Ich bin nicht da.«
Verschlafen räkelte Norbert Ulbricht sich im Bett herum, als das verdammte Telefon auf der Kommode im Korridor anschlug. Dicke Regentropfen trommelten gegen das Schlafzimmerfenster und rannen in dichten Wasserbahnen herab, um auf dem Fensterblech ein monotones Rauschen zu erzeugen. Kommissar Verdammt tastete blind nach dem Schalter der Nachttischlampe. Als der matte Schein der kleinen Lampe das Schlafzimmer des Kommissars erleuchtete, blinzelte er auf den Wecker. »Es ist kurz vor elf. Mitten in der Nacht«, knurrte Ulbricht und kroch noch tiefer unter die Decke. »Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen, und irgendwann braucht auch ein fleißiger Mann wie ich ein paar Stunden Schlaf.«
Das Klingeln des Telefons riss nicht ab. Fast schien es, als würde das Läuten dringender, mahnender. Das waren die wenigen Momente im Leben, in denen er sich eine Frau wünschte. Dann hätte er sie jetzt zum Telefon schicken können, um den verdammten Anrufer abzuwimmeln. So aber überwog sein Pflichtgefühl. Ulbricht seufzte. »Schön, dann werde ich drangehen.« Energisch stieß er die Bettdecke fort und setzte die nackten Füße auf den Wollteppich vor dem Bett. Barfuß stapfte er durch das Zimmer zum dunklen Flur.
»Ulbricht?«
Stille.
»Hallo - ist da wer?« Norbert Ulbricht gähnte unverhohlen in den Hörer und hoffte inständig, dass sich der Anrufer einfach nur verwählt haben möge. Dem war nicht so. Leider.
»Und wer nimmt sich die bodenlose Frechheit raus, hier nachts anzurufen?«, raunzte er, nachdem sich am anderen Ende der Leitung jemand kleinlaut räusperte.
»Radio«, erwiderte der Anrufer. »Wupperwelle.«
»Radio?« Er stutzte. Niemand wollte um diese Zeit ein Interview von ihm. »Herr oder Frau Radio?«, fragte er.
»Seiler mein Name - entschuldigen Sie die Störung. Aber es eilt, und wir haben eine heiße Spur.«
Das roch nach Schwierigkeiten.
»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich zu stören.«
Was er von dem Radioreporter erfuhr, war tatsächlich eine heiße Spur. Sollte man das verdammte Journalistenvolk letzten Endes doch noch gebrauchen können? Unglaublich.
»Das ist ja ein echter Hammer. Wenn das stimmt, dann ... Verdammt, ja, natürlich. Sicher. Ja, ich bin gleich unterwegs.«
Ende der Nachtruhe.
*
Stefan hatte Michael Eckhardt auch zu Hause erreicht.
Natürlich war auch der nicht sonderlich erbaut gewesen, von seinem Reporter so spät gestört zu werden. Eigentlich wollte er diesen Abend einmal daheim verbringen, mit Bier, Kartoffelchips und einem gewohnheitsmäßig schlechten Fernsehgramm. Kaum hatte er sich auf der bequemen Couch niedergelassen und die erste Bierdose geöffnet, als er sich ernsthaft fragte, wofür er denn nun GEZ und Kabelfernsehgebühren bezahle.
»Da hat man schon fünfundzwanzig Kanäle, und nur Schrott!«, hatte er geschimpft, als das Telefon klingelte. Es ging eben nichts über Radio. Dennoch: Der vermeintlich freie Abend war mit dem Anruf von Stefan Seiler gelaufen.
Kaum zwanzig Minuten später stand er am Eingangsbereich des Kleingartenvereins. Dort wurde er von Stefan und Heike, einem äußerst schlecht gelaunten Ulbricht, dessen milchgesichtigen Assistenten, einigen Streifenpolizisten und einem kleinen Spurensicherungstrupp empfangen.
»Und Sie sind sicher, dass das Sinn macht?«, fragte Eckhardt, an Ulbricht gewandt. »Das ist ja die reinste Razzia. Wenn er's nun gar nicht ist.«
Der Kommissar kaute auf einem erkalteten Zigarettenstummel herum und betrachtete die Schuhspitzen seiner ausgetretenen Hush Puppies. Nächste Woche würde er sie mal wieder putzen. »Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich schreibe Ihnen ja auch nicht vor, welche Musik Sie im Radio spielen. Aber um Sie nicht dumm sterben zu lassen: Ich habe mir das Original des Erpresserschreibens besorgt.
Er zog das Schreiben aus der Tasche seines Trenchcoats und wedelte Eckhardt damit vor der Nase herum. »Die Jungs hier von der Spurensicherung haben sich vor Begeisterung in den Arsch gebissen, als ich sie zum Dienst holte. Wegen ... wegen eines Briefes.« Er schüttelte den Kopf, dann erhellte ein Grinsen seine Gesichtszüge, und er wirkte versöhnlicher. »Das Schriftbild ist absolut identisch mit dem des Zettels, den mir Ihr Mitarbeiter besorgt hat. Dann gibt es noch einige Argumente, die gegen diesen Lange sprechen. Zunächst bestätigte mir der Betriebsleiter der Vohwinkler Werkstatt, dass Lange in den letzten Tagen nur unregelmäßig zum Dienst in der Werkstatt erschienen war. Er gab Arzttermine und eine Autopanne als Gründe an.«
Stefan wechselte einen raschen Blick mit Heike. Sie hatte Käfer-Klaus am Schwebebahnhof Loh gesehen, nachdem dort das Feuer ausgebrochen war. Zu einer Zeit, zu der normale Menschen längst arbeiten.
Ulbricht zählte weiter auf und dozierte wie ein zerstreuter Professor. »Er hat verdammt viele Schulden, säuft und lebt geschieden von seiner Frau, zahlt Alimente, fährt einen Oldtimer und hat dennoch Geld, einen Kleingarten zu halten? Da kommt 'ne Menge Holz zusammen, mein lieber Mann. Außerdem hat Seiler in der Laube eine verdächtige Werkzeugtasche mit Elektroteilen gesehen. Also scheint der Bursche auch auf dem Gebiet der Elektrik nicht ganz unbewandert.«
»Das getauschte Schütz im Schwebebahn-Auffahrunfall?« Eckhardt schürzte die Lippen.
»Möglich ist alles. Da wir so ziemlich im Dunkeln tappen, müssen wir uns jeder Spur annehmen.«
Stefan trat mit Heike einen Schritt näher, als sich die Streifenbeamten einsatzklar machten. »Können wir dabei sein?«
»Muss das sein?« Verdammt stöhnte auf.
»Geben Sie sich einen Ruck, Mann«, forderte der Chefredakteur ihn auf. »Immerhin steckt unser Sender knietief mit drin in der Geschichte. Da wäre eine kleine Exklusivstory doch das Mindeste, was rausspringen müsste, oder? Als kleine Entschädigung, sozusagen.«
»Sie werden mir unheimlich, Eckhardt«, flüsterte Ulbricht und dachte angestrengt nach. Dann hatte er sich eine Strategie zurechtgelegt.
»Ich denke, es ist unklug, wenn Ihre Leute bei der Vernehmung anwesend sind. Die Exklusivstory ist Ihnen sowieso sicher. Von mir aus können Sie aus der Entfernung Zusehen, wenn der Typ abgeführt wird. Aber hüten Sie sich, mit Namen rauszurücken!«
»Ich kenne das Datenschutzgesetz«, erwiderte Eckhardt.
»Gut, dann lassen Sie uns jetzt einfach unsere Arbeit machen.« Ulbricht ließ Eckhardt, Heike und Stefan stehen wie begossene Pudel und gab seinen Leuten ein Zeichen. Gefolgt von seinem Assistenten und vier uniformierten Polizisten betrat er den kiesbelegten Weg der Kleingartenanlage.
»Typisch Bullen«, wetterte Heike, als die Beamten außer Hörweite waren. »Wir dürfen die Drecksarbeit machen, und wenn es spannend wird, dann behandelt man uns wie dumme Kinder. Das ist das Letzte!« Sie stapfte wütend mit dem Fuß auf und ballte die kleinen Hände zu Fäusten.
Stefan nahm sie in die Arme und strich ihr durch das Haar.
»Wir werden nichts verpassen, ganz sicher.«
*
»Hallo und guten Morgen, hier ist Stefan Seiler, Sie hören den Wupperwecker, ich heiße Sie herzlich willkommen mit It Is A Good Sign von Emilia, und über das gute Zeichen werden wir gleich in Ruhe reden. Versprochen, also bleiben Sie dran.« Regler zurück, Kopfhörer ab.
»Come on, Come on, Come on ...« sang er leise mit.
»He, so gut gelaunt?« Heike räkelte sich verschlafen im Studiostuhl, als Stefan den Kopfhörer abnahm. »Was meintest du mit dem guten Zeichen, über das du gleich reden wolltest?«
»He, mein Schatz«, rief Stefan gut gelaunt und drückte sie an sich. »Ist es etwa kein gutes Zeichen, dass unsere alte Schwebebahn wieder fährt?«
»Jetzt hat die Bahn mal einen einzigen Tag gestanden, und schon hat ein echter Wuppertaler Entzugserscheinungen ...« Heike schüttelte den Kopf. Sie war kurz nach Stefan schon morgens um vier Uhr ins Studio gekommen; und das, obwohl heute eigentlich ihr freier Tag war. Schuld daran war ihre Neugierde: Als sie aus dem Schlaf aufschreckte, weil Stefan auf dem Weg zur Arbeit die Tür eine Spur zu unsanft ins Schloss fallen gelassen hatte, musste sie unbedingt hinterher, um zu erfahren, was sich gestern noch ereignet hatte. Es hatte nach der Festnahme von Käfer-Klaus noch eine Pressekonferenz im Polizeipräsidium gegeben. Kommissar Verdammt hatte mit einer bemerkenswerten Mischung aus Stolz und Verlegenheit berichtet, wie Radioreporter die Kripo auf die richtige Fährte gebracht hatten. Heike war einfach zu müde gewesen, die Strapazen der Entführung hatten ihr zu tief in den Knochen gesteckt. Sie musste unbedingt schlafen, sodass Stefan alleine zur PK gegangen war. An diesem frühen Morgen hielt sie nichts mehr in den Federn - sie wollte jetzt von ihm wissen, was sich im Einzelnen abgespielt hatte.
»Sei lieber froh, dass alles so reibungslos geklappt hat«, erwiderte Stefan lachend. »Es war gut, dass Ulbricht die Leute von der Spurensicherung mitgebracht hatte. Sogar an den matschverschmierten Stiefeln in Klaus Langes Laube haben sie Spuren sichern können. Nämlich die vom aufgeweichten Waldboden an der Konradswüste.«
»Dann hat er selbst das Motorrad gefahren?«, fragte Heike.
»Sicher.« Stefan nickte. »Obwohl er im Polizeipräsidium steif und fest behauptet hat, dass seine Kumpanen sich jetzt fürchterlich für seine Festnahme rächen würden.«
»Was ist, wenn er diesmal nicht lügt?«
»Er lügt. Sogar das als gestohlen gemeldete Motorrad gehörte ihm bis vor einem halben Jahr selbst. Damals war der Feuerofen für ihn uninteressant geworden. Außerdem benötigte er dringend Geld, also ließ er die Geländemaschine verschwinden und kassierte die Versicherungssumme. Jetzt, als er sich seinen Plan zurechtgelegt hatte, erinnerte er sich an das Motorrad, das noch immer bei einem Bekannten in der Scheune schlummerte. So konnte ihm die Maschine ein letztes Mal wertvolle Dienste leisten.«
»Und das Schütz? Hat er es manipuliert?«
»Wie ein Techniker der Stadtwerke sagte, müssen schon viele unglückliche Zufälle ineinander spielen, bis es zu einem derartigen Unfall kommen kann.« Stefan schnalzte mit der Zunge. »Entweder ist unser Klaus ein gewiefter Elektriker, oder der Zufall hat es gut mit ihm gemeint, als er das Schütz austauschte. Dumm nur, dass die Kripo das intakte Teil in der Gartenlaube fand.«
Heike hatte sich erhoben und war durch das Studio gewandert. Im Osten ging die Sonne auf und tauchte die technische Einrichtung in ein warmes, gleißendes Licht. Es würde wieder ein sonniger, ein heißer Sommertag werden, und nichts deutete mehr auf die Schrecken der vergangenen Tage hin.
Hans Zoch hatte sich rasch erholt und würde in wenigen Tagen wieder einen Schwebebahnzug steuern können. Sie gönnte ihm das Vergnügen von ganzem Herzen. Die Fahrgäste, die bei den Zwischenfällen verletzt worden waren, hatten die Krankenhäuser rasch wieder verlassen können und befanden sich allesamt wieder daheim. Dennoch: Den Schrecken, einen Unfall oder ein Attentat im sichersten Verkehrsmittel der Welt miterlebt zu haben, würden sie so schnell nicht überwinden.
Vielleicht sogar niemals.
Die Bewegung 12. April war jedenfalls aufgeflogen. Ganz nebenbei hatten sie noch einen zwielichtigen Barbesitzer, der die Wuppertaler Prostitution im Würgegriff gehalten hatte, in den Knast gebracht, mehr zufällig, und nur, weil er sich an Heike vergriffen hatte. Aber die Gefahr war endlich gebannt, und nun konnte man wieder beruhigt in die Schwebebahn einsteigen.
So, wie man es in der Stadt schon seit über hundert Jahren tat.
Wie auf ein stilles Kommando ratterte unten an der Wupper die erste Schwebebahn des Tages vorüber. Noch nie hatte sich Heike so über das Quietschen der Eisernen Lady gefreut. Es war ein vertrautes Geräusch, es war der Sound der Stadt...