Das Verhör hatte fast zwei volle Stunden in Anspruch genommen.
Zunächst hatte man ihn mit nervenden Fragen gelöchert, was er denn im Haus des toten Spielberg gesucht habe, wie er in die Villa gelangt und warum er nicht einfach wieder gefahren sei, als er zunächst niemanden angetroffen habe. Einmal hatte man ihm sogar das Wort Einbruch an den Kopf geworfen. Das hatte er dementieren können, auch wenn der Tatbestand nicht ganz von der Hand zu weisen war. Von einem Mordversuch war nie die Rede gewesen, insofern hatte es sich für ihn um eine völlig natürliche Reportage gehandelt, für die er recherchiert hatte. Bis auf den Toten, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als sich vor seinen Augen selbst zu richten. Der eifrige Kommissar Norbert Ulbricht hatte Stefan laufen lassen müssen, da seine Spurensicherungsleute rasch festgestellt hatten, dass sich auf der von Spielberg benutzten Waffe ausschließlich dessen eigene Fingerabdrücke befanden.
Es war wirklich zum Haare raufen: Er hatte eine heiße Story, konnte möglicherweise sogar Verbindungen zur Schwebebahnerpressung ziehen und durfte im Radio nicht darüber berichten, weil man eine Nachrichtensperre verhängt hatte.
Den Mittag hatte er im Wuppertaler Polizeipräsidium verbracht, sich die Anschuldigungen von Kommissar Norbert Ulbricht angehört und dessen mehr oder minder dumme Fragen beantwortet. Jetzt endlich befand er sich auf dem Weg in die Redaktion. »Na, die werden Augen machen«, grummelte Stefan vor sich hin, als er das Gebäude der Wupperwelle erreichte.
»Das war die erste Stunde der Halbzeit, gleich geht's mit meinem Kollegen Roland Kracht und den Nachrichten weiter. Danach hören wir uns wieder.« Heike zog den Regler des CD-Players auf. »Und hier kommen die Spice Girls.« Mit einem Seufzen auf den Lippen schaltete sie das Mikro aus und nahm die Kopfhörer von den Ohren. Als sie aufblickte, wurde die Studiotür aufgestoßen.
Michael Eckhardt schien nur darauf gewartet zu haben, dass das rote On Air-Signal über der Tür verlosch. Der Chef nickte ihr knapp zu. »Immer noch nichts von Seiler.« Eckhardt lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das kleine Studio. »So kann ich nicht arbeiten«, murmelte er kopfschüttelnd. »Es muss doch möglich sein, einen erstellten Dienstplan einzuhalten. Jeder macht hier, was er will. Er stemmte wütend die Hände in die Hüften.
»Herr Eckhardt«, unterbrach Heike ihn. »Seiler moderiert die Nachtschicht. Er geht erst um Mitternacht auf Sendung. Demnach muss er drei Stunden vor Sendebeginn in der Redaktion erscheinen.« Demonstrativ blickte sie auf die Armbanduhr. »Es ist zwei Uhr.«
»Ich weiß, ich weiß«, nickte der Chef und machte einen zerknirschten Gesichtsausdruck. »Trotzdem: Ich mache mir Sorgen.«
Nun erst wurde er Heike richtig sympathisch. »Ich auch«, erwiderte sie leise, als Kracht, der untersetzte Nachrichtensprecher, das Studio betrat. Der nickte ihnen still zu und ließ sich hinter den Reglern nieder.
Heike und Eckhardt verließen das Studio. Bei einem kleinen Sender wie der Wupperwelle war es üblich, dass die Moderatoren die Technik selbst bedienten. Den Tontechniker am Mischpult gab es nur beim großen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das bedeutete für die Mitarbeiter des Privatsenders zwar mehr Arbeit, stellte aber auch eine größere Herausforderung an die einzelnen Redakteure dar. Sie konnten später behaupten, ihre Sendung tatsächlich eigenhändig gestaltet zu haben.
Eckhardt zog Heike in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. »Es ist mir egal, was Herr Seiler in seiner Freizeit treibt«, sagte er, nachdem er sich in den Chefsessel gesetzt hatte. Spielerisch legte er die Fingerspitzen beider Hände aneinander und betrachtete die junge Redakteurin. »In den letzten beiden Tagen ist zu viel geschehen. Die Erpressung in Verbindung mit Spielbergs Tod ist ein Hammer, wie er in der Geschichte unserer Stadt einzigartig ist.«
»Dann sollten wir darüber berichten«, schlug Heike vor. Eckhardt beugte sich weit über den Schreibtisch und schüttelte energisch den Kopf. »Natürlich ist es eine große Verlockung, einfach die Katze aus dem Sack zu lassen und die komplette Wuppertaler Medienwelt mit dieser Exklusivgeschichte zu überraschen. Aber ich muss mich an die Auflagen der Kripo halten. Keine Nachricht über die Erpressung, solange die Täter nicht eingekreist sind.«
»Und?«, meinte Heike und wandte sich zum Gehen. Die Nachrichtenpause war fast um. »Was hat das alles mit Seiler zu tun?«
»Immerhin wollte er zum Haus von diesem Spielberg«, erinnerte Eckhardt sie. »Da ist es doch nicht auszuschließen, dass er von dieser Bewegung 12. April abgefangen wurde und...«
Die Tür wurde energisch auf gestoßen, Heike fuhr erschrocken herum. Ein hoch gewachsener Mann steckte den Kopf ins Büro und grinste breit: »Hallo!«
Die Redaktion hatte er um zwei Minuten nach zwei Uhr betreten. Frau Stritzel, die Empfangsdame an der Rezeption, hatte ihm gesteckt, dass Eckhardt ihn händeringend überall suche. Sie hatte ihm empfohlen, mal zum Chef reinzuschauen, wie sie das zu nennen pflegte. Brav kam er der Empfehlung nach. Stefan hatte ein ernstes Wort mit Eckhardt zu reden. Immerhin wusste er jetzt, dass Rolf Spielberg tatsächlich ermordet worden war und dass die Bewegung 12. April lediglich die Gunst der Stunde zu nutzen versuchte.
»Seiler!« Eckhardt sprang von seinem Ledersessel auf und musterte Stefan wie einen Außerirdischen.
»Stefan!«, rief Heike gleichzeitig sichtlich erleichtert.
»Welch Empfang«, schwärmte dieser grinsend. »Darf ich erfahren, warum ich so heiß begehrt bin?«
»Und ob«, nickte Michael Eckhardt und erklärte ihm, dass er sich ernsthaft Sorgen gemacht habe.
»Nicht ganz unbegründet«, murmelte Stefan ausweichend und überlegte, ob er von seiner Exkursion ins Präsidium berichten sollte. Dann dachte er an Heike, die zurück ins Studio musste und entschied sich dagegen. Sie würden später über den Vorfall reden. Die Zeit rannte, die Täter wollten Ernst machen und setzten den Reportern die Pistole auf die Brust. Leider wussten diese nicht einmal, wo sie mit ihren Recherchen ansetzen sollten.
»Nur so viel«, sagte Stefan. »Spielberg ist tot.«
»Was Sie nicht sagen.« Eckhardt tippte sich bezeichnend gegen die Schläfe. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. Der Chef wechselte einen raschen Blick mit Heike, fast so, als bezweifle er Seilers geistigen Zustand. Dann schüttelte er den Kopf. »Zum Scherzen bin ich wirklich nicht aufgelegt.«
»Gut, dann verrate ich eben nicht, dass Rolf Spielberg einen Zwillingsbruder hatte, der sich vor meinen Augen selber umgebracht hat, und dass der es war, der den Immobilienmakler in der Schwebebahn niederstreckte.« Stefan drehte die Handflächen nach oben und zuckte mit den Schultern. »Dann eben nicht.« Ohne die Antwort des Chefs abzuwarten, verließ er das Büro. »Bin außer Haus«, erklärte er lapidar. Immerhin war erst in sieben Stunden Dienstanfang für ihn.
»Stefan!«
Er fuhr auf dem Gang herum. Heike kam angerannt, obwohl Kracht im Hintergrund bereits die Verkehrshinweise verlas.
»Du musst ins Studio«, sagte er ernst.
»Gleich«, nickte sie. »Erst will ich wissen, was los war.« Sie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und funkelte ihn mit ihren blauen Augen an.
»Frau Göbel, Sie sind dran«, rief Beate, die junge Volontärin aus dem Hintergrund. Heike ignorierte den Ruf.
»Heike - bitte.« Stefan strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Das ist recht kompliziert.«
»Dann komm mit ins Studio und erzähl mir dort, was du weißt.«
*
Zwischen den redaktionellen Beiträgen berichtete er ihr, was geschehen war. - Solange ein Musikstück lief, konnten sie sich ungestört im Studio unterhalten.
»Spielberg hat also Geschäfte mit Gembowsky gemacht«, murmelte Heike fassungslos. »Die reinste Puff-Connection. Stellt sich nur die Frage, welche Rolle die Bewegung 12. April in der Geschichte spielt.«
»Offensichtlich handelt es sich tatsächlich um zwei verschiedene Ebenen«, überlegte Stefan und kratzte sich hinter dem Ohr.
»Alles deutet darauf hin«, nickte Heike und tickerte ein paar Mal mit dem Kugelschreiber, bevor sie ihn auf das Pult warf und sich im Stuhl zurücklehnte. Stefan musterte sie mit gerunzelter Stirn.
»Aber überleg doch mal«, fuhr sie fort. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Die Bewegung 12. April ruft Eckhardt an und beschwert sich, dass ich zu neugierig bin. Damit kann ja nur meine Nachforschung bezüglich Rolf Spielberg bei dem Schwebebahnfahrer gemeint sein. Dann der Schuss auf Hans Zoch. Das ist doch hirnverbrannt! Wenn es der Bewegung 12. April nur um die Kohle ginge, würde man doch nicht alles daran setzen, dass niemand etwas über Spielberg erfährt.«
»Das verstehe ich auch nicht«, räumte Stefan ein. Etwas passte nicht in das Puzzle. Verzweifelt versuchte er, logische Verbindungen herzustellen.
Das Musikstück neigte sich dem Ende entgegen und Heike setzte sich die Kopfhörer auf. Nachdem die letzten Takte des Songs verstummt waren, moderierte sie einen Beitrag, den sie am Vormittag vorbereitet hatte. Stefan hörte nicht zu, war zu sehr mit eigenen Überlegungen beschäftigt. Immer wieder tauchte ein Name vor seinem geistigen Auge auf. Ein Name, der ihn unter Umständen weiterbringen konnte:
Klaus Gembowsky.
*
Eckhardt wusste beim besten Willen nicht, wie er sich verhalten sollte. Später würde er mit seinem guten Bekannten Jürgen Küppers, dem Polizeisprecher, über die Erpressung reden müssen. Die Sache gestaltete sich schwieriger als anfangs erwartet. Soeben hatte Seiler sein Büro verlassen. Natürlich hatte Eckhardt ihn nach seinem Abgang vorhin erneut ins Chefbüro zitiert. Und was der Reporter ihm über Spielberg berichtet hatte, trug nicht gerade zur Beruhigung bei.
Als das Telefon auf seinem Schreibtisch anschlug, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er dachte an den Polizeibeamten, der in einem Nebenzimmer saß und die Leitungen des Senders abhörte. Niemand seiner Mitarbeiter wusste etwas von dieser Maßnahme. Bei Bedarf konnte man eine Fangschaltung hersteilen, um den Anschluss des Anrufers zu ermitteln.
»Eckhardt, Wupperwelle«, meldete er sich und lehnte sich im Sessel zurück. Als er aus dem Fenster blickte, rumpelte eine Schwebebahn vorüber. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern der orange-blauen Bahn.
»Morgen Abend um dreiundzwanzig Uhr«, hörte er die Stimme des Erpressers. Er hatte ihn schon beim ersten Wort erkannt. »Wir treffen uns am großen Parkplatz an der Konradswüste. Unweit des Gartenvereins stehen Papier- und Glascontainer. Hinter den Containern will ich einen Karton sehen, in dem Karton fünfhunderttausend Euro. Klar?«
»Das ist zu kurzfristig«, erwiderte Eckhardt und versuchte, den Anrufer hinzuhalten. Um einen Anschluss zu ermitteln, benötigte man Zeit. Kurze Telefonate gingen durch das Datennetz verloren. Das wusste jeder Erpresser, und aus diesem Grunde fassten sich böse Jungs üblicherweise kurz.
»Sie hatten lange genug Zeit«, erwiderte der Anrufer und kicherte heiser. »Ich weiß, dass Ihr Telefon abgehört wird. Vergessen Sie's, ich rufe vom Handy aus an.« Wieder kicherte er. »Und ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich keine Bullen sehen will, oder?«
»Hören Sie«, begehrte der Chefredakteur der Wupperwelle auf. »Das ist unmöglich.«
»Gut«, unterbrach ihn der Erpresser und räusperte sich vernehmlich, bevor er fortfuhr. »Dann übernehme ich keine Garantie mehr für die Sicherheit der Fahrgäste in der Schwebebahn. Möglicherweise wird es dann noch heute zu einer letzten Warnung kommen. Wollen Sie das wirklich?«
»Die Polizei begleitet die Bahnen«, versuchte Eckhardt Zeit zu schinden. Möglicherweise könnten die Polizisten im Nebenraum auch mit einem Handy-Anschluss etwas anfangen.
»Alle siebenundzwanzig Züge?«
»Sicher«, bestätigte Eckhardt, obwohl er wusste, dass selbst zur Rush-Hour nur einundzwanzig Bahnen unterwegs waren.
»Wie dem auch sei - es gibt Momente, da befindet sich garantiert kein Scheißbulle an Bord des Zuges. In der Wagenhalle beispielsweise.« Er kicherte überheblich.
»Was bezwecken Sie ...« Michael Eckhardt hörte, wie die Verbindung unterbrochen wurde. Es war sinnlos weiterzusprechen. Er starrte auf den Telefonhörer in seiner Hand, bevor auch er auflegte.
Im nächsten Moment wurde die Tür seines Büros aufgestoßen. Ein junger Mann mit Jeanshemd und Blazer steckte den Kopf herein.
»Und?«, machte Eckhardt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Vergessen Sie's.« Der zivilgekleidete Beamte winkte ab. »Erstens ein Anruf aus dem Mobilnetz, zweitens zu kurz, um feststellen zu können, woher der Anruf kam.«
»Zu kurz?«, polterte Eckhardt.
»Sorry, aber die Technik hat es zeitlich nicht geschafft...«
Wütend hieb der Chefredakteur mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Verdammt, Müller, wir haben ein Problem.«