6. Kapitel

Der Motor sprang krachend mit einer ohrenbetäubenden Fehlzündung an. Stefan war es erst eiskalt, dann siedend heiß geworden.

»Komm schon«, zischte er. Dann endlich lief der Käfer -wenn auch mehr schlecht als recht. Clemens schüttelte sich. Stefan vermutete, dass der Motor nur noch auf drei Zylindern lief. Höchstens. Als er rückwärts aus der schräg angelegten Parkbucht rangierte, sah er im Rückspiegel eine blaue Rauchwolke. Unheilvoll waberte der Dunst zur Friedrich-Engels-Allee hinüber. »Lass mich jetzt nicht im Stich, alter Junge«, flehte Stefan den Käfer an und drückte den Gang rein. Die Kiste machte einen Hopser, bevor sie sich in Bewegung setzte. Dann stand der Wagen an der Einmündung der viel befahrenen Allee. Das Licht der Sonne drang schemenhaft durch die dichten Bäume, die die Straße säumten.

Während Stefan Vorfahrt achtete, erstarb der Motor. Wütend hieb er auf den Lenkradkranz und schluckte mühsam einen Fluch hinunter. Noch immer hing die blaue Qualmwolke über dem brüchigen Asphalt. Er drehte erneut am Zündschlüssel. Ein LKW rollte auf der Friedrich-Engels-Allee heran und bremste ab. Der Fahrer stoppte sein schweres Gefährt und bedeutete Stefan mit der Lichthupe, vorzufahren. 

»Würde ich gerne, wenn die Kiste anspringen würde.« Mit hochrotem Kopf winkte er ab. Der LKW-Fahrer zuckte mit den Schultern, schenkte ihm ein schadenfrohes Grinsen und rollte von dannen. Stefan konnte machen, was er wollte - der Käfer hatte seinen eigenen Kopf und sprang nicht mehr an. Ausgerechnet jetzt! Eilig stieg er aus und umrundete den Wagen. Auch ein Blick unter die kleine Motorhaube brachte relativ wenig, nur ein beißender Gestank lähmte seine Atemwege. Stefan gab es nicht gerne zu: Das sah nach einer größeren Reparatur aus.

Und wie kam er jetzt zum Loh?

*

Karin Dahls Gesichtszüge entgleisten sekundenlang. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Heißt das ... ich meine ... du und Stefan ...« Ihre Hoffnungen, dass die Kollegin ihr den gemeinsamen Freund Stefan Seiler einen Abend lang abtrat, schwanden urplötzlich. »Ich meine, was ist denn nun? Seid ihr ein Paar oder nicht?«

Heike legte den Kopf schräg und spielte verträumt mit einem Kugelschreiber, während ihr Blick in die Ferne glitt. »Nun«, murmelte sie, »er ist großartig, wenn du verstehst.« Um ihre Worte zu untermalen, seufzte sie genießerisch.

»Wie muss ich mir das vorstell ...« Karin brach jäh ab, als das Telefon auf Heikes Schreibtisch anschlug. Diese murmelte eine Entschuldigung und ergriff den Hörer.

»Stefan!«, rief sie erfreut und warf Karin einen Blick zu.

Karin Dahls Gesicht verdunkelte sich, als sie den verzückten Gesichtsausdruck der Kollegin sah. Sie lauschte der Unterhaltung, doch irgendwie wurde sie den Eindruck nicht los, dass es sich nicht um einen netten Anruf aus purer Sehnsucht handelte. Es schien etwas passiert zu sein.

»Was?«, rief Heike entsetzt. »Ein Feuer? Das ist ja furchtbar.« Sie blickte zu Karin auf und rollte mit den Augen. »Ausgerechnet jetzt. Scheißkarre«, sprach sie in den Hörer und nickte. »Mist. Ja, sicher. Ich komme sofort.« Damit hängte sie ein.

Bevor Karin Fragen stellen konnte, sprang Heike auf und griff nach ihrer Handtasche. »Es ist etwas Furchtbares geschehen. Ich muss sofort los.« Damit ließ sie die Kollegin achtlos zurück.

»Uuups«, machte Karin, als sie zu ihrem Schreibtisch in der Nachrichtenredaktion zurückging. »Da muss aber wirklich der Teufel los sein.«

*

Mit ihrem Twingo hatte sie die Loher Straße kaum zehn Minuten später erreicht. Das Erste, was sie sah, als sie von der Friedrich-Engels-Allee nach rechts abbog, war dichter Rauch und zuckendes Blaulicht. »Da ist ja richtig was los«, murmelte sie und brachte den kleinen Wagen neben einem uniformierten Polizisten zum Stehen, der sie angehalten hatte.

»Die Straße ist kurzfristig gesperrt«, erklärte der ihr mit äußerst wichtiger Miene. »Es ist besser, wenn Sie einen Umweg fahren - das hier kann dauern.«

Heike machte auf dumm. »Was ist denn los?«

»Ein Feuer«, verriet der Polizist ihr. »Es brennt in der Schwebebahnstation.«

Jetzt grinste die Reporterin und wühlte in ihrer Handtasche, die sie auf den Beifahrersitz geworfen hatte, nach dem Presseausweis.

»Ich komme von der Wupperwelle«, sagte sie dann. »Dürfte ich mir einen Überblick über das Geschehen verschaffen?« Sie präsentierte ihm das eingeschweißte Kärtchen.

Der junge Polizist, sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig, studierte den Ausweis aufmerksam, als hänge von der Lektüre der Rest seiner beruflichen Laufbahn ab. Dann nickte er. »Natürlich. Nur der Wagen«, er schüttelte den Kopf, »der muss zur Seite.«

»Ist gebongt.« Heike bejahte und schenkte ihm einen Augenaufschlag, der den jungen Knaben glatt erröten ließ. Dann legte sie den Gang ein und fuhr den Twingo vor die kleine Kebabbude am Fuße der Schwebebahnstation. Als sie ausstieg, lähmte der beißende Brandgeruch ihre Atemwege.

Feuerwehrwagen standen mitten auf der Straße; ein Leiterwagen parkte vor einer Fußgängerinsel und hatte die Leiter zur Schwebebahnstation ausgefahren. Die Pumpen liefen mit voller Kraft, und überall rannten Feuerwehrleute wie aufgescheuchte Hühner herum.

Plötzlich tauchte eine Vision, eine traumatische Kindheitserinnerung auf: Vor Jahren hatte es in der Wohnung ihrer Eltern gebrannt, und seitdem hatte Heike eine panische Angst vor Feuer. Die Härchen auf ihren Unterarmen richteten sich auf. Ihre Kopfhaut zog sich zusammen, als sie den beißenden Brandgeruch wahrnahm. Alles war wie früher. Nie würde sie den schrecklichen Brand im Elternhaus vergessen, bei dem sie nur knapp dem Tode entkommen war.

Es nutzte nichts: Augen zu und durch, Gefühle abschalten und ganz Journalistin sein. Sie schritt weiter vor. Was für Heike wie ein heilloses Chaos aussah, war das Resultat einer durchorganisierten Truppe. Wie sie von einem Feuerwehrmann erfuhr, hatte man den Brand unter Kontrolle, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Bahnverkehr wieder aufgenommen wurde. Der Mann schickte sie zum Einsatzleiter; Brandmeister Schulze. Dieser war so groß und breit, dass Heike sich fragte, ob seine Feuerwehrmontur eine Sonderanfertigung sei. Die Stirn war fliehend, das Kinn kantig, und die blauen Augen unter den buschigen Augenbrauen musterten die blonde Reporterin aufmerksam.

»Die Bahn fährt nicht?«, fragte sie den Brandmeister.

Der lachte. »Sie sind gut. Glauben Sie ernsthaft, wir lassen Schwebahnzüge durch einen brennenden Bahnhof rollen?«

»Nein, das leuchtet ein.« Heike nagte auf der Unterlippe. Die Bahn stand still. War es nicht gerade das, was die Erpresser erreichen wollten? Sie wollten den Bahnverkehr behindern und den Schwebebahnbetrieb zum Erliegen bringen. Nun: Steckte die Bewegung 12. April tatsächlich hinter dem Brand, dann hatte sie Erfolg gehabt.          

»Gibt es Verletzte?«, fragte sie Schulze, der an einem Gerätewagen herumhantierte. Er blickte sich kurz um und schüttelte den Kopf. »Nur zwei meiner Leute. Leichte Rauchvergiftung, wissen Sie? Nichts Besonderes, sie sind schon im Klinikum. Der Bahnsteig war ja menschenleer, als es losging.«

Überall standen Schaulustige herum und waren in aufgeregte Gespräche verwickelt. Die Autos standen kreuz und quer auf der Loher Straße.

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte der Brandmeister nun.

»Göbel, von der Wupperwelle.« Heike reichte ihm die Hand, doch der Feuerwehrmann übersah die Geste großzügig.

Er nickte verstehend. »Ah, Presse.«

Heike schüttelte den blonden Bubikopf. »Radio«, verbesserte sie energisch. »Was ist genau geschehen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, wüsste ich mehr, gute Frau. Laut Augenzeugenberichten brannte die Station schon lichterloh, als Fahrgäste den Bahnsteig betreten wollten.«

»Befand sich zum Zeitpunkt des Brandausbruchs wirklich niemand im Bahnhof?« Das klang unwahrscheinlich.

»Nein«, bestätigte der Feuerwehrmann. »Die Bahn war soeben abgefahren. Die hatten freie Bahn, wenn Sie verstehen. Keine Zeugen, nichts.« Er kicherte und zwinkerte Heike zu.

»Ehrlich gesagt, verstehe ich nichts ...«

»Ist doch klar«, half der Brandmeister ihr auf die Sprünge. »Die Züge waren abgefahren, und zwar fast zeitgleich in beide Richtungen. Wenn ich da oben«, er deutete zur Station hinauf, »ein Feuer machen will, dann warte ich, bis die Luft rein ist. Und das ist sie, wenn die Bahn gerade abgefahren ist.«

»Das heißt, es handelt sich um Brandstiftung?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich. Wie es aussieht, ist das Feuer in einem der Papierkörbe auf dem Bahnsteig ausgebrochen, um sich dann an einer Reklametafel und den Verkleidungen weiter zu nähren. Kann natürlich auch sein, dass ein Irrer eine brennende Kippe in den Papierkorb geschmissen hat. Was weiß ich? Den Rest sehen Sie ja.« Schulze deutete wieder hoch zur Haltestelle, aus der noch immer dichter Rauch quoll. Heike erkannte im gespenstischen Licht der leistungsstarken Scheinwerfer Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten, die sich dem Brandherd näherten. Die Rufe der Männer drangen bis zur Straße herab.

»Aber die Überwachungskameras«, warf die Reporterin ein. »Die Bahnhöfe werden doch im Leitstand per Monitor überwacht, oder nicht?«

»Was weiß ich, wie die das handhaben«, erwiderte Schulze. »Aber wenn Sie mich fragen, dann haben die Männer im Leitstand Döppersberg andere Dinge zu tun, als sich vor sämtliche Fernseher zu setzen, um auf böse Jungs zu warten.«

»Böse Jungs? Also doch Brandstiftung«, resümierte Heike.

Schulze legte den Kopf schräg: »Weiß der Geier.«

»Hmm.« Heike nickte. »Wie ist es, wenn ...« Das Handy in ihrer Tasche schlug an. Sie murmelte eine Entschuldigung und angelte nach dem Telefon.

»Wo steckst du denn, verdammt noch mal?« Jordan klang sauer. Er wartete noch auf ihren Beitrag. Jetzt hatte Heike etwas Besseres auf Lager. In fünf Minuten liefen die Lokalnachrichten. Es wurde höchste Zeit. »Okay, wir machen einen Mitschnitt live vom Ort des Geschehens«, freute sich Manfred Jordan. »Aktueller geht es nicht.«

Heike legte sich in Gedanken einen Text zurecht und kritzelte einige Worte auf ein Blatt Papier. In wenigen Minuten schon würde sie auf Sendung sein. Ihr Herz schlug einige Takte schneller.