Am nächsten Morgen erreichten sie die Redaktion erst zehn Minuten vor der Konferenz. Hinter ihnen lag eine lange Nacht; Heike hatte der Polizei noch lange Rede und Antwort stehen müssen, bevor man sie gehen ließ. Nachdem sie Peter nach Hause gebracht hatten, waren sie noch auf einen letzten Cappuccino in Rick's Cafe auf der Neumarktstraße gewesen, um die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten, was ihnen aber nur schwer gelang. Immerhin: Rick's Cafe war eine Kneipe für Nachtschwärmer, und die vergnügungssüchtigen jungen Menschen, die sich hier aufgehalten hatten, hatten sie mitleidig betrachtet und leise getuschelt, als sie die ermattete und todmüde Heike gesehen hatten.
Irgendetwas hatte seine Freundin daran gehindert, einfach so heimzufahren. Sie brauchte jemanden, mit dem sie über alles reden konnte. Stefan hatte sich gern geopfert. Den zunächst geplanten Besuch in ihrer Wohnung am Röttgen hatten sie auf den nächsten Tag verschoben - ihre Körper zollten der Anstrengung des Tages Tribut, und so hatte Stefan sie nicht lange überreden müssen, mal wieder bei ihm zu übernachten.
Obwohl ihr von Klaus Gembowsky keine Gefahr mehr drohte, hatte Heike sich sichtlich wohl unter seinem Schutz gefühlt. In der Marienstraße kannte sie niemand.
Jetzt betraten sie händchenhaltend das Großraumbüro der Wupperwelle. Die Kollegen musterten die beiden neugierig -Stefan wusste nicht, was sie von Eckhardt erfahren hatten, aber niemand wagte es, dumme Sprüche zu kloppen.
»Da sind Sie ja.«
Die beiden fuhren auf dem Absatz herum. Hinter ihnen stand Michael Eckhardt. Das modische, hellblaue Hemd wies Kaffeeflecken auf, die Krawatte hing wie üblich windschief am Kragen. Er hatte sich die Haare gerauft, warum auch immer, und wirkte unausgeschlafen und schlecht gelaunt.
Vermutlich lag es diesmal nicht an den aktuellen Einschaltquoten.
»Ich weiß, wir sind spät dran«, entschuldigte Heike das Erscheinen.
»Geschenkt«, unterbrach Eckhardt sie und winkte jovial ab. Jetzt huschte der Ansatz eines Lächelns um seine müden Augen. Er nahm die Brille ab und führte den Bügel zu den Lippen. Schweigend stand er einfach vor den beiden und musterte sie nachdenklich.
Stefan hätte ein Vermögen bezahlt, seine Gedanken lesen zu können.
»Willkommen daheim, Frau Göbel«, sagte Eckhardt schließlich und reichte Heike die Hand. Sie war sichtlich verdutzt über die Herzlichkeit des Chefs.
»Danke«, stammelte sie etwas perplex und errötete.
»Ich hoffe, es geht Ihnen gut?«
»Jaja, es ist noch alles dran.« Heike lächelte. »Aber so eine Entführung ist eine einmalige Erfahrung - auf eine Wiederholung kann ich gern verzichten.«
»Hat man den Boten der Bewegung 12. April inzwischen überführt?«, wechselte Stefan das Thema.
Michael Eckhardt blickte ihn irritiert an, setzte sich die Brille wieder auf die Nase und zuckte mit den Schultern. Mit ernster Miene hockte er sich auf die Schreibtischkante und verhinderte so, dass Stefan sich an seinen Arbeitsplatz setzen konnte. »Kann ich Sie alleine sprechen?« Er warf Heike einen raschen Blick zu. »Sie natürlich auch, Frau Göbel.«
»Aber die Redaktionssitzung beginnt in fünf Minuten«, gab sie zu bedenken und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
»Die kann warten«, erwiderte Eckhardt bestimmt. »Augenblicklich gibt es wichtigere Dinge als die tägliche Konferenz.«
Während sie dem Chef der Wupperwelle in die Abgeschiedenheit seines Büros folgten, warfen sich Stefan und Heike viel sagende Blicke zu. Was immer es war, es schien äußerst wichtig zu sein - wenn der Chef sogar die Redaktionssitzung verschob. Sie waren gespannt.
*
»Und?«, wiederholte Stefan seine Frage, nachdem sie auf den Stühlen vor Eckhardts Schreibtisch Platz genommen hatten. »Hat man den Boten gefasst?«
»Nein«, erwiderte Michael Eckhardt und massierte sich den Nasenrücken, während er sich in seinem Ledersessel zurücklehnte. »Leider ist er spurlos verschwunden.«
»Und der Peilsender, mit dem der Karton versehen war?«
Der Chef nippte an seinem Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und stellte die Tasse auf den Schreibtisch zurück. »Rattengift«, diagnostizierte er. »Man sollte die Volontärin feuern. Aus der wird nie eine gute Journalistin. Niemals, sage ich Ihnen!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte und beugte sich weit vor. Seine Blicke wanderten zwischen Heike und Stefan hin und her.
»Herr Eckhardt«, erinnerte die Kollegin ihn, »was ist mit dem Lösegeldüberbringer der Bewegung 12. April?« Stefan hatte ihr noch in der Nacht berichtet, was er am Telefon vom Chefredakteur erfahren hatte.
»Fehlschlag«, murmelte Eckhardt und wischte sich durch das errötete Gesicht. »Er ist der Polizei durch die Lappen gegangen, und das, obwohl der gesamte Bereich Hammesberg und Konradswüste hermetisch abgeriegelt war. Sondereinsatzkommando, Bereitschafts- und Kriminalpolizei... alle waren sie da, und trotzdem ...« Er kehrte schulterzuckend die Handflächen nach oben.
»Wie konnte das passieren?« Stefan war fassungslos.
»Der Mann kam auf einem Motorrad - ein Umstand, mit dem scheinbar keiner gerechnet hatte.« Eckhardt schüttelte den Kopf, so, als könne er selber nicht glauben, was geschehen war.
»Was ist daran so ungewöhnlich?«, fragte Heike. Ihre Augen waren groß geworden. Sie schlug die langen Beine übereinander und beugte sich weit vor. »Es ist nachvollziehbar, dass man mit einem leistungsstarken Krad bessere Chancen hat, einer Polizeieskorte zu entkommen. Kein Personenwagen ist so wendig und so spurtschnell wie ein Motorrad.«
»Das ist es nicht«, brummte Eckhardt. Er nippte noch einmal an dem Rattengift und schüttelte sich erneut, bevor er fortfuhr. »Der Bote kam mit einer schweren Geländemaschine. Er hat Haken geschlagen wie ein Hase und ist durch das Gelände geflüchtet. Die Polizisten hatten einfach keine Chance, ihm auf den unbefestigten Waldwegen zu folgen. Weiß der Teufel, wie er es geschafft hat unterzutauchen. Scheinbar kennt er die Gegend wie seine Westentasche. Jedenfalls entkam er über die Konradswüste, eine Sackgasse, die mitten im Wald endet. Von dort aus ist dem Fahrer der Maschine die Flucht durch das Bundeswehrübungsgelände am Scharpenacken gelungen. Weiß der Geier, wie der Kerl sich bei völliger Finsternis orientieren konnte.« Eckhardt schnaubte wütend und schüttelte den Kopf. Dann haftete sein Blick auf Stefan.
»Auf der Flucht hatte er doch den Karton mit dem imaginären Lösegeld bei sich, oder?«, folgerte Stefan und erntete ein zustimmendes Brummen vom Chef. »Also war jederzeit nachvollziehbar, wo sich der Erpresser aufhielt. Wie konnte er trotzdem entkommen?«
Michael Eckhardt seufzte und lehnte sich wieder weit zurück. »Kennen Sie die Gegend zwischen Konradswüste und Scharpenacken?«
»Kaum«, räumte Stefan ein, und auch Heike zuckte mit den Schultern.
»Es gibt wenige Wege, und wenn, dann sind diese nur mit geländegängigen Fahrzeugen zu bewältigen. Der Erpresser -übrigens der Mann, der sich immer wieder telefonisch gemeldet hatte, ich habe ihn an der Stimme wiedererkannt -war in der Lage, Wege zu befahren, die sonst nur den Fahrzeugen der Bundeswehr Vorbehalten sind. Er entkam durch eben dieses Gebiet, sinnigerweise ein Naturschutzgebiet.«
»Man hätte ihn stellen müssen«, brummte Stefan. »Der Typ konnte nicht unbegrenzt im Gelände bleiben, immerhin musste er irgendwann einmal auf eine feste Straße zurückkehren, um das Lösegeld den Leuten zu übergeben, mit denen er zusammenarbeitet.«
»Was schwer fallen dürfte, da der Kopf der Bande noch in der Nacht dem Haftrichter vorgeführt wurde«, dachte Heike laut nach und kaute auf der Unterlippe. »Was ist, wenn wir irren und es sich bei dem Erpresser doch um einen Einzelkämpfer handelt?«
»Das ist die Frage. Alles deutet darauf hin, dass eine ganze Bande daran arbeitet, es der Schwebebahn schwer zu machen und den Fahrdienst zu boykottieren. Das klingt nach Sabotage im großen Stil, unmöglich machbar für einen einzelnen Täter. Und derzeit geht die Ermittlungskommission der Kripo davon aus, dass es sich bei dem Motorradfahrer nur um einen Handlanger handelt, der für eine größere Organisation arbeitet.«
»Wie die Bewegung 12. April, respektive Klaus Gembowsky und Gang?« Stefan verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Dann dürfte der Mann seit vergangener Nacht ohne Auftraggeber dastehen. Dumme Situation.«
»Deshalb fährt auch heute die Schwebebahn wieder.«
Die Reporter blickten den Chef fragend an.
»Eigentlich war geplant, die Schwebebahn in den Depots zu belassen, sollte die Lösegeldübergabe tatsächlich scheitern. Man wollte eine unnötige Gefährdung der Fahrgäste ausschließen. Jetzt allerdings ...« Eckhardt kehrte die Handflächen nach oben und grinste zum ersten Mal an diesem Morgen, »jetzt verhalten sich die Dinge anders. Die Bewegung 12. April sitzt hinter schwedischen Gardinen, und ein Mann alleine wird nicht das bewirken können, was die ganze Bande anrichten konnte.«
Wie um seine Worte zu bekräftigen, ratterte im nächsten Augenblick eine orange-blaue Bahn am Fenster der Redaktion vorüber. Alles schien wie immer.
»Bliebe die Theorie der Sabotage«, bemerkte Stefan leise.
»Was denken Sie?« Eckhardt musterte seinen Reporter.
Stefan zuckte die Schultern und zog die Mundwinkel abschätzend nach unten. »Das werde ich herausfinden«, erwiderte er mit tonloser Stimme.
»Was ist denn jetzt mit dem Geldboten?«, hakte Heike nach.
»Er ist, wie erwähnt, durch das Naherholungsgebiet entkommen. Am Rastplatz Blombachtalbrücke in Ronsdorf hat er angehalten, um den Inhalt des Kartons zu überprüfen. Nachdem er feststellte, dass man ihm lediglich alte Zeitungen mitgegeben hatte, ließ er den Pappkarton samt Peilsender zurück. Ebenso das Motorrad, übrigens ohne Kennzeichen. Die Maschine ist als gestohlen gemeldet, schon seit langer Zeit. Der Fahrer hat sie hinter einer Hecke am Parkplatz zurückgelassen. Als die Beamten dort eintrafen, fanden sie lediglich die Maschine und den wertlosen Karton. Vom Täter keine Spur.«
»Das ist ein Witz«, schimpfte Heike und sprang vom Stuhl auf. Sie wanderte durch das Büro und trat an das Fenster.
»Leider nein«, entgegnete Eckhardt mit erhobener Stimme. »Wir gehen davon aus, dass der Bote am Blombachtal in ein bereitstehendes Auto umstieg und unerkannt flüchten konnte. Auch eine eingeleitete Ringfahndung verlief ergebnislos.«
Heike schüttelte stumm den Kopf und starrte noch immer aus dem Fenster. Das kalte Glas kühlte ihre erhitzte Stirn. Sie beugte sich weit vor und konnte rechter Hand die kühne Stahlglaskonstruktion der Haltestelle Alter Markt erkennen. In diesem Moment verließ eine Bahn die Station. Der orangeblaue Lindwurm nahm rasch Fahrt auf und rollte am Gebäudekomplex des ehemaligen Kaufhofs vorüber. Plötzlich blitzte es im Untergeschoss des Parkhauses einmal kurz auf, dann erschütterte ein harter Ruck die Bahn, und eine Scheibe barst. Heike glaubte, den Knall bis ins Chefbüro der Wupperwelle vernehmen zu können. Der Zug rollte aus und blieb schließlich mitten auf der Strecke stehen. Was war da passiert?
»Oh nein«, rief Heike und stieß sich vom Fenster ab. Sie war aschfahl, als sie erst ihren Chef, dann Stefan anblickte. Aufgeregt deutete sie zum Fenster. »Da ist etwas geschehen - hinten, an der Schwebebahn!«
*
Roland Schwarzbach drückte den Knopf, der die Türen verriegelte. Als er das Strecke frei-Signal erhalten hatte, drückte er den Fahrhebel sanft nach vorn. Das Surren der vier Laufwerke auf dem Dach der Schwebebahn drang bis zu ihm in den Fahrerstand. Das war ein vertrautes Geräusch, es war das Geräusch seiner Schwebebahn. Schwarzbach war zweiundvierzig Jahre alt und hatte bis zum vergangenen Jahr hinter dem Steuer eines Linienbusses sein täglich Brot verdient. Schon lange hatte er sich um eine Stelle als Schwebebahnfahrer beworben, und endlich hatte man sein Flehen in der Personalabteilung der Stadtwerke erhört. Jetzt war er einer der knapp achtzig Schwebebahnfahrer, die die Welt aus rund acht Metern Höhe betrachteten. Sicher, es gab anspruchsvollere Jobs, als acht Stunden am Tag am Gerüst zwischen Vohwinkel und Oberbarmen zu pendeln, aber Schwarzbach war geborener Wuppertaler und stolz auf das Wahrzeichen der Stadt. Daheim wartete Gitte, seine Gattin und Chrissy, seine siebenjährige Tochter. Er hatte ein gesichertes Einkommen, sein Beruf machte ihm Spaß - was wollte er mehr? Nie würde er den Tag vergessen, als er seine Fähigkeiten als Schwebebahnfahrer unter Beweis gestellt hatte und von einem Stellvertreter des Betriebsleiters die Fahrberechtigung für die Schwebebahn, so der offizielle Name des speziellen Führerscheins, erhalten hatte.
Der Ausbau des rund hundert Jahre alten Gerüsts war vorangeschritten. Allerdings häuften sich die Zwischenfälle in den vergangenen Tagen, - was aber nichts mit dem Ausbau zu tun hatte, so viel stand fest! Seither waren dem dunkelblonden Fahrer die streng dreinblickenden Männer aufgefallen, die sich in den Wagenhallen umgesehen hatten. Jeder Zug wurde peinlichst genau inspiziert, bevor er auf Strecke durfte. Was hatte das nur zu bedeuten? Auch die Fahrdienstleitung hatte angeblich keine Ahnung, warum die übertrieben strengen Sicherheitskontrollen durchgezogen wurden. Irgendjemand von den Kollegen hatte mal einen der Anzugträger als Staatsanwalt Pesche erkannt. Wenn die Staatsanwaltschaft ermittelte, folgte oft ein dicker Brocken. Erwartete man wieder einen Zwischenfall?
Er wusste es nicht.
Jetzt war seine Bahn brechend voll, zahlreiche Schulkinder befanden sich in der Schwebebahn und hatten nichts Besseres zu tun, als die älteren Fahrgäste zu nerven. War er als Kind auch so furchtbar gewesen?
Nein, sicher nicht.
Langsam rollte der Lindwurm aus dem Alten Markt, passierte den ersten der beiden achtunddreißig Meter hohen H-Pylonen, die die Stahlseilkonstruktion über der großen Kreuzung spannten. Eine innere Befriedigung erfüllte ihn, als er die verstopften Straßen unter dem Gerüst sah. Damit hatte er nichts zu tun.
Jetzt befand er sich zwischen den Stützen Nummer 400 und Nummer 394, in Richtung Elberfeld. Soeben passierte die Bahn die Betonfassade des Kaufhofs, ein quaderförmiger Betonbau aus den sechziger Jahren mit dem Charme einer gestürmten NVA-Kaserne. Das Parkhaus schloss sich dem eigentlichen Kaufhaus an und spannte sich brückenförmig über dem Steinweg, der hier in den Alten Markt mündete.
Ein kurzes Aufleuchten riss Schwarzbach aus seiner Lethargie, sein Kopf ruckte nach rechts. Was hatte er dort gesehen?
Ein huschender Schatten, ein kurzes, metallisches Blitzen. Vermutlich ein Lichtreflex, hervorgerufen von einem der im Parkhaus abgestellten Autos. Soeben wollte Roland Schwarzbach erleichtert nach vorn blicken und das Tempo der Bahn erhöhen, als er zusammenzuckte: Eine vermummte Gestalt hockte auf der Brüstung des Parkhauses. Sie duckte sich an eine der massiven, gelb gestrichenen Betonsäulen, die das Gebäude stützten. Jedes Stockwerk des Parkhauses hatte eine eigene Farbe, und wenn Schwarzbach sich nicht irrte, besaß das erste Obergeschoss die Farbe Gelb.
Wieder blitzte es hinter der Betonstütze kurz auf.
Plötzlich wusste Schwarzbach, was ihn beunruhigt hatte: Der dunkel gekleidete Typ hielt eine Mündung auf die vorbeifahrende Schwebebahn.
Eine ... Mündung?
Ja, es bestand kein Zweifel: Er blickte in die Mündung einer Schusswaffe. Jetzt befand sich die Bahn auf gleicher Höhe, direkt neben dem vermeintlichen Schützen. Der vermummte Knabe riss die Waffe hoch und setzte an.
Dann überschlugen sich die Ereignisse: Jemand in der Bahn schrie auf, brüllte etwas wie: »Der schießt auf uns!«, dann kreischte eine alte Frau, die hinter dem Fahrerstand saß. Unter den Fahrgästen brach Chaos aus. Menschen schrien durcheinander, warfen sich zu Boden, ein kleines, blondes Mädchen vor dem Gelenk der Bahn weinte lauthals los. Im gleichen Augenblick riss Schwarzbach den Fahrhebel zurück und löste den Totmann-Schalter. Die Laufwerke quietschten vernehmlich, Eisen kreischte, als die Bahn verzögerte. Fast zeitgleich blitzte das Mündungsfeuer auf, Glas splitterte -direkt neben ihm. Schwarzbach wurde von umherfliegenden Splittern getroffen und ließ sich vom Fahrersitz gleiten. Er hoffte, dass das Glasfasermaterial des Wagenkastens mehr aushielt als die Scheiben. Der kleine Monitor zu seiner Rechten war getroffen worden. Mit einem satten Knall implodierte die kleine Bildröhre. Ein umherfliegendes Teil erwischte Schwarzbach am rechten Ohr. Er spürte das warme Blut, das über sein erhitztes Gesicht rann. Das graue Blech des Monitorgehäuses deformierte sich. Rauch stieg auf und behinderte Roland Schwarzbach die Sicht.
Ein Irrer hatte es auf die Schwebebahn abgesehen!
Er legte sich flach auf den Boden der Bahn, schrie überflüssigerweise in Richtung Fahrgastraum »Alle hinlegen!« und presste sich die Hände vor die Ohren.
Von einer Sekunde zur anderen kehrte eine gespenstische Stille ein.
War es vorbei?
War alles vorbei?
*
Programm der Wupperwelle
»Wie wir soeben erfahren haben, hat es vor wenigen Minuten einen erneuten Zwischenfall im Fahrbetrieb der Schwebebahn gegeben. Aus ungeklärter Ursache blieb ein Zug auf freier Strecke stehen, kurz nachdem er die Station Alter Markt verlassen hatte. Möglicherweise handelt es sich um einen kurzzeitigen Stromausfall. Wie die Stadtwerke uns mitteilten, ruht der Bahnverkehr bis auf Weiteres.
Unser Kollege Michael Eckhardt ist für Sie am Alten Markt und meldet sich, sobald es erste Erkenntnisse gibt.«
*
Ein letzter Schluck aus der Mineralwasserflasche, ein letztes Räuspern, die Mund- und Backenmuskulatur dehnen und Sprechübungen vor sich hin murmeln. Stefan verschwand mit den Manuskripten, dem Musiklaufplan und diversen CDs im gläsernen Studio des kleinen Senders. Seufzend ließ er sich auf dem Drehstuhl hinter den Reglern nieder, ordnete die Blätter zu einem einigermaßen erträglichen Chaos und setzte die Kopfhörer auf. Stefan schob eine CD ins Fach, hörte sich probeweise die Ramp an, stoppte die Zeit. Dann rückte er sich das Mikrofon zurecht und wartete. Noch liefen die Verkehrsmeldungen nach den Nachrichten, der Redakteur saß im Nebenstudio. Stefans Blick glitt ins Leere. Ein letztes Mal sammeln, in wenigen Sekunden war er On Air.
Just als das Jingle der Sendung Wuppertreff ertönte, betrat Heike das Studio, schloss eilig aber leise die Tür und ließ sich auf einen der freien Stühle sinken. Sie blickte betroffen drein. Sie wussten noch immer nicht, was am Alten Markt mit der Schwebebahn geschehen war, doch alles deutete darauf hin, dass jemand auf das Wahrzeichen der Stadt geschossen hatte. Leider hatte Stefan keine Zeit, mit Heike darüber zu reden, jetzt war er auf Sendung.
»Hallo und guten Tag, hier ist der Wuppertreff. Mein Name ist Stefan Seiler. Schön, dass Sie da sind. Wir starten mit Chris Rea, und der ist On The Beach.« Stefan riss den Regler des CD-Players viel zu schnell hoch und legte den Kopfhörer fort. Verflucht - er war unkonzentriert. Aber das war kaum ein Wunder, immerhin hatte es vor wenigen Minuten ein Unglück der Schwebebahn gegeben. Genauer gesagt: Es hatte einen weiteren Anschlag auf die Bahn gegeben, und Heike war Zeuge geworden. Sie hatte vom Fenster des Chefbüros aus beobachten können, wie jemand auf den Zug geschossen hatte. Die Bahn war mitten auf der Strecke stehen geblieben, kaum dass sie den Alten Markt verlassen hatte. Sie hatte auch die zerstörten Seitenfenster gesehen. Der Fahrer war nicht zu sehen gewesen - warum auch immer. Möglicherweise hatte der Schütze ihn getroffen und verletzt, oder gar Schlimmeres. Eckhardt persönlich war losgezogen, bewaffnet mit seinem Handy, um nach der ersten Musik im Wuppertreff einen kurzen Bericht per Telefon durchzugeben. Obwohl sich der Wuppertreff normalerweise aus Klatsch, Tratsch und lockeren Haushaltsthemen zusammensetzte, hatten sie das Programm kurzfristig gekippt, um über den Zwischenfall zu berichten.
»Ulbricht hat soeben angerufen«, sprudelte es aus Heike heraus, nachdem Stefan das Mikrofon dicht gemacht hatte.
Er blickte sie mit geneigtem Kopf an. »Und?«
»Jetzt weiß er, was unser Freund Axel Grimm in Gembowskys Haus gesucht hat und er weiß auch, dass beide nichts mit der Bewegung 12. April zu tun haben.« Heike blickte ihn mit großen Augen an.
»Erzähl.«
»Der werte Kollege stand auf Klaus Gembowskys Lohnliste.« Heike grinste und schlug die langen Beine übereinander. Einmal mehr verliebte Stefan sich in ihre Grübchen, die ihr etwas Mädchenhaftes verliehen, und fragte sich, wann aus ihnen endlich ein Paar werden würde. Ein richtiges Paar.
»Aber ...«, murmelte Stefan, »er arbeitet doch beim Talexpress.«
»Eben«, ereiferte Heike sich. »Denk doch mal nach!«
Langsam fiel der Groschen. Heike hatte Klaus Gembowsky, den zwielichtigen Nachtbargastronom, interviewen wollen. Zunächst hatte er sich einverstanden erklärt, um die negativen Vorurteile, die ihn schwer belasteten, im Kreise der Wupperwelle-Hörerschar abzubauen. Als Heike ihm aber eine Abfuhr erteilt hatte und sich nicht in seine Villa eingeladen ließ, verstand Gembowsky das als klare Kriegserklärung gegen seine Persönlichkeit. Nun musste er befürchten, dass die Originaltöne des Interviews - inklusive seiner patzigen Beschimpfungen, derer er sich trotz laufenden Tonbands einfach nicht enthalten konnte - gegen ihn verwendet würden und er somit in arge Schwierigkeiten käme. Das konnte er nicht ertragen. Er musste Heike aus dem Verkehr ziehen und von ihr die Herausgabe des Bandes erzwingen. In seiner Verzweiflung ließ er sie kurzerhand entführen: von seinen Handlangern, die zwar dumm, aber stark und ihm untertan waren. Somit war Heike schachmatt gesetzt, er hatte genug Zeit, sie weich zu kochen und sie konnte nichts gegen ihn unternehmen. Vor allem in dieser heiklen Phase der ungeklärten Nachlassregelungen des verstorbenen Rolf Spielberg durfte sich Gembowsky keine negative Publicity erlauben. Schließlich hatte er vor, den Geschäftspartner zu beerben. Jetzt endlich ergab die Sache für Stefan einen Sinn.
Heikes Entführung hatte also gar nichts mit dem Schwebebahnkomplott zu tun gehabt, war einer gänzlich anderen Sache dienlich gewesen.
Und Axel Grimm?
Er musste an jenem Abend, als Heike das Interview führte und er sie an der Schwebebahnstation traf, wo man den toten Rolf Spielberg gefunden hatte, dahinter gekommen sein, dass es zwischen Gembowsky und Heike Funken gegeben hatte, woraufhin er dem aalglatten Nachtclub-Besitzer das Angebot machte, Heike, ihren Freund und gleich die ganze Wupperwelle öffentlich zu diskreditieren. Dies war Rache für Gembowsky, und gleichzeitig für Axel Grimm eine willkommene Gelegenheit, den ungeliebten Kollegen vom Hörfunk eins auszuwischen. So hatte er dem Sender im Talexpress unterstellt, hinter den seltsamen Vorkommnissen um den toten Rolf Spielberg zu stecken, hatte Stefan in der Öffentlichkeit angeprangert und die Frage in den Raum gestellt, was die Wupperwelle wohl mit dem Selbstmord des unglücklichen Spielberg-Zwillingsbruders zu tun hatte. Auch eine Gegendarstellung, wie Michael Eckhardt sie vom Chefredakteur des Talexpress verlangt hatte, brachte letztendlich nichts mehr und diente lediglich der Ehrenrettung des Senders. Gegendarstellungen werden immer klein gedruckt, Prozesse werden erst geführt, wenn die Sache niemanden mehr interessiert. Die Wirkung der ersten Schlagzeile ist irreversibel.
»Stefan - du bist gleich dran«, riss Heikes Stimme ihn aus den Gedanken. Sie hatte sich weit über das Mischpult gebeugt und reichte ihm den Kopfhörer, während sie sich selbst ein anderes Paar Hörer aufsetzte. Tatsächlich neigte sich Chris Rea's On The Beach dem Ende zu.
Eine zierliche Gestalt huschte ins Studio, tickerte ein-, zweimal mit dem Kugelschreiber und räusperte sich. Stefan legte die Finger auf die Regler, während er kurz aufblickte. Beate war zu ihnen gestoßen. Sie nickte erst Heike, dann dem Moderator knapp zu.
»Der Chef ist am Telefon. Du sollst ihn gleich live auf Sendung nehmen.«
Stefan nickte, dann verschwand Beate.
»Sie hören den Wuppertreff, es ist gleich zwölf Minuten nach zehn, schön dass Sie die Wupperwelle eingeschaltet haben.« Kurze Atempause. Jetzt folgte eine freie Moderation. »Wie wir soeben gemeldet haben, ereignete sich vor wenigen Minuten ein weiterer Zwischenfall im Betrieb der Wuppertaler Schwebebahn. In den vergangenen Tagen kam es immer wieder zu Störungen, erst vorgestern gab es einen Auffahrunfall im Bahnhof Vohwinkel, bei dem rund zwanzig Personen und der Schwebebahnfahrer verletzt wurden. Jetzt vor Ort am Alten Markt ist mein Kollege Michael Eckhardt.« Stefan betätigte den Knopf, der das Telefon freischaltete.
»Herr Eckhardt, wie ist die derzeitige Lage am Unglücksort, und vor allem: Was genau hat sich dort ereignet?«
»Nun«, hörten sie die Stimme des Chefredakteurs im Kopfhörer, »sicher ist eigentlich nur, dass jemand auf eine fahrende Schwebebahn geschossen hat. Wie durch ein Wunder hat es lediglich drei Leichtverletzte gegeben, unter ihnen ist der zweiundvierzigjährige Fahrer der Bahn. Man hat die Bahn rückwärts in die Station Alter Markt gefahren und den Betrieb sofort eingestellt. Neben mir steht jetzt Erika Meister, die Pressesprecherin der Stadtwerke. Frau Meister, haben Sie einen Hinweis auf den Schützen, einen ersten Verdacht?«
»Nein«, ertönte die merklich entnervte Stimme der Pressereferentin. »Der Täter konnte unerkannt entkommen. Wie mir ein Sprecher der Polizei mitteilte, wurde sofort eine Großfahndung eingeleitet. Vermutlich handelt es sich um einen Anhänger der so genannten Bewegung 12. April, einer zwielichtigen Bande, die seit Tagen vergeblich versucht, die Betreiber der Schwebebahn zu erpressen.«
Stille.
Stefan und Heike glaubten sich verhört zu haben und wechselten entnervte Blick. Sie war blass geworden und musterte ihren Kollegen mit tellergroßen Augen. »Was hat sie da gesagt?«, flüsterte sie. Das Mikro hatte Stefan dicht gemacht, also konnten die Hörer an den Radios ihr Gespräch nicht mithören.
»Sie ... sie hat sich öffentlich zu der Erpressung bekannt«, wisperte er ungläubig. »Sie muss wahnsinnig sein. Das geht nicht gut... außerdem, die Nachrichtensperre der Polizei...«
»Es gibt eine Erpressung?«, fragte Eckhardt jetzt, scheinbar ebenfalls überrascht und gleichzeitig schockiert.
»Ja«, bestätigte die Meister, »und die verhängte Nachrichtensperre der Kriminalpolizei wurde soeben erst aufgehoben. Dennoch versicherte man mir, dass die Ermittlungen auf Hochtouren laufen. Bis zur Erfassung der Täter wird der Betrieb der Schwebebahn eingestellt, um unsere Fahrgäste nicht unnötig zu gefährden.«
Bevor die Meister weiter ins Detail gehen konnte, blockte Eckhardt sie geschickt ab. Die Situation war ihm natürlich unangenehm, immerhin litt die Wupperwelle vom ersten Tag an unter dem Abblocken der Erpressung.
»Soweit also die erste Stellungnahme von Stadtwerke-Sprecherin Erika Meister. Ich bleibe natürlich vor Ort und werde mich melden, wenn es neue Erkenntnisse gibt. Das war Michael Eckhardt live vom Alten Markt; zurück ins Studio zu meinem Kollegen Stefan Seiler.«
Mikro auf, kurze Moderation, und Musik. »Danke, Herr Eckhardt. Wir halten Sie natürlich auf dem Laufenden. Und hier kommt die bezaubernde Cher mit ihrem Superhit Believe.«
Während er den CD-Player startete, schüttelte Stefan den Kopf. »Sie hat die Erpressung öffentlich gemacht«, murmelte er ungläubig. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?«
»Dass die Bewegung 12. April das erreicht hat, was sie von Anfang an wollte: Alle, die mit der Erpressung Zusammenhängen, in die Knie zu zwingen«, erwiderte Heike lakonisch.
Verdammt, sie hatte Recht.