Bleierne Müdigkeit hatte überfallartig von ihr Besitz ergriffen, und so hatte Heike nach einem kleinen Plausch mit den Kollegen der Redaktion im Brauhaus den Heimweg angetreten. Die anderen waren noch geblieben und konnten beim besten Willen nicht verstehen, weshalb Heike einfach nicht zu guter Laune fand. Sie ahnten ja nicht, dass die seltsamen Schwebebahnunfälle der letzten beiden Tage in direktem Zusammenhang mit der Wupperwelle standen. Michael Eckhardt hatte Wert darauf gelegt, dass Stefan Seiler und sie die einzigen Mitarbeiter des Senders blieben, die von der Erpressung wussten. Was den Chef des kleinen Lokalsenders betraf, so war dieser ungewohnt früh aus der Redaktion verschwunden.
Nach einigen Runden um das Viertel hatte sie eine Parklücke für den Twingo gefunden. Die Reporterin lebte in einem der Hochhäuser am Röttgen, einer Siedlung, die man in den Siebziger Jahren aus mehr oder minder kaltem Beton hochgezogen hatte, um möglichst viele zahlende Mieter auf möglichst wenig Grundfläche unterzubringen. Das war auf acht Etagen gelungen, und so hatte man ein Schwimmbad, eine Bibliothek und ein kleines Einkaufszentrum hinzugefügt. So war der Röttgen zur Ministadt in der Stadt geworden. Nur hatte man damals vergessen, dass die Ölkrise irgendwann einmal zu Ende sein würde und jeder ein eigenes Auto haben wollte, mit dem er einen Parkplatz in der Nähe seines Hauses suchen würde.
Hohl klangen ihre Schritte von dem Belag des Eingangsbereiches zurück, als die Reporterin unter permanentem Gähnen den Aufzug enterte. Mit geröteten Augen starrte sie auf die Kritzeleien, die ein begnadeter Künstler mit einem Edding auf die metallene Schachtwand geschmiert hatte. Die Penisform war ihm wenigstens gelungen. Sie drückte die gewünschte Etage und lehnte sich gähnend gegen die Kabinenwand des Aufzugs, während sie sich durch das erhitzte Gesicht fuhr. Die Kälte des Metalls durchdrang ihre Kleidung. Heike schloss die Augen. Ein anstrengender, erlebnisreicher Tag lag hinter ihr, und jetzt wollte sie nur noch eines: schlafen. Gerne hätte sie die Nacht bei Stefan verbracht, vielleicht hätten sie diesmal zueinander gefunden, um ihre dauerhaft platonische Freundschaft endlich zu beenden. Doch der Dienstplan sah andere Dinge vor. Stattdessen moderierte Stefan die Nachtshow.
Mit einem Ruck setzte sich der Lift in Bewegung, und das Ächzen der Drahtseile erschien ihr heute Nacht besonders laut. Auch die Kabine vibrierte an diesem späten Abend stärker als sonst...
Sekunden später öffneten sich die Türen im siebten Stockwerk.
Sie hatte es überlebt - der Aufzug war nicht abgestürzt, und hier lag ihre Wohnung. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie die hell erleuchtete Aufzugkabine verließ und in das dunkle Treppenhaus trat. Dort angekommen, glitten ihre Hände über den Rauputz der Wand, suchten nach dem Lichtschalter, fanden ihn schließlich. Die junge Frau betätigte den Knopf.
Klick.
Vergeblich.
Der kalte Flur blieb stockfinster.
»Scheiße«, murmelte Heike und wühlte in der Handtasche nach ihrem Wohnungsschlüssel. Einmal mehr verfluchte sie diese anonymen Wohnsilos. Sie waren nachts unheimlich, insbesondere für sie als allein lebende Frau. Alles wäre anders, wenn Stefan jetzt hier gewesen wäre.
Aber sie hatte nicht einmal ein verdammtes Feuerzeug bei sich.
Früher, als Teenagerin, hatte sie immer Feuer dabei gehabt, obwohl sie nie geraucht hatte. Ein alter Flirttrick, um die abgegriffene Masche »Haste mal Feuer« mit ja beantworten zu können.
Nur heute Nacht suchte sie das Feuerzeug vergeblich.
Die Reporterin seufzte. Sie wurde alt, ging stramm auf die dreißig zu.
Jetzt stand sie definitiv im Dunkeln.
Heike umklammerte den Wohnungsschlüssel fester. Hart bohrte sich das spitze Eisen in ihren Handballen. Beinahe hätte sie geschrien und lockerte den Griff. Mit einem leisen Surren schlossen sich hinter ihr die Türen des Fahrstuhls. Ratternd setzte sich das Gefährt in Bewegung, fuhr in die Tiefe.
Heike starrte unentschlossen auf den schmalen Lichtstreifen zwischen den Schiebetüren, der stetig abwärts wanderte, bis er völlig im unteren Stockwerk des Liftschachtes verschwunden war. Unschlüssig stand sie nun auf dem verlassen daliegenden Korridor der siebten Etage. Sie fühlte sich schlagartig allein. Ihre direkten Nachbarn, zu einem hohen Anteil Polen und Russlanddeutsche, kannte sie nur flüchtig. Außer einem Gruß hatte man nur wenig füreinander übrig. Schon eine Etage tiefer kannte sie keinen Menschen mehr.
All diese Gedanken ließen ihr Herz rasen. Heike warf den Kopf herum, glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. »Unsinn«, schalt sie sich, »wer sollte hier im Dunkeln herumirren? Ich spinne schon.«
Mit klopfendem Herzen betätigte sie den Lichtschalter noch einmal. Vielleicht hatte sie nicht fest genug gedrückt. Auch die Elektrik in diesem Wohnbunker war fast dreißig Jahre alt. Der Schalter klickte laut und vernehmlich, aber trotzdem: Es blieb dunkel im Treppenhaus.
Eine Mischung aus Wut und Angst stieg in ihr auf. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie schluckte trocken.
Heike Göbel wurde es siedend heiß.
Immer wieder hämmerte sie auf den Knopf ein. Immer wieder erfolglos. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie versuchte, die Dunkelheit mit ihren Augen zu durchdringen. Schemenhaft erkannte sie die Türen der Nachbarwohnungen, die matt schimmerten und sich vom hellgrauen Putz der Wände abhoben. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, stets bemüht, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Nach drei, vier Schritten stoppte sie ihren Weg und hielt die Luft an. Wieder glaubte sie, ein Geräusch vernommen zu haben. Heike legte den Kopf schräg und lauschte angestrengt. Vermutlich hatte sie einen Laut aus einer Nachbarwohnung aufgeschnappt. Von irgendwoher ertönte ein Lachen. Erleichtert setzte sie ihren Weg zur Wohnungstüre fort, langsam, Schritt für Schritt. Ihre Angst schlug bald in Wut um. Dem verfluchten Hausmeister würde sie morgen den Marsch blasen. Der alte Fettsack schiss Frauen an, die nicht regelmäßig das Treppenhaus putzten, schimpfte mit den Kindern, wenn sie auf der Grünfläche hinter dem Haus Ball spielten, aber wenn es etwas zu reparieren galt, war er plötzlich spurlos verschwunden.
›Stets auf der Flucht‹, durchzuckte es die Radioreporterin nun, ›wie einst Dr. Kimble ...‹
Heike tastete sich an der Rauputzwand entlang. Nach einer kleinen Ewigkeit hatte sie endlich ihre Wohnung erreicht. Wie zufällig berührte sie das Türblatt, wollte sich nur anlehnen, um das Schlüsselloch im Dunkeln zu ertasten. Doch die Tür gab nach. Wild ruderte Heike mit den Armen und stolperte in ihre Wohnung. Einen Wimpernschlag später fand sie sich im Korridor ihrer Wohnung wieder.
Ihr Herz schlug bis zum Hals, und die Gedanken rasten durch Heikes Hirn. ›Einbrecher‹, war das Erste, was ihr einfiel. ›Verdammt, sie haben meine Bude geknackt‹. Mit klopfendem Herzen stand sie in ihrem Korridor und hielt den Atem an. Sie versuchte die Dunkelheit zu durchdringen und vermied es, das Licht anzuschalten. Hielten sich die Langfinger noch in der Wohnung auf, oder waren sie mit Geldkassette, Fernseher und Hifi-Anlage längst über alle Berge?
»Hallo?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Da war jemand - direkt hinter ihr.
Sie verspürte einen kalten Luftzug, glaubte im Dunkeln eine Bewegung wahrzunehmen und fuhr herum, als sie einen harten Schlag am Hinterkopf spürte.
Auch 'ne Antwort.
Im nächsten Moment wurde es noch dunkler, sie sah für Bruchteile von Sekunden Sterne aufblitzen und glaubte plötzlich, Pudding in den Knien zu haben.
Mit einem kehligen Laut auf den Lippen sackte sie zusammen und schlug hart auf dem Boden auf. Doch davon spürte die Reporterin schon nichts mehr.
Der Abend war für Heike Göbel gelaufen.
*
Das Erste, was sie wahrnahm, war die stickige Luft.
Es roch nach kaltem Qualm, Schweiß und abgestandenem Bier. Und irgendwie muffig. Unwillkürlich rümpfte sie die Nase. Kneipenluft. Heike wollte sich bewegen, spannte die Muskeln an und spürte einen brennenden Schmerz an den Handgelenken. Man hatte sie gefesselt. Dass die Augen verbunden waren, nahm sie eine halbe Sekunde später wahr. Heike Göbel war zu einem handlichen Bündel zusammengeschnürt worden und lag rücklings auf einem harten, kalten Untergrund.
Wo befand sie sich hier nur?
»Mist«, zischte sie in einem Anflug von Panik. Langsam nur kehrte die Erinnerung zurück. Sie entsann sich, in ihrer Wohnung überfallen worden zu sein.
Und dann?
Filmriss, Dunkel, Ende. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich einfach nicht daran erinnern, was danach mit ihr geschehen war. Wie lange hatte sie hier schon herumgelegen?
»He, wo seid ihr?« Hohl klang ihre Stimme von der Decke zurück. In einem möblierten Zimmer konnte sie sich nicht befinden, es klang eher nach einem Verließ, einer Höhle, oder nach einem Keller. Panik keimte in der Reporterin auf. Wer hatte sie nur hierher gebracht?
»Ihr Scheißkerle«, brüllte sie mit heiserer Stimme. »Holt mich hier raus! Ihr könnt mich nicht behandeln wie ein Stück Dreck!«
Heike rappelte sich unter Schmerzen hoch, legte den Kopf schräg und lauschte. Stille.
»Hört mich keiner oder will mich keiner hören?«
Sie hatte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, fühlte sich wie ausgetrocknet. Außerdem war da noch das unangenehme Ziehen in der Blase. Sie musste pinkeln.
»Hallo«, startete sie einen weiteren Versuch. »Wo steckt ihr denn?«
Plötzlich hörte sie Schritte, die sich rasch näherten. Die Absätze klackerten hohl.
›Ein unterirdisches Gewölbe‹, durchfuhr es die Reporterin. ›Ich bin in einem verdammten Gewölbe gefangen, wo mich kein Schwein finden wird.‹
»Ich muss mal, geht das auch schneller?«, rief sie und versuchte vergeblich, das Zittern in ihrer Stimme zu vermeiden. Im nächsten Moment wurde ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt. Dann knarrte eine Tür. Fast wie in einem Gruselfilm.
»Schrei hier nicht rum!«
»Bindet mich los, ihr Säcke!«, erwiderte Heike unbeeindruckt.
Der Mann mit der tiefen Stimme lachte. »Immer mit der Ruhe, Schwester.«
»Wenn ich deine Schwester wäre, würde ich mich erschießen«, giftete Heike und zerrte an ihren Fesseln. Die Stricke schmerzten höllisch, also gab sie auf.
»Wer wird denn gleich so böse sein?« Der Mann trat näher, dann glaubte Heike zu spüren, wie er sich zu ihr hinabbeugte. Jetzt machte er sich an ihrer Augenbinde zu schaffen. Sekunden später konnte sie sehen. In dem kleinen Raum mit der niedrigen Decke herrschte ein diffuses Licht. Nur das Rechteck der Tür hob sich vom Dunkelgrau der feuchten Wände ab.
Flucht?
Sie überlegte fieberhaft und verwarf den Gedanken schnell. Wer immer sie entführt hatte, er hatte einen Grund dafür und würde alles daran setzen, sie nicht entkommen zu lassen. Vermutlich war die verdammte Tür bewacht.
Heike Göbel blickte in ein gerötetes Gesicht, das jetzt überdimensional vor ihren Augen auftauchte und sie andächtig betrachtete, fast schon taxierte. Hohe Stirn, stechender Blick, schmale Lippen und Mundgeruch wie ein Stier. Angewidert wich sie zurück.
Der Kerl lachte. »Nana«, machte er und schüttelte den Kopf. Er nahm Heikes Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte ihren Kopf herum. »Es scheint dir entgangen zu sein, Puppe: Hier haben wir das Sagen, nicht du. Es wäre wohl besser, wenn du lieb zu uns wärst.«
»Wer seid ihr und wo bin ich?«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Das spielt beides keine Rolle«, wurde sie belehrt, während der Typ sich an ihren Fesseln zu schaffen machte. Als sie die Hände frei bewegen konnte, rieb sie sich die schmerzenden Knochen. Rote Striemen zierten die Handgelenke.
»Sag einfach Erik zu mir«, brummte ihr Gegenüber.
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.
Erik war ausgesprochen breitschultrig, hatte eine lange, krumme Nase und die strähnigen, dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug einen dunklen Designeranzug, einen schwarzen Rolli und Lackschuhe mit silbernen Schnallen. Ein typischer Zuhälter. Erleichtert stellte sie fest, dass es wenigstens nicht Klaus Gembowsky war, der sie entführt hatte.
»Vielleicht ist es interessant zu wissen, dass dir kein Haar gekrümmt wird, wenn du keinen Aufstand machst. Wir haben dich nur eine Zeitlang aus dem Verkehr gezogen. Mehr nicht. Auch diese Zeit wird umgehen, also füge dich deinem Schicksal.«
Sie rollte mit den Augen. Was blieb ihr auch anderes übrig? »Ich muss mal«, brummte sie, eine Spur leiser und blickte sich um. Wie Heike feststellte, befand sie sich tatsächlich in einem Keller. Ein Fenster gab es nicht. Das spärliche Licht kam von einer nackten Birne, die von der spinnwebverhangenen Decke baumelte.
»So was Dummes«, feixte Erik. »Ich lasse dir den Eimer bringen, wenn du lieb bist.« Er blickte über die Schulter.
Nur eine Türe führte hinaus, und im Türrahmen baute sich soeben ein bärtiger Hüne auf, der sie mit finsterer Miene betrachtete und demonstrativ die Arme vor der muskulösen Brust verschränkte. Der Muskelberg erinnerte Heike an den jungen Bud Spencer.
›Okay‹, dachte sie Gott ergeben. ›Also keine Flucht.‹