Langsam wuchs seine innere Unruhe.
Nervös scharrte er mit den Stiefelspitzen im weichen Waldboden herum und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Noch fast zwei Stunden. Er wusste schon gar nicht mehr, wie lange er sich bereits in diesem Versteck aufhielt. Dennoch: In zwei Stunden sollte es endlich soweit sein. Dann würde sich herausstellen, ob sich die Mühen der letzten Tage gelohnt hatten. Dann war die Stunde der Entscheidung gekommen, und wenn alles klappte, war er noch heute um eine halbe Million reicher. Genug Geld, um seine Schulden abzuzahlen, genug Geld, um sich ein schönes Leben zu machen. Er hatte es satt, jeden Cent zweimal umzudrehen, bevor er ihn ausgab. Er war jung, wollte verreisen, vielleicht irgendwo im Süden ein neues Leben beginnen. Verdient hatte er es sich.
Jetzt reckte er seine lahmen Knochen und erhob sich. Das Zwitschern der Vögel hörte er schon gar nicht mehr - diese Idylle war nur trügerisch. Er musste auf der Hut sein. Noch zwei Stunden. Das monotone Rauschen der nahen Autobahn drang an seine Ohren. Obwohl man die Bahn durch das dichte Grün des Waldes nicht sah, so war man sich doch stets bewusst, mitten in der Zivilisation zu stehen. Daran konnte auch der Barmer Stadtwald nichts ändern. Vorsichtig drückte er die Äste zur Seite. Die Luft war rein - er befand sich alleine am Rande der Lichtung. Nun konnte er es wagen. Wachsam verließ er sein Versteck. Eilig huschte er hinüber zum hölzernen Pavillon, der Wanderern bei einem Unwetter Unterschlupf bieten sollte. Der Wetterschutz befand sich mitten auf einer Rodung. Von hier aus konnte man unten im Tal die ersten Lichter der Stadt erkennen. In der Ferne schälte sich ein Wasserturm aus dem Dunst. War es der Hatzfelder Wasserturm? Oder der Nächstebrecker?
Es war ihm egal. Scheißegal.
Wenn alles klappte, dann gehörte die Bewegung 12. April in den nächsten zwei Stunden der Vergangenheit an. Und wenn nicht...
Er wagte kaum, sich diesen Gedanken auszumalen.
Es musste klappen.
Wind kam auf. So plötzlich, dass er über das bedrohliche Rauschen in den Wipfeln der hohen Bäume erschrak. Beunruhigt blickte er sich um. Er war noch immer alleine. Wieder blickte er sich um: in die Richtung, aus der er gekommen war. Nein, von hier aus konnte man sein Versteck nicht ausmachen. Auch das Motorrad konnte man nicht sehen. Er hatte es sorgfältig mit Zweigen abgedeckt. Direkt vor dem Holzpavillon führten zwei breite Waldwege zusammen und bildeten so einen Rundwanderweg, der von der Kaiser-Wilhelm-Höhe hinüber zum Pilgerheim im Barmer Wald führte.
Ein Unwetter kam auf; unter das Rascheln des Waldes mischte sich jetzt ein entfernter Donnerschlag. Der Himmel hatte sich zugezogen. Dicke, unheilvolle Wolken zogen über das Tal und bauschten sich zu einer schwarzen Wand auf. Mit einem teuflischen Grinsen auf den Lippen betrachtete er das Naturschauspiel. In der Ferne grollte bereits der erste Donnerschlag. Es war wie eine passende Kulisse zu einem Theaterstück.
Zu seinem Theaterstück.
Ja, der Abend würde stimmungsvoll enden. Jetzt war er sich seiner Sache sicher. Alles würde gut ausgehen. Bestimmt.
*
»Das ist keine Straße, das ist ein Zustand«, schimpfte Stefan, während er den Käfer durch die enge Gasse schleuste. Er wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn ihm jetzt ein anderes Fahrzeug entgegenkam.
»Beeil dich bitte«, drängte Peter. Seine Unruhe wuchs. Nervös kaute er auf der Unterlippe, während er vornüber gebeugt auf dem Beifahrersitz kauerte. »Wir sind unmittelbar vor dem Ziel, das spüre ich.«
»Was ist denn, wenn Heike sich gar nicht hier aufhält?«, fragte Stefan gallig. »Sollte dieser Gembowsky tatsächlich hier wohnen, dann wäre er ein Idiot, seine Geisel hier aufzubewahren. So dumm kann er gar nicht sein.«
»Warte es ab. Vielleicht gehen wir mal sensibler vor als die Mannschaft von diesem Ulbricht.« Peter schürzte die Lippen »Unser Auto ist unauffälliger als die Polizeiwagen. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie die Polizei mit einer Hundertschaft hier auftaucht und das Haus von diesem Gembowsky durchsucht. Wenn er tatsächlich eine Leiche im Keller hat, dann hat er sie vermutlich nicht in diesem Keller aufbewahrt.«
»Peter - bitte.«
Als Heikes Bruder sich seiner Worte bewusst wurde, schoss ihm das Blut in den Kopf. Unsicher rang er mit den feingliedrigen Händen. »Fahr zu, ich möchte nicht zu spät kommen«, flüsterte er und starrte ins Leere.
»Sag mir lieber, woran ich erkenne, in welchem Haus dieser Gauner sein Domizil hat«, entgegnete Stefan und blickte sich um. Rechts lag ein altes, frisch renoviertes Fachwerkhaus mit grünen Fensterläden und Türen, links breitete sich eine Weide aus. Hinter einer Kurve wuchs ebenfalls ein kleiner Bauernhof vor ihnen in die Höhe. Alles wirkte so ruhig und ländlich, so malerisch und doch so trügerisch. Sie wollten nicht glauben, dass hier ein Drahtzieher der Wuppertaler Prostitution lebte.
»Ich wette, er hat das protzigste Haus in dieser Gegend«, murmelte Peter nun. Stefan schwieg. Die Straße beschrieb eine enge Rechtskurve und stieg steil an. Hinter mächtigen Bäumen und wilden Büschen erkannte er linker Hand eine halb verfallene Ruine, die schon seit Jahrzehnten unbewohnt sein musste. Die Fenster waren staubblind, sofern sie überhaupt noch vorhanden waren. Putz bröckelte von der Fassade, die komplett mit Moos überzogen war. Das Dach war eingefallen, und die verfaulten Balken erinnerten an das Skelett eines halb verwesten Tieres. Nur ein schmaler Trampelpfad führte zum Eingang.
»Hier wohnt er bestimmt nicht«, riss Peters Stimme ihn aus den Gedanken. »Der ist Besseres gewohnt.«
Stefans kantiger Schädel ruckte herum. »Spinner.«
»Da hinten«, sagte er unbeeindruckt, »das sieht schon eher danach aus, als hätte ein Neureicher hier sein Heim.« Er deutete durch die kleine Windschutzscheibe nach vorn. Schräg gegenüber der Ruine schmiegte sich eine zweistöckige Villa an den Hang. Eine breite, mit Zierkies belegte Auffahrt führte direkt auf das Eingangsportal zu. Hinter einem Zaun gab es einen großzügig angelegten Garten - vermutlich mit Swimmingpool. Das hatte tatsächlich Gembowskys Kragenweite.
»Vielleicht hast du Recht«, erwiderte Stefan nachdenklich und stoppte den Käfer, um das luxuriöse Gebäude näher betrachten zu können.
»Ist das sein Wagen?«
. Stefan blickte in die Richtung, in die Peters ausgestreckter Zeigefinger deutete. Beinahe wären seine Gesichtszüge entgleist. Neben dem Haus parkte ein Opel Astra Cabriolet. Der Wagen war dem Reporter wohlbekannt, und die Initialen auf dem Wuppertaler Kennzeichen räumten den letzten Zweifel aus. Der Besitzer des Wagens arbeitete bei Wuppertals Schmierblatt Nummer eins, und eben dieser werte Kollege hatte einen sehr unerfreulichen Bericht verfasst, der ihn, Stefan Seiler, in Verbindung zu Spielbergs Mord, respektive Selbstmord, gebracht hatte. Seine Blicke hafteten noch immer auf dem Nummernschild des Cabriolets. »W-AG«, las er die Buchstabenkombination laut vor. »AG wie Axel Grimm.«
Peter blickte ihn fragend an. »Kenn ich nicht. Wer soll das sein?«
»Ein ganz spezieller Freund. Ich habe noch etwas gut bei ihm.« Dann ließ er sich von Peter Göbel sein Handy reichen.
*
»Nein«, hörte er die Stimme der Volontärin am anderen Ende der Leitung. »Der Chef ist soeben außer Haus. Er sagte, es wäre dringend.«
Stefan seufzte. »Mein Anliegen ist auch dringend.«
»Was soll ich tun?«
»Nix, Beate, du kannst wohl nichts ausrichten.« Stefan ahnte, wohin Eckhardt unterwegs war. Heute Abend sollte die Lösegeld Übergabe stattfinden. Vermutlich war er schon zu dem seltsamen Rendezvous aufgebrochen. »Dann werde ich wohl auf mich selbst angewiesen sein«, murmelte er enttäuscht. »Schon etwas von Heike gehört?«
»Nein«, erwiderte Beate. »Tut mir Leid.«
»Schon gut.« Stefan hoffte einmal mehr, dass sie seine Freundin nicht zu einem menschlichen Schutzschild bei der Lösegeldübergabe benutzen würden. Jetzt war er hilflos. Blieb ihm nur noch, Gembowskys Haus zu beobachten. Zu observieren, wie man das im Polizeideutsch nannte. Äußerst unbefriedigend. »Ich melde mich, sobald ich etwas erfahren habe.« Bevor die Volontärin noch etwas erwidern konnte, hatte Stefan die Verbindung unterbrochen.
»Ein Satz mit X?«, fragte Peter, als er seine säuerliche Miene sah.
Stefan nickte. »War wohl nix«, reimte er und verstaute das Telefon in der Jackentasche. »Und jetzt?«
»Jetzt sind wir alleine. Wir sollten uns einen unauffälligen Platz suchen, um das Haus zu observieren. Hier sitzen wir auf dem Präsentierteller.«
»Du redest wie ein Bulle.«
»Ist das ein Fehler?«
»Vermutlich nicht. Du hast wie immer Recht, Peter.« Stefan ließ den Motor des Käfers an und fuhr los. »Wo sollen wir uns denn verstecken?«
»Da hinten war doch diese Bruchbude.«
»Die Ruine hinter den Büschen? Einverstanden.«
Stefan seufzte und parkte den Käfer, nachdem sie aus dem direktem Sichtfeld der Gembowsky-Villa verschwunden waren, unter einem weit ausladenden Baum. »Gehen wir also observieren.«
*
Bald war es soweit.
Er streifte sich den dunklen Mantel über und drückte die Zweige fort, mit denen er das Motorrad vor neugierigen Blicken geschützt hatte. Vor wenigen Minuten hatte Regen eingesetzt, und jetzt tobte das Gewitter genau über dem Wald. Das war nicht schlecht für seinen Plan. Bei Dunkelheit und schlechtem Wetter konnte man ihn mit Sicherheit nicht erkennen. Das Kennzeichen vom Motorrad hatte er bereits abgeschraubt, als er die Stellung hier oben bezogen hatte. Niemand sollte ihn erkennen.
Niemand.
Dicke Tropfen klatschten ihm ins Gesicht, als er sich den Helm überstülpte. Den Motor der Maschine startete er noch nicht. Er schob das Motorrad zum Ausgangspunkt und wollte jeden Lärm vermeiden. Er war sicher, dass das Gebiet von Bullen umstellt war. Wenn sie ihn erwischten, bevor er zuschlagen konnte, dann war alles aus. jetzt hatte er den breiten Wanderweg, der schnurgerade durch den Wald führte, erreicht. Weit hinten, in fast fünfhundert Metern Entfernung, konnte er den Schuchhardplatz erkennen. Dort leuchteten Straßenlaternen. Um Punkt elf Uhr würde er den Motor starten, den Gashahn aufreißen und die kurze Strecke durch den Wald preschen, als ginge es um Leben und Tod. Dann würde er sich den Karton mit dem Lösegeld schnappen und so schnell verschwinden, wie er aufgetaucht war. Der Spuk dürfte nicht länger als eine Minute dauern. Wenn er verschwand, dann natürlich in die entgegengesetzte Richtung, aus der er gekommen war. Niemand würde ihn verfolgen können. Wochenlang hatte er sich hier oben umgesehen, jeden einzelnen Waldweg begangen, daheim über dem Stadtplan gebrütet und sich den besten Fluchtweg ausgesucht. Keiner würde seine Spur verfolgen können, und morgen würde er ein reicher Mann sein.
Es gab kein Zurück mehr. Er brachte die Maschine in Position. Ein letzter Blick auf die Armbanduhr. Noch eine Minute. Zitterte er vor Aufregung?
Unsinn.
Er war der König der Stadt.
*
»Bist du sicher, dass die Hütte nicht über uns einbricht, sobald wir einen Fuß über die Schwelle gesetzt haben?« Peter musterte den Radiomann.
Stefan blieb stehen und blickte an der morschen Fassade empor. Vermutlich wimmelte es in diesem Bau von Ratten. »Es war deine Idee«, erinnerte er ihn. »Aber immerhin hattest du Recht: Man kann durch die tief hängenden Zweige den Bunker dieses Verbrechers erkennen. Bleibt nur zu hoffen, dass es tatsächlich so ist, wie wir hoffen, und Gembowsky wirklich der Bewohner der Villa ist und Heikes Entführung inszeniert hat.«
Heikes Bruder starrte ihn verunsichert an. »Und wenn nicht?«
Stefan zuckte mit den Schultern. »Dann haben wir unsere wertvolle Zeit eben vergeudet. Aber wie Eckhardt sagte, hat die Kripo die Spur von Klaus Gembowsky tatsächlich bis hierhin verfolgt. Also haben wir wohl nicht auf das falsche Pferd gesetzt.«
»Du hast eine komische Art, mir Mut zu machen«, stellte Peter fest.
»Es sieht doch gar nicht so schlecht aus.« Stefan widmete sich der massiven Eisentür, mit der man den Eingang der Ruine verrammelt hatte. Sie wirkte neuwertig und war mit einem Riegel verschlossen. »Seltsam«, murmelte er, während er sich an der Tür zu schaffen machte.
»Was ist seltsam?«, flüsterte Peter und blickte immer wieder über die Schulter. Am Haus herrschte Ruhe.
»Wenn die Hütte hier seit Jahren leer steht, dann frage ich mich, wer ein berechtigtes Interesse daran haben könnte, den Bau mit einer feuerfesten Tür zu sichern.«
»Vielleicht möchte man nicht, dass sich Penner hier einnisten.«
Stefan schüttelte den Kopf. »Dann hätte man den Riegel nicht von außen angebracht.« Jetzt schob er den schweren Stahlriegel zurück und drückte die Klinke herunter. »Das ist doch Hirni, wenn du verstehst. Außerdem hat man sich nicht einmal die Mühe gemacht, abzuschließen.«
»Das ist ja blöd«, maulte Peter und blickte Stefan über die Schulter. »Hirni, du sagst es.«
Im nächsten Augenblick schwang die Tür auf. Ein schwarzes Loch gähnte den Männern entgegen. »Hast du ein Feuerzeug dabei?«
Stefan schüttelte den Kopf.
»Im Wagen liegt eine Taschenlampe. Da liegt sie gut.«
»Wird schon so klappen«, erwiderte Stefan und tat einen Schritt über die Schwelle. Sand und Gesteinsbrocken knirschten unter seinen Sohlen. Es roch muffig, irgendwie nach Verwesung. Wie er erfreut feststellte, huschte kein Ungeziefer um seine Füße. Nach wenigen Sekunden hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie befanden sich in einem großen Raum, der von der Aufteilung her an eine Halle in alten englischen Herrenhäusern erinnerte. Eine steile Treppe führte in das obere Stockwerk.
»Willst du da hoch?«, fragte Peter und blickte sich naserümpfend um. »Womöglich brechen die morschen Holzstufen unter unserer Last.«
Stefan zuckte mit den Schultern. »Dieser Müll hier überall; die alten Möbel. Als hätte jemand das Haus fluchtartig verlassen, um nie mehr zurückzukehren.«
»Ja«, stimmte Peter ihm zu. »Das ist wie in einem Gruselfilm. Man ist vor Jahrzehnten vor einem Geist geflüchtet, der hier sein Unwesen treibt.«
Jetzt musste Stefan leise lachen. »In dieser Bruchbude? Peter, ich bitte dich: Auch Gespenster haben ihre Ehre. Das hier ist unter aller Sau.«
»Denkst du ...« Peter wurde jäh unterbrochen. Ein Geräusch hatte ihn verstummen lassen. Im oberen Stockwerk hatte etwas gepoltert. Sie hielten den Atem an und lauschten.
»Was war das?«, flüsterte Peter.
»Der Geist«, erwiderte Stefan und marschierte die Stufen hoch.
*
Er hatte sich selten so mies gefühlt.
Michael Eckhardt war lange genug Journalist. Er hatte genug erlebt, oft genug über Schutzgelderpresser berichtet, um zu wissen, dass sich nicht selten Psychopathen unter ihnen befanden. Jetzt steckte er selber in einem solchen Fall. ›Augen zu und durch‹, hatte er sich selbst Mut gemacht. Am späten Nachmittag hatte ihm Ulbricht den präparierten Karton in die Redaktion gebracht, der nach Wünschen der Bewegung 12. April die halbe Million beinhalten sollte. Natürlich befanden sich nur alte Zeitungen in der Pappschachtel, doch als Köder genügte das auch. Die Techniker des Polizeipräsidiums hatten den Karton mit einem winzigen Peilsender versehen. Sollte es den Polizisten nicht gelingen, den Boten direkt am Ubergabeort zu stellen, dann würde es ein Leichtes sein, ihn anhand des Senders ausfindig zu machen. Heute endlich hatte die letzte Stunde der unseligen Bewegung 12. April geschlagen.
Ein Gefühl der Genugtuung stieg in Eckhardt auf, als er den Wagen am Schuchardplatz parkte und die Lichter abschaltete. Sekundenlang hockte er vornüber gebeugt hinter dem Lenkrad seines Autos und starrte hinaus in die Nacht. Die Straßenlaternen tauchten den verlassenen Platz in ein bizarres, unwirkliches Licht. Vor wenigen Minuten hatte es zu regnen begonnen. Zunächst ein aus der Ferne kommendes Donnergrollen, und wenig später hatte ein wahrer Platzregen eingesetzt, der sich jetzt den Weg in den trockenen Waldboden der Konradswüste suchte. Eckhardt schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und stieß mit einem energischen Ruck die Wagentür auf. Er griff nach dem Karton, den er auf dem Beifahrersitz deponiert hatte und stemmte sich ins Freie. Die Luft roch würzig, nach Regen und Wald. Endlich war die Hitze der vergangenen Tage vorüber. Eckhardt mochte diese Sommergewitter, konnte stundenlang voller Faszination auf die Blitze schauen, die vom Himmel zuckten. Nur heute hatte er andere Sorgen.
Möglichst unauffällig blickte er hinüber zu dem Kastenwagen, der etwas abseits stand. Wie Eckhardt wusste, war der Lieferwagen nicht so verlassen, wie er nach außen hin wirkte. Im Laderaum des Mercedes versahen Polizisten ihren Dienst, überwachten die Zufahrtsstraßen zur Konradswüste an Monitoren und standen in permanentem Funkkontakt zu ihren Kollegen. Der Erpresser konnte nicht entkommen. Sämtliche Zufahrtsstraßen waren abgeriegelt. Wer erst mal hier oben im Wald war, kam unbehelligt nicht wieder ins Tal.
Eckhardt atmete ein letztes Mal tief durch und blickte auf die Armbanduhr, bevor er die Wagentür zuschlug. Das satte Plopp durchschnitt das monotone Prasseln des Regens wie ein Schuss die Stille der Nacht.
»Eine Minute vor elf«, sagte er zu sich selbst und überquerte die Straße, als hinter ihm ein Motor aufheulte. Die Typen waren früh. Er blickte sich um und erkannte unter den tief hängenden Ästen des Waldes einen Scheinwerfer, der förmlich auf ihn zuflog. Das Knattern des Motors übertönte sogar das Grummeln des Donners.
Ein Scheinwerfer? Eckhardt stutzte.
Ein einziger Scheinwerfer? Dann handelte es sich nicht um ein Auto, sondern um ein - Motorrad.
Man hatte das Versteck im Wald aufgeschlagen, um den Zeitpunkt abzuwarten. Eckhardt fragte sich, warum Ulbrichts Leute den verdammten Wald nicht durchkämmt hatten. Vermutlich hatte man wie selbstverständlich damit gerechnet, dass der Bote der Bewegung 12. April mit einem Auto kam, um sich schnell aus dem Staub zu machen. Elende Bürokraten!
Mit langen Sätzen brachte er sich aus der Gefahrenzone und hechtete zu den Altpapiercontainern hinüber, um den Karton dort abzulegen. Bevor er in die Knie ging, blickte er sich um. Das Fahrzeug näherte sich mit einem wahnwitzigen Tempo, schlingerte und schoss genau auf ihn zu. Hatte der Bote etwa im Wald auf ihn gewartet? Gut möglich, denn Eckhardt kannte die Konradswüste von früheren Spaziergängen und wusste, dass eben dieser Weg schnurgerade zur Kaiser-Wilhelm-Höhe führte. Ein optimales Versteck. Von dort aus konnte er fast einen halben Kilometer weit bis zum Schuchardplatz blicken, hatte aus der Dunkelheit alles im Blick, ohne aber selber gesehen zu werden. Das Motorrad benötigte nur wenige Sekunden, bis es den großen Platz erreicht hatte. Schwer hing das Knattern der Geländemaschine über der Konradswüste und malträtierte Eckhardts Trommelfelle. Bevor Eckhardt den Papiercontainer erreicht hatte, spürte er schon den Luftzug. Der Motorradfahrer war hinter ihm, riss den Gashahn auf und streckte die Hand nach dem Karton aus. Der Chefredakteur ließ sich den Karton widerstandslos entreißen und sah zu, wie der Erpresser die Beute im Gepäckkoffer verschwinden ließ. Er versuchte, etwas vom Gesicht des Bikers zu erkennen, sah aber nur Schemen unter dem verdunkelten Visier. Ein schwarzer, wallender Mantel verhinderte, dass Eckhardt die Statur seines Gegenübers einschätzen konnte. Dennoch schätzte er, dass es sich um einen groß gewachsenen Mann mit breiten Schultern handelte. Oder war es die schwarze Lederkombi, die der Mann unter dem Mantel trug? Eckhardt wusste es nicht, und ehe er sich versah, war der Spuk vorüber.
»Klappt doch, Radiomann«, rief der Motorradfahrer unter seinem Visier hervor und lachte hämisch. Dann schlug er den Deckel des Gepäckkoffers zu und riss erneut den Gashahn auf. Nur auf dem Hinterrad zog er die schwere Maschine auf die Straße Konradshöhe zu. Michael Eckhardt rückte sich die Brille zurecht und blickte der Geländemaschine nach. Das rotglühende Rücklicht war das Letzte, was er von dem Zweirad sah, bevor eine unheimliche, beklemmende Stille einkehrte. Erst das Geräusch einer Schiebetür riss ihn aus den Gedanken. Wo waren die Polizisten geblieben? Eckhardt drehte sich langsam auf dem Absatz herum und blickte in das Gesicht eines Polizisten, der aus dem Lieferwagen geklettert war.
»Alles in Ordnung?« Der lächelte aufmunternd.
Eckhardt nickte. »Ja, danke. Und ihr?«
»Wir?«
»Ja - wo waren Ihre Leute, als es losging?«
»Keine Sorge - wir sind dran. Sämtliche Querstraßen sind gesperrt, er hat quasi keine Chance, zu entkommen.«
*
Er sah das anders.
Mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen zog er die Maschine über die kleine Straße namens Konradshöhe, immer gen Süden, eine Anhöhe hinauf. Plötzlich schoss aus einer Stichstraße ein Personenwagen auf ihn zu.
»Scheiße«, quetschte er zwischen den Lippen hervor und verlor fast die Kontrolle über das Motorrad. Er riss den Lenker herum, schlingerte, verlagerte sein Gewicht und zog das Gerät wieder hoch. Im Augenwinkel erkannte er einen dunklen Omega, der genau auf ihn zugehalten hatte. Es bestand bei diesem Manöver kein Zweifel, dass es sich um ein ziviles Fahrzeug der Polizei handelte. Natürlich hatten sie sämtliche Straßen dicht gemacht, um ihn in die Falle zu locken. Pech gehabt!
Er war besser, er war schneller - er war der König der Stadt.
Auch ein zweites Fahrzeug, das aus dem Wüsterfeld auf ihn zugeschossen kam, umfuhr er geschickt. Niemand konnte ihn aufhalten.
Er hatte seine Beute ...