5. Kapitel

Das ist doch zum Mäusemelken!«          

Heike hatte die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Wie eine Furie durchquerte sie die Redaktion und scherte sich einen Teufel um die zweifelnden Blicke der Kollegen. Wütend ließ sie sich an ihrem Schreibtisch nieder und schaltete den Computer ein.

Stefan war ihr schweigend gefolgt und hockte sich jetzt auf die Schreibtischkante. Er bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Es war nicht leicht für einen Journalisten, eine wirklich heiße Story einfach so unter den Tisch fallen zu lassen - nur weil die Polizei eine Nachrichtensperre verhängt hatte.

»Das Problem ist die Zeit nach der Klärung des Falles«, überlegte Stefan laut und nagte auf der Unterlippe. Heike blickte verwirrt zu ihm auf und zog die Stirn in Falten.

»Nun, du glaubst doch nicht, dass wir die Einzigen sein werden, die zu der Pressekonferenz erscheinen, die es geben wird, wenn man den Erpresser verhaftet hat, oder?« Stefan machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Es ist unsere Story«, wetterte Heike mit zornesrotem Kopf.

»Eben«, stimmte er zu. »Sobald etwas von der Geschichte nach draußen sickert, werden sich die Pressefritzen wie die Aasgeier darauf stürzen, nur, um uns eins auszuwischen.«

»Oh Scheiße.« Heikes Augen wurden groß, als sie zu ihrem Freund und Kollegen aufblickte.

Stefan musterte sie mit fragender Miene. »Ist was?«

»Ja - die Pressekonferenz.«

»Die Erpresser sind noch lange nicht gefasst«, beruhigte er sie und klopfte ihr auf die Schulter.

»Sagtest du Erpresser?«

Sie fuhren herum.

Manfred Jordan, der schlaksige Nachrichtenredakteur mit den verwaschenen Jeans war unbemerkt an Heikes Schreibtisch getreten. Er grinste die beiden breit über den Rand seiner Nickelbrille an und zupfte sich den Vollbart.

»Sagte ich Erpressung?« Stefan tauschte einen raschen Blick mit Heike, die theatralisch die Schultern zuckte.

»Er muss sich verhört haben«, stellte sie fest. »Pressekonferenz. PRESSE- Konferenz«, buchstabierte sie und kicherte. »Wer weiß, was du schon wieder verstanden hast.«

»Als Nachrichtenonkel dieses wunderschönen, sonnigen Morgens bin ich natürlich für heiße Stories dankbar«, versuchte Manfred es noch mal.

»Du bist ein lieber Kerl«, murmelte Heike. »Und trotzdem solltest du dir die Ohren waschen.«

»Schade.« Jordan wandte sich zum Gehen. Er schmollte, dann deutete er auf Heikes Monitor. »Gibt es Neuigkeiten im Fall des Toten?«

Die blonde Redakteurin schüttelte den Kopf. »Leider nein.« 

»Dann muss es vorerst genügen, wenn du den Beitrag neu formulierst und einige rhetorische Änderungen einbaust. Es ist nicht gut, wenn die Leute jede Stunde denselben Beitrag in den Nachrichten hören.«

»Aber die PK«, wehrte sie sich. »Ich muss weg.«

»Das kann ich doch erledigen«, schlug Stefan vor.

Jordan blickte ihn überrascht an. »Du?«

Warum nicht?« Stefan grinste. »Bin ich so hässlich, dass ich die Redaktion nur nach Einbruch der Dunkelheit verlassen darf?«

Der Nachrichtenredakteur winkte ab. »Anstatt hier rumzuhängen, solltest du längst in deinem Kugelporsche sitzen und zum Präsidium knattern. Falls die Karre anspringt. Wenn alles klappt, fahren wir eine Live-Reportage per Handy direkt von der Konferenz.«

»Manchmal überschlägst du dich, was deinen Arbeitseifer angeht«, murmelte Stefan und glitt von Heikes Schreibtischkante.

»Aber ich kann doch ...«, sagte sie.

»Schon gut, bleib hier und konzentriere dich auf das Wesentliche, während ich mir das Gesülze im Präsidium reinziehen werde.« Dann wandte Stefan sich an Manfred Jordan, der Anstalten machte, an seinen Arbeitsplatz zu verschwinden. »Und du komischer Vogel, nenn meinen Käfer nie wieder alte Karre. Damals baute man noch richtige Autos, auf die man sich auch heute noch verlassen kann.« Er winkte ab. »Wenn ich an den neumodischen Elektrokram in den Autos heutzutage denke, wird mir übel. Anfälligere Kisten gibt's doch gar nicht.«

Jordan zog einen Flunsch und trollte sich.

»So«, sagte Stefan dann zu Heike gewandt. Sie hatte sich ein wenig beruhigt. »Ich werde mal sehen, ob ich ein Fass aufmachen kann.«

Sie nickte. »Du bist ein Schatz.«

»Ich weiß.«

*

Als er Minuten später, bewaffnet mit Notizblock, Diktiergerät und Handy, in seinem Clemens saß und über die Bundesallee tuckerte, bemerkte er ein eigenartiges Geräusch aus dem Heck des Käfers. Zähneknirschend dachte Stefan an das Gespräch mit Manfred Jordan. Der hatte seinen Käfer beleidigt! Stefan Seiler identifizierte das Geräusch aus dem Motorraum als klapperndes Ventil. Bei nächster Gelegenheit musste er sich mit dem Wagen befassen. Es wurde höchste Zeit; der Käfer brauchte wohl etwas Liebe - in Form von frischem Öl, Zündkerzen und einer Schieblehre, mit der man die Ventile justieren konnte. Mit Ach und Krach schaffte er es bis zum Präsidium.

Natürlich war er nicht der Erste, der sich zur Pressekonferenz eingefunden hatte. Stefan erkannte zahlreiche Vertreter der schreibenden Zunft, traf auch einen Kollegen der Westdeutschen Zeitung. Von Grimm keine Spur. Vermutlich hatte ihn sein Chefredakteur in den Innendienst strafversetzt. Sogar ein Kamerateam der WDR-Lokalzeit war angereist, um über den Toten in der Schwebebahn zu berichten. Eine solche Sensation ließ sich keiner entgehen, und unwillkürlich dachte Stefan an den Vergleich zwischen Journalisten und Aasgeiern. Doch das gehörte zum Geschäft. Nur schlechte Nachrichten waren gute Nachrichten. Dass es sich um vom Polizeisprecher möglichst mediengerecht aufbereitete Informationen handelte, schien keinen der Kollegen sonderlich zu stören. Stefan wusste mehr, immerhin war die Wupperwelle das erste Medium gewesen, das sozusagen live vom Tatort über den toten Spielberg berichtet hatte. Heikes in der Nacht gesprochener Beitrag war bereits am frühen Morgen über den Äther gekommen und hatte eine Welle der Erschütterung ausgelöst - war die Schwebebahn doch so etwas wie ein Heiligtum für alle Wuppertaler. Eine ähnliche Stimmung hatte Stefan am 12. April 1999 erlebt, als das Wahrzeichen in die Wupper gestürzt war.

Was Stefan nicht verwunderte, war die Tatsache, dass keiner um Rolf Spielberg zu trauern schien. Sehr beliebt war er offenbar nicht gewesen.

Im Presseraum des Präsidiums an der Friedrich-Engels-Allee hatten sich alle Beamten versammelt, die mehr oder weniger direkt mit dem Fall zu tun hatten. Stefan erkannte neben Jürgen Küppers, dem muskulösen Polizeisprecher, auch Kommissar Verdammt, der neben dem durchtrainierten Küppers wie eine verarmte Witzfigur wirkte. Der Leiter der Wuppertaler Mordkommission wirkte nervös und übernächtigt. Vermutlich hatte Ulbricht die Nacht im Büro verbracht. Etwas im Hintergrund hielt sich Erika Meister, die Pressesprecherin der Stadtwerke. Stefan war gespannt, ob sie den Erpressungsversuch auch nur andeutungsweise erwähnen würde.

Keine zehn Minuten später nahmen die Vertreter der Polizei hinter dem erhöhten Pult mit den Mikrofonen Platz. Es folgte eine fast fünfminütige Begrüßungsansprache, bei der Stefan die Ohren auf Durchzug schaltete. Dann kam man endlich auf den toten Immobilienmakler zu sprechen. Nun spitzte er die Ohren, ohne aber etwas Neues zu erfahren. Sogar Norbert Ulbricht hatte sich zwischenzeitlich an die leise surrenden Fernsehkameras gewöhnt. Man berichtete im Grunde das, was Stefan in der Nacht schon von Heike erfahren hatte, ohne zu genau ins Detail zu gehen. Hans Zoch, der Fahrer der betroffenen Schwebebahn, war, wie man bekannt gab, beurlaubt. Der durchaus zuverlässige und diensterfahrene Schwebebahnfahrer stehe nach wie vor unter Schock und habe sich in ärztliche Behandlung begeben müssen. Sülz, sülz.

»Anzumerken ist, dass die Sicherheit der Wuppertaler Schwebebahn nie gelitten hat und auch künftig nicht unter kriminellen Machenschaften leiden wird«, bemerkte Erika Meister und verteidigte einmal mehr den guten Ruf des Wuppertaler Wahrzeichens.

Stefan blickte sich rasch unter den Kollegen um. Niemand reagierte auf die Worte der Pressereferentin. Diese war Mitte fünfzig, trug das gefärbte Haar streng zurückgekämmt und hatte sich für die Konferenz in ein etwas zu konservatives Kostüm gewickelt, um den seriösen Eindruck ihrer Person zu unterstreichen. Die Perlenkette in ihrem Dekollete stammte sicherlich aus den sechziger Jahren.

»Glauben Sie denn an einen Zusammenhang zwischen dem toten Rolf Spielberg und der Schwebebahn?«, fragte Stefan laut an sie gewandt. Sekundenlang herrschte Stille im Saal des Polizeipräsidiums. Das Diktiergerät lief mit. Alle Blicke waren auf den Wupperwelle-Reporter gerichtet. Man hörte nur das Summen der Kameras und das Kratzen von Stiften auf Papier.

Erika Meister blickte ihn unverwandt an, schien mit sich zu ringen, dann hatte sie ihre Fassung zurückerlangt. »Nein«, erwiderte sie schließlich und spielte nervös mit ihrer Perlenkette.

Stefan wusste von dem Erpresserschreiben - genau wie sie. Sie maßen sich mit Blicken.

»Natürlich nicht«, mischte sich jetzt Jürgen Küppers, der Polizeisprecher, ein. »Warum auch?« Er lachte herzerfrischend und versuchte, die angespannte Stimmung im Saal zu lockern. »Das Opfer ist tot und niemand hätte einen Grund, Spielberg ein zweites Mal zu ermorden.«

Alles lachte. Stefan nickte stumm. So viel also zur Nachrichtensperre. Er hoffte, nicht schon einen Schritt zu weit gegangen zu sein. Hoffentlich würde Küppers sich nicht bei seinem alten Freund Eckhardt über den vorlauten Radioreporter Seiler beschweren, denn dann hatte er verloren ...

»Ist es denn sicher, dass es überhaupt ein Mord war?«, mischte sich jetzt ein älterer Kollege ein, der als freier Journalist in der Stadt für sämtliche Zeitschriften arbeitete. Sein graues Haar war wellig und hing ihm strähnig in die hohe Stirn. Stefan kannte den Mann nur als Maier. Der Mief seiner Pfeife verpestete die Luft im Raum.

»Das genaue Resultat liegt zwar noch nicht vor, aber das anfänglich als Todesursache diagnostizierte Herzversagen gilt inzwischen als äußerst unwahrscheinlich.« Küppers blickte in die Runde.

»Wie kommt man denn dann auf einen Mord?«, rief ein anderer Reporter in den Raum.

»Der Hergang ist durch Dienstvorschriften geregelt«, erklärte Jürgen Küppers geduldig. Er stieß Kommissar Ulbricht an.          

Dieser sah den Zeitpunkt für gekommen, auch etwas zu sagen. Umständlich rückte er sich die Mikrofone zurecht und räusperte sich: »Nach dem Fund des Verstorbenen alarmierte der Fahrdienstleiter der Schwebebahn die Kriminalpolizei. Ein völlig normaler Vorgang. Der ebenfalls herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod von Herrn S. feststellen. Der Arzt bescheinigte durch ein kleines Kreuz in der Sterbeurkunde, dass die Todesursache ungeklärt ist.« Ulbricht ließ seinen Blick über die Gruppe der versammelten Pressevertreter schweifen, bevor er fortfuhr. »Sobald dergleichen geschieht, schaltet sich automatisch die Staatsanwaltschaft ein. Der Staatsanwalt kann eine Obduktion anordnen, um die genaue Todesursache zu ermitteln. Und diese Anordnung ist noch in derselben Nacht erfolgt.« Der Kommissar atmete tief durch und lehnte sich zurück.

Küppers hielt die Zeit für gekommen, wieder das Wort zu ergreifen. »Die Leiche des Verstorbenen befindet sich inzwischen in der Gerichtsmedizin Düsseldorf. Dort haben sich Gerichtsmediziner mit der Sektion des Toten befasst.«

Liegt schon ein erstes Ergebnis vor?«, rief jemand.

»Nein«, erwiderte Küppers. »Sobald wir darüber verfügen, werden wir Sie über den Tod des Herrn Spielberg genauer informieren.« Der breitschultrige Pressesprecher gab seinen Kollegen ein unauffälliges Zeichen. Man erhob sich fast zeitgleich. »Zunächst danken wir Ihnen für das Interesse.«

Stefan seufzte. Das war's also. Eine halbe Stunde oberflächliches Geplänkel, ohne Herausgabe von Einzelheiten, die den Fall interessant machten. Die wertvolle Zeit hätte er sich sparen können. Enttäuscht stapfte er auf den Ausgang zu.

Sein Käfer parkte in der nahe gelegenen Druckerstraße. Die Sonne wärmte Stefans Haut, als er vor das mächtige Portal des Präsidiums trat. Er nickte dem Pförtner hinter seiner Panzerglasscheibe zu und ging die breiten Stufen hinab. Etwas unschlüssig blieb er auf der Straße stehen, als zwei uniformierte Polizisten an ihm vorbeieilten. Die Dienstmützen hatten sie unter den Arm geklemmt. Beinahe hätten sie Stefan über den Haufen gerannt. Scheinbar handelte es sich um einen dringenden Einsatz. Kopfschüttelnd hielt er inne und beobachtete, wie sie den Streifenwagen bestiegen, der vor dem altehrwürdigen Polizeigebäude bereitstand. Während der Streifenführer den Motor des Vectra startete, ergriff sein Kollege auf dem Beifahrersitz das Mikrofon des Funkgerätes: »Starten jetzt zur Schwebebahnstation Loher Brücke. Schickt uns schon mal Notarzt und Feuerwehr vor.«

Der Beamte hatte laut und deutlich in das Mikro gesprochen; Stefan, der nur wenige Meter abseits stand, konnte die Worte mühelos verstehen. Er blickte wie gebannt dem Streifenwagen nach, der sich mit Blaulicht freie Bahn auf der Friedrich-Engels-Allee verschaffte. Dann war der Polizeiwagen mit quietschenden Reifen in Richtung Loh verschwunden.

»Loher Brücke«, murmelte Stefan fassungslos. »Feuerwehr und Notarzt. Das sieht nach einem dicken Hund aus.« Prompt dachte er an das Erpresserschreiben, das am Morgen in der Redaktion eingegangen war. Hatte die Erpresserbande etwa schon zugeschlagen? Stefan rannte zu seinem Käfer, der in der ruhigen Seitenstraße geduldig auf ihn wartete. Es galt, keine Zeit zu verlieren, und es wäre eine Schande, wenn die Wupperwelle nicht aus erster Hand berichten würde.