16. Kapitel

Die Stimmung in der Redaktion war gereizt, als Stefan kurz nach neun Uhr eintrudelte. Um halb zehn wurde in der allmorgendlichen Konferenz besprochen, was im Laufe des Tages gesendet wurde; man versammelte sich zum Brainstorming, um gemeinsam die Themen des Tages zu besprechen, die über den Äther gehen sollten. Außerdem arbeitete man ständig daran, der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz Hörer auszuspannen. Heike war zu Stefans Verwunderung nicht unter den Kollegen.

Bevor er nach der Konferenz an seinen Arbeitsplatz verschwinden konnte, wurde Stefan in Eckhardts Büro zitiert. Ihm schwante nichts Gutes. Wenig später wurde sein Verdacht bestätigt.

Anstatt eines Grußes warf der Chef ihm den Talexpress zu. Michael Eckhardt musterte seinen Mitarbeiter mit finsterer Miene. »Hatte ich nicht um eine strikte Nachrichtensperre bezüglich der Erpressung gebeten?«, fuhr er ihn an.

Stefan warf seinem Chef einen fragenden Blick zu und zuckte mit den Schultern. »An die ich mich gehalten habe«, brummte er. »Im Beitrag über den Schwebebahnunfall habe ich nur Informationen verwendet, die ich von Staatsanwalt Pesche und von Erika Meister erhalten habe. Das dürfte durch die eingesetzten O-Töne deutlich gewesen sein. Von der Erpressung ging keine Silbe über den Sender.«

»Das meine ich nicht, Herr Seiler.« Eckhardt sprang von seinem bequemen Chefsessel auf und taperte durch das Büro, ohne Stefan eines Blickes zu würdigen. »Sie haben recherchiert, ohne mich über Ihr Vorgehen in Kenntnis zu setzen.«

»Wovon reden Sie?«, versuchte Stefan auf dumm zu schalten. Immerhin war gestern eine Meldung über den toten Zwillingsbruder von Rolf Spielberg über den Äther gegangen. Insoweit hatte Stefan kein schlechtes Gewissen. Seiner Pflicht als Nachrichtenreporter war er nachgekommen.

Eckhardt umrundete seinen wuchtigen Schreibtisch und bot ihm einen Kaffee an. Stefan wertete das als Geste der Versöhnung. »Ich denke, wir müssen uns ganz in Ruhe unterhalten, brummte Eckhardt. »Lesen Sie Zeitung?«

»Wenn ich die Zeit finde, schon.«

»Dann gebe ich Ihnen jetzt zwei Minuten Zeit für die Lektüre des Talexpress.«

Stefan musterte ihn wie einen Geisteskranken.

»Lesen Sie schon«, forderte Eckhardt ihn ungeduldig auf und deutete auf die Zeitung.

Seufzend kam Stefan der Aufforderung nach und blätterte die Zeitung auf. Schon auf Seite zwei wurde er auf eine reißerische Schlagzeile aufmerksam. Radioreporter am Tatort gesehen. Ging der Mann der Wupperwelle einen Schritt zu weit?

Seiler stutzte. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, kalter Schweiß brach ihm aus. Atemlos las Stefan weiter:

Wie uns aus sicherer Quelle berichtet wurde, scheint ein Zusammenhang zwischen dem vorgestern tot aufgefundenen Bruder des ermordeten Immobilienmaklers Rolf S. und dem Privatsender Wupperwelle zu bestehen. Zunächst befand sich eine Reporterin der Wupperwelle am Fundort der Leiche von Rolf S., bevor überhaupt die Polizei dort eintraf, anschließend trafen Beamte den Reporter Stefan S. in der Villa des ermordeten Maklers an, nachdem sich dessen Zwillingsbruder selbst gerichtet hatte. Auf unsere Anfrage beim Sender war kein Mitarbeiter zu einer Stellungsnahme bereit. Natürlich bleiben wir am Ball und berichten über mögliche Verbindungen zwischen dem Privatsender und dem toten Rolf S.

-AG-

»Das ist unglaublich«, entfuhr es Stefan kopfschüttelnd. Der Teufel wusste, woher dieses Schmierblatt die Informationen hatte. Stefan hatte gestern mit niemandem über seine Recherchen gesprochen. Außer mit Heike, aber die schied als Spionin aus. Sein Blick glitt über das Namenskürzel unter dem Artikel. AG stand dort, das waren die Initialen von Axel Grimm. Mit dem kleinen Dicken verband ihn eine Hassliebe. Vermutlich konnte Grimm es einfach nicht verknausern, dass das Radio das schnellere Medium war und so stets einen Zeitvorteil gegenüber der Tageszeitung hatte.

»Wissen Sie eigentlich, was dieser Zeitungsartikel für unseren Sender bedeutet?« Eckhardts Stimme klang wie ein Paukenschlag. Stefans Kopf zuckte hoch. Dann sank er seufzend in den Stuhl vor Eckhardts Schreibtisch und betrachtete seine Schuhe.

Eckhardt winkte ab. »Unsere Seriosität ist in Frage gestellt. Einer meiner Leute, einer der beliebtesten Moderatoren der Wupperwelle, wird öffentlich angeprangert. Ich sehe schon die sinkenden Einschaltquoten.«

»Vermutlich hat die Polizei eine undichte Stelle, lässt sich vielleicht sogar von der Presse aushorchen«, überlegte Stefan halblaut.

»Das ist suspekt«, wetterte Eckhardt und winkte ab. »Wenn Sie auch noch behaupten, dass die Polizei korrupt ist und Informationen gegen Geld herausgibt, dann fürchte ich eine Anzeige wegen Verleumdung.«

»Ach«, erwiderte Stefan wütend. »Korrupte Polizisten sind also genau so undenkbar wie korrupte Beamte in der Stadtverwaltung?«

»Der Vergleich hinkt«, brummte der Chefredakteur und ging nicht näher auf Stefans Spitze ein. »Natürlich werde ich den Chefredakteur des Talexpress zur Verantwortung ziehen. Aber das hilft uns im Augenblick auch nicht weiter. Das Mindeste ist eine Gegendarstellung.«

»Nun ...«, begann Stefan, wurde aber abgewürgt.

Eckhardt beugte sich zu ihm hinüber. »Mann, Seiler. Das ist ein dicker Hund. Vielleicht sollte ich Sie beurlauben.«

»Wie im amerikanischen Krimi«, erwiderte Stefan gallig. »Wenn ein Angestellter einen Schritt zu weit geht, wird er kurzfristig vom Dienst suspendiert.«

»Ja«, nickte Eckhardt. »Sie können froh sein, dass wir unter akutem Personalmangel leiden. Aber damit muss man beim Privatradio wohl leben.« Er sprang auf. »Aber mit einem Angriff auf meine Leute kann und werde ich nicht leben. Die können sich warm anziehen.«

»Schön.« Stefan hob den Kopf. Mit festem Blick betrachtete er den Chefredakteur, der sich hektisch durch das Haar fuhr und kopfschüttelnd zurück in den Sessel sank.

»Wenn ich erfahre, dass Sie irgendwie in der Geschichte drinstecken, dann habe ich den Deutschen Presserat am Hals.«

Stefan zuckte unmerklich zusammen. Der Presserat war ein Kontrollgremium aller Medien, das die korrekte Arbeit der Journalisten überwachte und bei Verstößen mit Sanktionen einschritt. Stefan erinnerte sich voller Unbehagen, dass der Presserat damals beim Geiseldrama von Gladbeck eingeschritten war, als die Geiselnahme von Reportern eiskalt vermarktet worden war. Er ahnte, was geschehen würde, wenn der Rat den kleinen Sender auf die Schippe nahm. Möglicherweise handelte es sich um eine Intrige von Axel Grimm. Konnte der kleine Giftzwerg solche Energie aufbringen, um die lästige Konkurrenz wirkungsvoll zu bekämpfen? Stefan wusste es wirklich nicht. »Chef, ich glaube, das ist nur der Anfang.«   

»Was soll das heißen?«       

»Dass es noch schlimmer kommen wird.«

*

Später, er saß an seinem Arbeitsplatz in der Redaktion, hatte er das Gefühl, dass ihm jemand über die Schulter blickte, und er konnte sich nicht mehr auf die Arbeit am Bildschirm konzentrieren. Stefan unterbrach und fuhr auf dem Drehstuhl herum. Erleichtert stellte er fest, dass es nicht Michael Eckhardt war, der ihn heimgesucht hatte. Stattdessen blickte er in das hübsche Gesicht seiner Kollegin Karin Dahl. Sie strahlte, als wäre nichts geschehen. Von dem Disput mit Eckhardt schien sie nichts zu wissen.

»Hi«, machte sie und schenkte ihm einen Augenaufschlag. Machte sie ihn etwa an?

Brav erwiderte er den Gruß. »Selber Hai!«

»Sag mal...« Karin wich seinen fragenden Blicken aus und starrte auf ihre lackierten Fingernägel, strich sich im nächsten Moment eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, um ihn schließlich wieder anzulächeln. »Was steckt eigentlich dahinter?« Die dunkelhaarige Kollegin zwinkerte ihm zu und blickte ihm über die Schulter. Niemand der anderen Wupper-Mitarbeiter hörte ihnen zu. Bislang hatte ihn niemand direkt auf den zweifelhaften Artikel im Talexpress angesprochen.

»Was steckt wo hinter?«, fragte Stefan scheinheilig und nippte an seinem Kaffee, der zwischenzeitlich kalt geworden war.

»Nun ...« Karin druckste herum und wich seinen Blicken aus.

»Was steckt hinter dir und Heike?«

Jetzt musste er doch lachen. »Bist du etwa eifersüchtig?«

»Unsinn.« Karin winkte ab. »Ich frage aus einem anderen Grund. Du verbringst doch deine Freizeit oft mit Heike Göbel, oder etwa nicht?«

›Frauen‹, sinnierte er. ›Sie müssen wohl immer alles kompliziert machen. Warum nur?‹

Stefan kehrte achselzuckend die Handflächen nach oben. »Was willst du hören?«

»Wo ist sie?«

»Bitte?« Stefan reckte sich und blickte sich im Großraumbüro um. Von Heike keine Spur. Er hatte angenommen, dass sie unterwegs sei und recherchiere. So etwas gehörte zum täglichen Leben und hatte ihn nicht stutzig gemacht. »Ist sie denn nicht draußen?«

Karin legte jovial eine Hand auf seine Schulter. »Heute hat sie noch niemand hier gesehen«, erwiderte seine Kollegin.

»Und da ihr beide ...« Sie errötete. »Ich dachte, da ihr beide, nun ... befreundet seid, dachte ich, dass du wüsstest, wo sie steckt.«

Stefan sprang von seinem Drehstuhl auf und erhob eine Hand. »Hat jemand Heike gesehen?«, fragte er laut in den Raum und erntete lediglich Kopfschütteln. Ralf Ralle Ebert, der sommersprossige Wetterfrosch, empfahl ihm, sie in seinem Bettchen zu suchen, worauf er ihm den Mittelfinger der rechten Hand zeigte. Glucksend wandte Ralle sich ab und telefonierte weiter mit dem Wetteramt in Essen.

»Aber du musst doch wissen, wo sie steckt«, brummte Hermann, der Kulturredakteur, und paffte genüsslich an seiner Pfeife. Das Rauchverbot im Großraumbüro scherte ihn einen Dreck und selbst Eckhardt wagte es nicht, den erfahrenen Journalisten in seine Schranken zu weisen. Hermann war mit seinen einundfünfzig Jahren der älteste Mitarbeiter im Team und strahlte eine stoische Ruhe aus. Jetzt sprang er von seinem Schreibtisch auf. Er strahlte über alle Backen und malte die Rundungen einer wohlproportionierten Frau nach. »Du selber sagst doch immer, sie sei die Redakteurin mit den schönsten ... Augen...«

Alle Kollegen lachten. Stefan winkte ab und ließ sie stehen. Mit langen Schritten durchquerte er die Redaktion. Hinter der Nachrichtenredaktion befand sich eine große Tafel an der Wand, auf der sämtliche Dienstpläne aufgemalt waren. Nein, Spätschicht hatte Heike nicht. Eigentlich hätte sie hier sein müssen. Trotzdem: Keiner wusste, wo sie steckte.

»Ich habe schon zu Hause bei ihr angerufen«, riss ihn Karins Stimme aus den Gedanken. Lautlos war sie hinter Stefan getreten. »Sie meldet sich nicht.« Karin zuckte mit den schmalen Schultern. »Es scheint, als wäre sie spurlos verschwunden.«

Stefan ächzte. »Das wäre so ziemlich das Letzte, was wir jetzt gebrauchen könnten.« Verdammt, das war nun wirklich nicht sein Tag. Wenn es kam, dann knüppeldick.