gekostet hatte, mit liebes-hungrigen geschiedenen Frauen Konversation zu machen, hatte er bald als noch deprimierender empfunden als das Alleinsein. Er hatte sich so oft herausgeredet, dass seine Wohltäterinnen ihn endlich zu einem hoffnungslosen Fall erklärt und in Ruhe gelassen hatten.

  Solchermaßen befreit von unwillkommenen Verpflichtungen, war er in der Folgezeit immer häufiger die acht Kilometer bis Wells gefahren, um sich die Wohltat des Abendgottesdienstes in der Kathedrale zu gönnen. Die Nähe zum Chor der Kathedrale war einer der Gründe, weshalb es ihn wieder nach Glastonbury gezogen hatte. Als Student hatte er in der Domschule gesungen, und dieser Erfahrung verdankte er seine andauernde Begeisterung für Kirchenmusik.

  Und dann, eines Abends vor einem Monat, als er seinen angestammten Platz im Chorgestühl der Kathedrale eingenommen hatte, war sie plötzlich neben ihm aufgetaucht - eine Frau von angenehm gewöhnlichem Äußeren, Mitte dreißig, mit hellbraunem Haar, das unter einem weichen Samthut hervorlugte, und einer leichten Stupsnase. Sie fiel ihm nicht besonders auf, er nickte ihr nur beiläufig zu, als sie sich hinsetzte, wie man das bei Fremden tut. Der Gottesdienst begann, und genau in dem Moment, als die ersten hohen Töne der Sopranstimmen ihm einen Schauer über den Rücken jagten, trafen sich ihre Blicke, und sie lächelte.

  Anschließend plauderten sie angeregt und ganz natürlich miteinander, und als sie zusammen aus der Kathedrale ins Freie traten, vertieft in eine Diskussion über die Vorzüge verschiedener Chöre, da lud er sie spontan zu einem Drink im nahe gelegenen Pub ein. Den Priesterkragen bemerkte er erst, als er ihr aus dem Mantel geholfen hatte.

  Emily, die ihn immer wegen seiner konservativen Einstellung gerügt hatte, würde sich über seine Verblüffung köstlich amüsiert haben. Und Emily, da war er sich sicher, hätte Winnie sympathisch gefunden. Er streckte einen Finger aus und berührte das Foto auf seinem Schreibtisch, und Emily blickte ihn an mit ihren dunklen Augen, aus denen Humor und Intelligenz leuchteten.

  Seine Kehle zog sich zusammen. Würde der Schmerz seines Verlusts immer so dicht unter der Oberfläche liegen? Oder würde er sich eines Tages zu einer leisen, kaum bewussten Empfindung verflüchtigen, so vertraut und alltäglich wie eine raue Stelle auf der Haut? Aber wollte er das denn wirklich? Würde er weniger er selbst sein, wenn Emily nicht mehr ständig in seinen Gedanken gegenwärtig war?

  Er musste unwillkürlich lächeln. Emily würde ihn ermahnt haben, nicht so sentimental zu sein und sich lieber an die Arbeit zu machen. Mit einem Seufzer blickte er auf das Blatt Papier herab, und dann kniff er überrascht die Augen zusammen.

  Er hielt einen Stift in der rechten Hand, obwohl er sich nicht erinnern konnte, danach gegriffen zu haben. Und der Bogen, der noch einen Augenblick zuvor leer gewesen war, war nun mit einer fremdartigen Handschrift bedeckt. Er runzelte die Stirn und sah nach, ob darunter vielleicht noch ein anderes Blatt läge. Doch da war nur dieser eine Bogen, und als er ihn näher in Augenschein nahm, bemerkte er, dass der in einer kleinen, exakten Handschrift geschriebene Text anscheinend auf Latein war. Als er genug von seinem Schullatein zusammengekramt hatte, um eine grobe Übersetzung anzufertigen, wuchs seine Verblüffung.

  Wisset denn, was wir... Jack rätselte einen Moment, bevor er sich für erbauet haben entschied; es folgte etwas, was er nicht entziffern konnte, und dann ging es weiter... in Glaston. Sollte das Glastonbury sein? Es war schön wie... nur irgendein irdisch Ding, und hätte ich es nicht über die Maßen geliebt, so würde sich mein Geist nicht klammern an die Träume von all dem, was entschwunden ist.

  Ihr liebet wohl, was wir geliebt. Die Zeit... Hier war Jack gezwungen, zu dem zerfledderten Lateinwörterbuch in seinem Bücherschrank zu greifen, und nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass der Satz etwas mit Schlaf oder Schläfern zu tun hatte, fuhr er ungeduldig fort: ...zu erwecken, auf dass sich Glaston gegen die Finsternis erhebe. Wir haben... irgendetwas... lange auf euch... es liegt in euren Händen.

  Auf diesen Satz folgte ein sich verjüngendes Gekrakel, beginnend mit einem E - es mochte sich um eine Unterschrift handeln, möglicherweise »Edmund«.

  War das vielleicht irgendein Scherz, eine Zaubertinte, die sichtbar wurde, sobald sie dem Licht ausgesetzt wurde? Aber seine Sekretärin machte auf ihn nicht den Eindruck, als neige sie zu albernen Streichen, und schließlich hatte er das Blatt aus einem neuen Stapel genommen, den er eben erst eigenhändig ausgepackt hatte. Es blieb nur die Erklärung, dass er diese Zeilen zu Papier gebracht hatte - in einer fremden Handschrift und einer fremden Sprache. Aber das war absurd. Wie hätte er so etwas tun können, ohne dass es ihm selbst bewusst war?

  Die Wände von Jacks Büro schienen auf ihn einzustürzen, und die Stille, die sonst so beruhigend war, schien vor Spannung zu vibrieren. Das Atmen fiel ihm schwer, es war, als ob die ganze Luft in dem kleinen Zimmer aufgebraucht sei.

  Wer waren »sie«, die in Glastonbury gebaut hatten und Lateinisch schrieben? Die Mönche der Abtei, nahm er an - eine logische Antwort. Und »er«, der »es... über die Maßen geliebt« hatte, dessen Geist sich »klammerte... an die Träume von all dem, was entschwunden ist«? Der Geist eines Mönchs? Das wurde ja von Minute zu Minute schlimmer.

  Was bedeutete »sich gegen die Finsternis erheben«? Und was hatte all das mit ihm zu tun? Die ganze Sache war vollkommen verrückt; er weigerte sich, weiter darüber nachzudenken.

  Er knüllte das Blatt zusammen, schwang seinen Stuhl herum und hatte schon die Hand erhoben, um es in den Papierkorb zu werfen, als er plötzlich innehielt und den Bogen wieder auf den Schreibtisch legte, um ihn mit der flachen Hand zu glätten.

  Frederick Bligh Bond. Der Name kam ihm plötzlich in den Sinn, hervorgekramt aus den vergessenen Winkeln seiner Kindheit. Der Architekt, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg die ersten Ausgrabungen an der Abtei von Glastonbury durchgeführt und dann verkündet hatte, er sei von Botschaften der Mönche angeleitet worden. Hatte Bond Mitteilungen wie diese erhalten? Aber Bond war nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Der galt als übergeschnappt!

  Jack riss das Blatt Papier mittendurch und warf die Fetzen in den Papierkorb. Dann zog er seine Jacke über, schnappte sich seinen Skizzenblock und lief die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal.

  Er trat hinaus auf die Benedict Street und mühte sich mit zitternden Fingern, die Eingangstür zu seinem Büro abzuschließen. Von der anderen Seite des Marktplatzes lockten die Bleifenster des George & Pilgrims. Etwas zu trinken, dachte er mit einem Schauder, das war es, was er jetzt brauchte. Er würde an seinem Angebot arbeiten, und die wohl gefüllte Gaststube der alten Schenke würde ihm sicherlich helfen, was auch immer gerade mit ihm geschehen war zu verdrängen.

  Er zog den Kragen seiner Jacke hoch, um sich gegen den Wind zu schützen, und wich einer Gruppe jugendlicher Skateboarder aus, die in dem glatten Straßenbelag rund um das Marktkreuz ein ideales Übungsgelände gefunden hatten. Eine besonders heftige Bö wirbelte ein Blatt Papier dicht an seiner Wange vorbei. In einem Abwehrreflex schnappte er danach und warf dann einen flüchtigen Blick auf das, was er in der Hand hielt. Rosa. Ein Flugblatt, von der Avalon-Gesellschaft. Glastonbury Assembly Rooms, Samstag 19:00 bis 21:30. Eine Einführung in die Kristall-Energie und ihre heilende Wirkung. Demonstration der Zusammenhänge zwischen Chakras und Kristallen. Bereiten Sie Elixiere und lernen Sie, Ihre Umwelt zu energisieren.

  »Na, hervorragend«, brummte er, indem er das Blatt zerknüllte und in den Wind warf. Das war Unsinn der übelsten Sorte, genau die Art von Hokuspokus, mit der die radikalsten New-Age-Jünger nach Glastonbury gelockt wurden. Prähistorische Spuren in den Feldern... Kornkreise... Druidenzauber auf dem Glastonbury Tor, dem uralten kegelförmigen Hügel, der wie ein Leuchtturm die Stadt überragte...

  Zwar war Jack, wie viele Generationen seiner Familie vor ihm, im Schatten des Tor aufgewachsen, doch hatte er dem ganzen mystischen Quatsch, der damit in Verbindung gebracht wurde, nie Glauben geschenkt - und auch nicht den Mythen, die Glastonbury als eine Art kosmisches Energiezentrum beschrieben.

  Aber warum, um alles in der Welt hatte er dann gerade eben etwas aufs Papier gekritzelt, das wie eine verstümmelte Botschaft von einem längst verstorbenen Mönch aussah? War er tatsächlich dabei, den Verstand zu verlieren? Vielleicht eine verzögerte Trauerreaktion? Er hatte etwas über das posttraumatische Stress-Syndrom gelesen - konnte das erklären, was mit ihm geschehen war? Irgendwie spürte er jedoch, dass es mehr war als nur das. Für einen Augenblick sah er wieder die kleine, exakte Handschrift vor sich, mit ihrer ganz eigenen Schönheit, und etwas im Rhythmus der Sprache war so vertraut, dass es ihn sonderbar berührte.

  Er ging weiter auf den Pub zu, bis ihn ein Gedanke urplötzlich innehalten ließ. Was wäre, wenn - wenn es auch nur die entfernteste Möglichkeit gäbe, dass er in der Tat mit den Toten in Kontakt getreten war? Bedeutete das etwa... konnte es bedeuten, dass er in der Lage war, von sich aus Kontakt aufzunehmen? Emily -

  Nein. Er durfte nicht einmal den Gedanken an etwas Derartiges zulassen. Auf diesem Weg lag Wahnsinn.

  Ein Skateboarder schoss mit ratternden Rädern an ihm vorüber. »Woll’n Sie da Wurzeln schlagen, Mister?«, rief der Junge. Jack taumelte mit unstetem Schritt weiter, überquerte die High Street am unteren Ende und trat auf das George & Pilgrims zu. Als er die schwere Tür des Gasthauses erreichte, wurde sie aufgerissen, und ein Schwall von Zechern ergoss sich nach draußen und drängte an ihm vorbei. Ein Wölkchen von Gelächter und Rauch wehte ihm entgegen und versprach Zuflucht und Geborgenheit, bevor der Wind Klänge und Gerüche wieder verwehte. Und dann hörte er, er hätte es schwören können, ganz leise das Läuten von Glocken.

 

Die Katzen schliefen im Hof und genossen die Mittagswärme der blassen Frühlingssonne. Jede hatte ihr eigenes Plätzchen - einen Blumenkübel, die ausgetretene Stufe vor der Küchentüre, die Motorhaube des alten weißen Lieferwagens, mit dem Garnet Todd ihre Fliesen ausfuhr -, und nur das gelegentliche Zucken eines Katzenohrs oder -schwanzes verriet, dass sie das Rascheln der Mäuse im Stroh sehr wohl wahrnahmen.

  Garnet stand in der Tür ihrer Werkstatt und wischte sich die Hände an der Lederschürze ab, die sie zum Schutz vor der Hitze des Brennofens trug. Sie war fast fertig mit ihrem neuesten Auftrag, der Restaurierung der Bodenfliesen in einer Kirche aus dem zwölften Jahrhundert am Rande der Ebene von Salisbury. Die Herstellung der Fliesen verlangte höchste Sorgfalt. Das Muster, das die wenigen erhaltenen Überreste des Fußbodens vorschrieben, musste genau getroffen werden, und dabei durften nur solche Materialien und Techniken verwendet werden, die auch den Handwerkskünstlern in der damaligen Zeit zur Verfügung gestanden hatten. Dann kam das Verlegen, eine mühselige und diffizile Arbeit, für die sie Stunden auf Händen und Knien verbringen und die feuchte, modrige Luft der alten Kirche einatmen musste.

  Aber Garnet machte das alles nichts aus. Umgeben von alten Dingen, fühlte sie sich am wohlsten. Nicht einmal ihre Arbeit als Hebamme - auch wenn sie zu Ehren der Göttin erfolgt war - hatte ihr eine ausreichend tiefe emotionale Bindung an die Vergangenheit verschaffen können.

  Ihre Farm, ein heruntergekommener Hof, den sie vor mehr als fünfundzwanzig Jahren gekauft hatte, zeigte deutlich, wie wenig sie mit der Gegenwart anzufangen wusste. Das Haus stand weit oben am westlichen Abhang des Tor; seine zerklüftete Steinfassade stellte sich dem Wind in den Weg, der schon seit undenklichen Zeiten vom Gipfel des Hügels herabwehte. Die Schafe, die auf dem grasbewachsenen Hang weideten, waren ihre nächsten Nachbarn, und zumeist zog sie ihre Gesellschaft jeder anderen vor.

  Anfangs beabsichtigte sie noch, das Haus an die öffentliche Strom- und Wasserversorgung anschließen zu lassen, doch die Jahre vergingen, und sie gewöhnte sich daran, ohne diesen Komfort auszukommen. Das Laternenlicht spendete ihr ockerfarbene Wärme und angenehme Schatten, und warum sollte sie das mit Chemikalien vergiftete Wasser trinken, das die Stadt aus ihren Tanks pumpte, wenn es doch an der Quelle auf ihrem Grundstück direkt aus dem Herzen des heiligen Hügels hervorsprudelte? In dieser Stadt hatte man schon genug getan, um die alten und heiligen Dinge zu entweihen, da musste sie den Schaden nicht auch noch vergrößern.

  Der Schatten einer Wolke schoss den Abhang hinunter, und für einen Augenblick verdunkelte sich der Hof. Garnet erschauerte. Dion, die alte hellbraune Katze, die mit majestätischer Herablassung über den Rest der Brut herrschte, schälte sich aus ihrem Blumenkübel und kam auf Garnet zu, um sich an ihren Knöcheln zu reiben. »Du spürst es auch, nicht wahr, mein altes Mädchen?«, sagte Garnet leise, während sie sich bückte, um die Katze zu streicheln. »Irgendetwas braut sich zusammen.«

  Einmal, vor langer Zeit, hatte sie diesen Geruch in der Luft wahrgenommen, einmal schon hatte sie dieses ahnungsvolle Prickeln verspürt, und die Erinnerung an das Ende der Geschichte erfüllte sie mit Schrecken.

  Glastonbury war immer schon ein Ort geheimnisvoller Kräfte gewesen, ein Angelpunkt in jener uralten Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis. Wenn dieses empfindliche Gleichgewicht gestört wurde, dann - das wusste Garnet - konnte nicht einmal die Göttin die Folgen vorhersehen.

 

Glastonbury hatte einen sonderbaren Einfluss auf die Menschen - wie Nick Carlisle nur zu gut wusste. Er war wegen des Festivals hierher gekommen, mit dem ursprünglichen Plan, sich ein paar Monate frei zu nehmen und ein bisschen von der Welt zu sehen, nachdem er sein Studium an der Universität von Durham mit einem Einserexamen in Philosophie und Theologie abgeschlossen hatte. An einem milden Abend Ende Juni war er auf der Straße von Shepton Mailet nach Glastonbury um eine Kurve gebogen und hatte die große konische Erhebung des Tor erblickt, die aus der Ebene emporragte, gekrönt von dem gedrungenen St. Michaels Tower, der sich gegen den blutroten Himmel im Westen abhob.

  Das war vor mehr als einem Jahr gewesen, und er war immer noch hier. Für wenig mehr als den Mindestlohn arbeitete er in einem New-Age-Buchladen gegenüber der Abtei, lebte in einem Wohnwagen auf einem Feld bei Compton Dundon - und versuchte alles zu vergessen, was er hinter sich gelassen hatte.

  Oft schaute er nach der Arbeit auf ein Bier im George & Pilgrims vorbei. Ein feiner Zustand war das, mit einem Pub als zweitem Zuhause, aber der Wohnwagen zählte ja auch nicht wirklich - dort konnte er gerade mal die verwaschenen Jeans, T-Shirts und Sweatshirts unterbringen, die seine bescheidene Garderobe ausmachten, und die Bücher, die er aus Durham mitgebracht hatte. Der kleine Kühlschrank roch nach saurer Milch, und der Gaskocher mit den zwei Kochringen war ebenso launisch wie seine Mutter.

  Bei dem Gedanken an seine Mutter verzog er das Gesicht. Elizabeth Carlisle hatte ihren Sohn seit seiner frühesten Kindheit allein großgezogen und sich nebenher eine erfolgreiche Karriere als Autorin von Familiensagas aufgebaut, die in Nordengland spielten. Sie managte das Leben ihres Sohnes ebenso effizient wie das ihrer Romanfiguren und reagierte dann beleidigt, als er seinem Unmut Luft machte.

  Die Art, wie seine Mutter sich in Dinge eingemischt hatte, für die er nur selbst verantwortlich war, hatte ihn auf die Palme gebracht, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass er sein Leben sehr wohl auf die Reihe bringen könnte, wenn er nur erst ihrem Dunstkreis entkommen wäre. Aber die Freiheit erwies sich nicht als das erwartete Allheilmittel: Er wusste noch ebenso wenig wie vor einem Jahr, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er wusste nur, dass ihn irgendetwas in Glastonbury festhielt, und doch glühte er vor ruheloser und ungenutzter Energie.

  Von seinem Ecktisch aus ließ er, während er sein Bier trank, den Blick über die Kundschaft des Pubs schweifen. An diesem Abend hatten sich einige Yuppies in das Lokal verirrt, junge Männer in schicken Designeranzügen, begleitet von gestylten Mädchen in knapper Garderobe. Nick spürte geradezu die kollektive Missbilligung der Stammgäste, die sich in instinktiver Solidarität um die Theke geschart hatten.

  Eines der Mädchen warf ihm einen Blick zu und lächelte. Nick wandte sich ab. Mädchen - das waren Raubkatzen mit Make-up und eng anliegenden Klamotten, die einem nichts als Ärger einbrachten. Zuerst gefiel ihnen sein Äußeres, und dann, sobald sie herausfanden, wer seine Mutter war, wollten sie sich nur noch von ihm aushalten lassen. Aber er hatte seine Lektion gründlich gelernt, und er würde nicht noch einmal in diese Falle tappen.

  Er wandte der Gruppe den Rücken zu, und nun war es der Mann, der allein am Ende der Theke saß, der seine Aufmerksamkeit fesselte. Er fiel ihm nicht nur durch seine Größe und sein hellblondes Haar auf, sondern auch durch sein vertrautes Gesicht. Nick hatte ihn schon oft in der Magdalene Street gesehen - er musste in der Nähe des Buchladens arbeiten -, und ein- oder zweimal hatten sie einander freundlich zugenickt. Heute Abend saß er tief über sein Glas gebeugt da, und seine sonst so freundliche Miene war einem finsteren Blick gewichen.

  Neugierig beobachtete Nick ihn dabei, wie er offenbar irgendetwas auf einen Notizblock schrieb oder zeichnete, während er sich alle paar Augenblicke mit sichtlich zitternden Fingern eine Haarsträhne aus der Stirn strich.

  Als Nick zur Theke ging, um sich ein neues Bier zu holen, waren die Augen des blonden Mannes starr auf sein Glas gerichtet. Den Stift hielt er dicht über den Block, zum Schreiben bereit. Nick warf einen verstohlenen Blick auf das Papier. Darauf waren sorgfältige architektonische Zeichnungen zu sehen; quer über die größte der Skizzen aber waren einige Zeilen geschrieben, offensichtlich auf Latein. Für meine Sünden hat Glaston gelitten, übersetzte er im Stillen.

  »Sind Sie Altphilologe?«, platzte Nick überrascht heraus.

  »Was?« Der Mann blinzelte ihn verstört an. Einen Moment lang überlegte Nick, ob er vielleicht betrunken sei, allerdings hatte er sich an ein und demselben Bier festgehalten, seit Nick ihn bemerkt hatte.

  Nick tippte mit dem Finger auf den Skizzenblock. »Ich meine das da. Ich erlebe es nicht allzu oft, dass jemand Latein schreibt.«

  Der Mann warf einen Blick auf das Blatt und erblasste. »O Gott. Nicht schon wieder.«

  »Bitte?«

  »Nein, nein. Alles in Ordnung.« Der Mann schüttelte den Kopf und schien sich große Mühe zu geben, Nick zu fixieren. »Jack Montfort. Ich habe Sie schon einmal gesehen, nicht wahr? Sie arbeiten in der Buchhandlung.«

  »Nick Carlisle.«

  »Mein Büro ist direkt über Ihrem Laden.« Montfort deutete auf Nicks leeres Glas. »Was trinken Sie?«

  Montfort bestellte noch zwei Bier und wandte sich dann wieder Nick zu. Jetzt schien er auf einmal sehr gesprächig. »Sie arbeiten also im Buchladen - da werden Sie wohl eine ganze Menge lesen?«

  »Wie ein kleiner Junge in einem Süßwarengeschäft. Die Inhaberin ist echt gut drauf, die drückt öfters mal ein Auge zu. Und ich bemühe mich, keine Eselsohren zu hinterlassen.«

  »Ich muss zugeben, ich war noch nie in dem Laden. Ganz interessant, was es da so gibt, oder?«

  »Zum Teil ist es absoluter Quatsch«, erwiderte Nick grinsend. »Ufos, Kornkreise - jeder weiß doch, dass das ein Schwindel ist. Aber manche Sachen... na ja, da kommt man schon ins Grübeln... In Glastonbury passieren anscheinend die merkwürdigsten Dinge.«

  »Das können Sie laut sagen«, murmelte Montfort in sein Glas, und seine Miene verdüsterte sich wieder. Dann schien er zu versuchen, die Gedanken abzuschütteln, die ihn beschäftigten. »Sie sind nicht aus dieser Gegend, oder? Höre ich da vielleicht eine Spur vonYorkshire heraus?«

  »Northumberland, um genau zu sein. Ich bin letztes Jahr wegen des Festivals hergekommen« - Nick zuckte mit den Achseln -, »und ich bin immer noch hier.«

  »Ach ja, das Rockfestival in Pilton. Irgendwie habe ich es nie geschafft, da hinzugehen. Da ist mir wohl eine unvergessliche Erfahrung entgangen.«

  »Matsch.« Nick grinste. »Ganze Ozeane davon. Du trampelst durch irgendwelche Äcker, wirst von den Mücken zerstochen, trinkst miserables Bier und stehst stundenlang Schlange, wenn du aufs Klo musst. Aber trotzdem...«

  »Es hatte etwas«, half Montfort nach.

  »Genau. Ich hätte es gerne in der großen Zeit erlebt, in den frühen Siebzigern, wissen Sie? Glastonbury Fayre haben sie es genannt. Das muss tierisch beeindruckend gewesen sein. Und selbst das war kein Vergleich mit dem ursprünglichen Glastonbury Festival - was die Qualität angeht, nicht die Quantität.«

  »Mit dem ursprünglichen Festival?«, wiederholte Montfort verständnislos.

  »Der Komponist Rutland Boughton hat es 1914 ins Leben gerufen«, antwortete Nick. »Boughton war ein Riesentalent - seine Oper Die unsterbliche Stunde hält immer noch den Rekord als die Opernproduktion mit der längsten Laufzeit. Alle möglichen Größen der Zeit hatten mit dem Festival zu tun: Shaw, Edward Eigar, Vaughan Williams, D. H. Lawrence. Und Glastonbury selbst hat auch Leute hervorgebracht, die zu der damaligen kulturellen Renaissance beigetragen haben, wie zum Beispiel Frederick Bligh Bond und Alice Buckton... Und dann war da noch die Sache mit Bonds Freund Dr. John Goodchild und der Auffindung des >Grals< in der Saint-Bride’s-Quelle. Das hat einige Wellen geschlagen...« Nick merkte, dass er ins Schwadronieren geraten war; er verstummte und trank den Schaum von seinem Bier ab.

  Als er wieder aufblickte, sah er, wie Montfort ihn anstarrte. Nick wurde rot. »Tut mir Leid. Wenn ich mal in Fahrt komme -«

  »Sie wissen Bescheid über Bligh Bond?«

  Die Intensität in Montforts Stimme verblüffte Nick. »Nun ja, das ist schon eine faszinierende Geschichte, nicht wahr? Bond besaß ein enormes Wissen, seine Ausgrabungen auf dem Gelände der Abtei sind der Beweis dafür; andererseits, denke ich, man kann der Kirche keinen Vorwurf machen, nur weil sie die Vorstellung etwas unbehaglich fand, dass Bond seine Anweisungen für die Grabungen von Mönchen erhalten haben soll, die seit fünfhundert Jahren tot waren.«

  »Unbehaglich?« Montfort schnaubte verächtlich. »Sie haben ihn gefeuert. Er konnte danach nie wieder erfolgreich als Architekt arbeiten, und wenn ich mich recht erinnere, ist er in Armut gestorben. Wenn der Mann auch nur einen Funken Verstand gehabt hätte, dann hätte er den Mund gehalten.«

  »Aber er fand ganz einfach, dass er sein Wissen mitteilen musste. Ich würde sagen, Bond war einfach zu ehrlich. Und ich glaube nicht, dass er je behauptet hat, mit Geistern in Kontakt getreten zu sein. Er dachte, er hätte vielleicht nur eine Verbindung zu einem bestimmten Teil seines Unterbewusstseins hergestellt.«

  »Halten Sie es denn für möglich, was auch immer die Quelle war?«

  »Bonds Fall ist nicht der einzige. Es gibt reichlich dokumentierte Beispiele von Menschen, die Dinge über die Vergangenheit wussten, für die es keine andere Erklärung gab.« Nicks Blick fiel auf das Blatt, das Montfort mit der Hand zum Teil verdeckt hielt, und eine plötzliche Erregung packte ihn. »Aber Sie sprechen doch nicht nur von einer theoretischen Möglichkeit, nicht wahr?«

  »Das ist« - Montfort schüttelte den Kopf - »verrückt. Zu verrückt, als dass man es irgendjemand erzählen könnte. Aber der Zufall, dass ich Sie hier treffe... Ich -« Er sah sich um, als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass noch andere Gäste in der Nähe waren, und senkte die Stimme.

  »Als ich heute Abend an meinem Schreibtisch saß, da habe ich... etwas geschrieben. Auf Latein, was ich seit der Schulzeit nicht mehr benutzt habe - und ich konnte mich hinterher nicht erinnern, es geschrieben zu haben. Ich habe das verdammte Ding zerrissen... Und dann das hier...« Er fuhr mit der Fingerspitze über das Gekritzel auf dem Skizzenblock.

  »Wahnsinn, Mann!«, hauchte Nick tief beeindruckt. »Ich würde meine Mum hergeben, um so was mal am eigenen Leib erleben zu können.«

  »Aber wieso ich? Ich habe nicht darum gebeten«, gab Montfort hitzig zurück. »Ich bin Architekt, aber ich weiß nicht mehr über die Abtei, als man von jedem erwarten kann, der hier aufgewachsen ist. Ich bin nicht sonderlich religiös. Ich habe mich nie für Spiritismus interessiert - oder überhaupt für irgendwelche übersinnlichen Phänomene.«

  Nick dachte einen Augenblick darüber nach. »Ich bezweifle, dass diese Dinge willkürlich geschehen. Vielleicht haben Sie irgendeine Verbindung zur Abtei, die Ihnen nicht bewusst ist.«

  »Das hilft mir sehr viel weiter«, sagte Montfort, doch in seinen strahlend blauen Augen blitzte so etwas wie Humor auf. »Und wie finde ich jetzt heraus, was es ist und warum das hier mit mir passiert?«

  »Vielleicht könnte ich Ihnen helfen. Sie wissen, dass es nicht Bond selbst war, der die Botschaften geschrieben hat, sondern sein Freund John Bartlett. Bond hat ihn geführt, indem er ihm Fragen stellte.«

  »Sie wollen also zu meinem Bond den Bartlett geben, wie?«

  »Sie sagten, Sie stammen aus Glastonbury. Das ist doch schon mal kein schlechter Anfang.«

  »Die Familie meines Vaters ist allerdings schon seit Ewigkeiten in der Gegend um Glastonbury ansässig. Er war Rechtsanwalt. Ein großer, kräftiger und ernsthafter Mann, der genau wusste, wo sein Platz in der Welt war.« Montfort nahm einen Schluck von seinem Bier, und als er fortfuhr, klang seine Stimme sanfter. »Aber was meine Mutter betrifft, die war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie liebte Geschichten, und als wir klein waren, hat sie uns immer gerne irgendwelche Sachen nachspielen lassen.«

  »Uns?«

  »Mein Cousin und meine Cousine, Duncan und Juliet, und ich. Meine Tante und mein Onkel hatten ein Faible für Shakespeare. In den Ferien haben wir sie immer in Cheshire besucht. Das war eine andere Welt. Die Kanäle, und dann die walisischen Hügelketten in der Ferne...«

  Wieder verstummte er, die Augen halb geschlossen. Nick wollte ihn eben bitten, doch weiterzuerzählen, als Montfort ohne Vorwarnung nach dem Stift griff. Seine Hand begann gleichmäßig über das Papier zu gleiten.

  Nick übersetzte die lateinischen Worte, sowie sie auf dem Blatt erschienen. Deo juvante,.. mit Gottes Hilfe... werdet ihr es wieder gutmachen. ... Ob das wohl auch ihn selbst betraf, fragte er sich. Konnte er vielleicht irgendwie wieder gutmachen, was er angerichtet hatte?

  In diesem Augenblick wusste Nick, weshalb er nach Glas-tonbury gekommen war, und er wusste, weshalb er geblieben war.

 

Faith Wills ließ ihre Stirn auf das kühle Plastik des Toilettensitzes sinken. Sie rang nach Luft, und die Anstrengung des Würgens hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben. Es war nichts mehr übrig, was sie hätte erbrechen können, bis auf ihre Magenschleimhaut, aber irgendwie musste sie sich zusammenreißen, hinausgehen und sich dem Geruch des Frühstücks aussetzen, das ihre Mutter bereitet hatte.

  An diesem Morgen waren es wieder einmal Eier mit Speck. Ihre Mum war der Überzeugung, dass alle Kinder sich ordentlich gestärkt auf den Weg zur Schule machen sollten. So gab es abwechselnd gekochte Eier oder Porridge oder Vollkorntoast mit Marmite; und an diesem Donnerstagmorgen im März hatte Faith die schlimmste mögliche Alternative erwischt.

  Der Speckgeruch zog von der Küche ins Bad. Ihr Magen zog sich bedenklich zusammen, und im gleichen Moment hämmerte ihr kleiner Bruder Jonathan an die Tür. »Kommst dir wohl vor wie Madonna da drin, was? Jetzt sieh mal zu, dass du den Arsch hochkriegst, Faith!«

  Ohne den Kopf zu heben, sagte Faith: »Halt die Klappe«, doch es war nicht mehr als ein Flüstern.

  Dann die Stimme ihrer Mutter - »Jonathan, so was sagt man nicht!« - und ein forsches Klopfen an der Tür. »Faith, was ist denn los mit dir? Du wirst noch zu spät kommen, und du wirst schuld sein, wenn Jon und Meredith sich auch verspäten.«

  »Ich komm ja schon.« Mit unsicheren Bewegungen richtete Faith sich auf, spülte und putzte sich dann die Nase mit einem Stück Toilettenpapier. Als sie die Tür vorsichtig öffnete, wartete ihre Mutter schon auf sie, die Hände in die Hüften gestemmt; hinter ihr standen Jon und ihre Schwester Meredith, alle drei mit Mienen, die verschiedene Grade von Verärgerung ausdrückten. »Was soll das denn sein, ein Empfangskomitee?«, fragte sie, bemüht, sich nicht unterkriegen zu lassen.

 •Ihre Mutter ignorierte sie und packte sie mit festem Griff am Kinn, um ihr Gesicht in das matte Licht zu drehen, das durch die Wohnzimmertür fiel. »Du bist ja weiß wie die Wand«, verkündete sie. »Bist du krank?«

  Die Küchendüfte zwangen Faith, krampfhaft zu schlucken, bevor sie mit krächzender Stimme herausbrachte: »Mir geht’s gut. Das ist nur der Prüfungsstress.«

  Ihr Vater trat aus dem Schlafzimmer; er band sich gerade seine Krawatte. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht erst in letzter Minute mit dem Lernen anfangen? Und du weißt genau, wie wichtig die Mittlere Reife für dich -«

  »Lass mich doch einfach nur meine Bücher holen, okay?«

  »Sprich nicht in diesem Ton mit mir, junge Dame!« Ihr Vater zog den Knoten seiner Krawatte stramm und streckte dann die Hand nach ihr aus. Seine Finger gruben sich tief in das nackte Fleisch ihres Oberarms.

  »Tut mir Leid«, murmelte Faith. Sie riss sich los, flüchtete in das Zimmer, das sie mit ihrer Schwester teilte, und lehnte sich von innen an die Tür, sobald sie drin war. Sie hoffte inständig auf einen Augenblick der Ruhe, bevor Meredith wiederkam. Es war ein Kinderzimmer, dachte sie; mit einem Mal sah sie es mit neuen Augen. Die Wände waren mit Postern von Rockstars bedeckt, die beiden Betten mit zerzausten Plüschtieren. Ihr Hockeydress quoll aus dem Ranzen hervor; die Notenblätter für die Chorprobe am Nachmittag lagen verstreut am Boden. Lauter Dinge, die ihr so wichtig gewesen waren - und die jetzt all ihre Bedeutung verloren hatten.

  Sie würde nicht gut zurechtkommen, das wurde ihr plötzlich klar, und sie schloss die Augen, als die Welle der Verzweiflung sie überkam. Nichts würde je wieder gut sein.

  Und sie konnte es ihren Eltern nicht sagen. In der perfekten Welt ihrer Mutter begann eine Siebzehnjährige den Tag nicht mit dem Kopf über der Toilettenschüssel, und ihr Vater - nun, darüber durfte sie gar nicht erst nachdenken.

  Sie hatte versprochen, niemandem etwas zu verraten, und das war das Einzige, worauf es ankam.

  Faith kauerte sich zusammen und drückte die Arme gegen ihre neuerdings schmerzhaft geschwollenen Brüste. Niemals, niemals, niemals. Sie wiederholte das Wort wie eine Litanei, während sie sich sanft hin und her wiegte.

  Niemals.