1. Kapitel

Nächster Halt: Hammerstein!« Verzerrt klang Hans Zochs Stimme durch die Lautsprecheranlage der Schwebebahn, während er das Tempo des Zuges konstant hielt. Soeben überquerte der orange-blaue Lindwurm das Sonnborner Kreuz. Hell erleuchtet lag das bizarr anmutende Betongebilde mit seinen vierundzwanzig Brücken links neben der Schwebebahn. Auf der Autobahn floss der Verkehr vorüber, während der grauhaarige Zugführer das Geschehen aus der so genannten zweiten Ebene betrachtete. Mit gemischten Gefühlen erinnerte er sich an die Zeit, als der Verkehrsknotenpunkt entstanden war. Längst schon hatte man vergessen, dass die architektonisch wertvolle Sonnborner Kirche der Abrissbirne zum Opfer gefallen war, um den neuen Fahrspuren Platz zu machen. Auch zahlreiche Menschen hatten ihre Häuser verloren, da die Autobahn genau durch den kleinen Stadtteil Sonnborn verlaufen sollte. Diese traurige Tatsache hatte man in der damaligen Euphorie großzügigerweise totgeschwiegen.

Mit einem unterdrückten Seufzer auf den Lippen glitt Hans Zochs Blick über die Armaturen des Führerstandes. Alles in Ordnung - eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Ein langweiliger Spätdienst neigte sich dem Ende entgegen. In dieser lauen Sommernacht war zwar halb Wuppertal auf den Beinen, doch verbrachte man den wohlverdienten Feierabend lieber in einem gemütlichen Biergarten als in einem miefigen Schwebebahnzug. Als der Schwebebahnfahrer einen routinemäßigen Blick in den großen Panoramaspiegel über seinem Kopf warf, entdeckte er einen einsamen Mann mit ergrauten Schläfen. Er hockte in sich zusammengesackt auf der letzten Bank und schlief tief und fest. Der Mann wirkte irgendwie seriös in seinem Anzug, und dennoch konnte Hans Zoch nicht umhin, ihn mit einem mitleidigen Blick zu betrachten. Vermutlich war der Gute völlig betrunken. Den Kopf auf der Brust, die Arme verschränkt, schlief er in Zochs Bahn seinen Rausch aus. Immerhin nahm kein anderer Fahrgast Notiz von ihm. Zoch wusste nicht einmal, wann der Kerl im zerknitterten Sommeranzug zugestiegen war. Irgendwann hatte er einfach in seiner Schwebebahn gesessen. Wenigstens war er friedlich und randalierte nicht, denn sonst hätte Zoch ihn an die frische Luft setzen müssen. So aber würde er ihn bis zur Endstation Vohwinkel mitnehmen, um ihn dort in eines der wartenden Taxis verfrachten zu lassen. Eigentlich wirkte der Grauhaarige gar nicht wie jemand, der sich regelmäßig zulaufen ließ. Der Mann kam Hans Zoch bekannt vor. Es ging ihm wie schon hundertmal vorher: Er kannte den Fahrgast, ohne zu wissen, woher. Immerhin nutzten siebzigtausend Menschen pro Tag das Wuppertaler Wahrzeichen als Transportmittel, und da konnte er sich unmöglich jedes Gesicht merken.

Früher war er als Straßenbahnfahrer im Depot an der Uellendahler Straße stationiert gewesen. Nachdem die altmodische Wagenhalle geschlossen worden war, wurde er nach Heckinghausen versetzt. Für Hans Zoch durchaus von Vorteil, da er von nun an zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Sein ganzer Stolz war das Häuschen am Hammesberger Weg, das er mit seiner Hilde von den Ersparnissen gekauft hatte, um den beiden Kindern ein Heim im Grünen bieten zu können. Die kleine Welt war bis zu dem Tag in Ordnung gewesen, an dem die Stadtwerke die Stilllegung des kompletten Wuppertaler Straßenbahnnetzes beschlossen hatten. Die Züge waren hoffnungslos veraltet und mussten dringend erneuert werden. Auch das Schienennetz war störanfällig geworden und hätte einer Überholung bedurft - ein aus kaufmännischer Sicht unsinniges Unterfangen. Sogar der Kauf einiger gebrauchter Bahnen aus Dortmund brachte nur einen Aufschub. So kam es, wie es kommen musste: Nach unzähligen Ratssitzungen beschloss man, dass die definitiv letzte Straßenbahn in der Nacht zum 31. Mai 1987 über die brüchige Tal-Achse rumpeln sollte. Das bestehende Liniennetz wurde fortan von einer Flotte nagelneu angeschaffter Gelenkbusse bedient. Hans Zoch kam sich plötzlich überflüssig vor. Er schien am Ende seiner beruflichen Laufbahn angelangt zu sein, und nur ungern erinnerte er sich an diese Zeit. Er hatte zu oft und zu viel getrunken.

Zwar hatte man ihm eine Stelle als Busfahrer in der neuen Nächstebrecker Wagenhalle angeboten, den Vorschlag aber rasch zurückgezogen, als man von seinen Alkoholproblemen erfuhr. Außerdem wäre es nie sein Ding gewesen, einen überfüllten Linienbus durch die engen Straßenschluchten von Wuppertal zu quälen. Andererseits war das Haus noch nicht ganz abbezahlt. Vorsichtig hatte er sich nach einer Stelle als Schwebebahnfahrer erkundigt - das kam seiner guten alten Tram ziemlich nahe, wie er wehmütig meinte. Er hatte Glück gehabt und durfte - nach rund 65 Fahrstunden beim einzigen Schwebefahrlehrer der Welt - endlich hinters Steuer. Seitdem betrachtete er seine Stadt aus der zweiten Ebene. Sanft schwingend am lindgrünen Gerüst der Bahn hatte er mit Staus und dem Gewimmel in der Innenstadt herzlich wenig am Hut. Da die Bahn nur tagsüber verkehrt, fielen fortan keine Nachtschichten mehr für Zoch an. Ein weiterer Vorteil für ihn, denn aus dem hektischen, zu cholerischen Anfällen neigenden Hans Zoch war ein besonnener, ausgeglichener Mann im besten Alter geworden. Zoch war mit sich und seiner kleinen Welt zufrieden und konnte sich bis zu seiner Rente nichts anderes mehr vorstellen, als Schwebebahn zu fahren. Sicherlich gab es aufregendere und anspruchsvollere Jobs, doch er fühlte sich wohl, und nur das zählte.

Als die Station Hammerstein in Sicht kam, erwachte Zoch aus seinen Betrachtungen und zog den Fahrhebel der Bahn etwas zurück. Kaum spürbar verzögerte der Zug. Auf dem Bahnsteig wartete nur ein älterer Mann mit roter Säufernase im Jeansanzug. Zoch betätigte den Mechanismus, der die Türen der Bahn öffnete. Der kleine Schwarzweißmonitor rechts am Fahrerstand flammte auf, und er konnte über eine auf dem Bahnsteig installierte Kamera den Fahrgastwechsel überwachen. Zoch drehte sich um und warf einen Blick nach hinten in das Innere der Bahn. Der Betrunkene auf der letzten Bank schlief immer noch tief und fest. Nun, ihm sollte es egal sein.

Inzwischen hatte er das Strecke frei-Signal erhalten. Nachdem der Fahrgastwechsel abgeschlossen war, verschloss Hans Zoch die Türen und drückte den Fahrhebel vor. Die Laufwerke auf dem Dach der Bahn surrten kaum vernehmlich. Ein leichter Ruck durchlief die Bahn, dann rollte sie aus der Station. Jetzt lag die Kaiserstraße unter ihm. Von der Straße her dröhnten Technorhythmen an seine Ohren. Als er sich im Fahrersitz vorbeugte, erkannte er ein knallrotes BMW-Cabrio, das fast genau unter seiner Schwebebahn nach Westen rollte. Etwas irritiert blickte Hans Zoch in die beleuchteten Fenster der bunten Hausgiebel, an denen die Bahn vorüberrollte. Nein, es bestand kein Zweifel; der Lärm drang aus dem offenen Sportwagen zu ihm hinauf.

In der warmen Nacht waren noch zahlreiche Spaziergänger unterwegs. Vergnügt zogen sie von Kneipe zu Kneipe oder belegten die zahlreichen Tische der Straßencafes und Eisdielen der Kaiserstraße. Nun sah Zoch, wie sich einige Passanten die Hälse nach dem BMW verrenkten. Scheinbar unbewusst hielt der Fahrer des Cabrios das gleiche Tempo wie die Schwebebahn über seinem Kopf. Auf der Höhe des Eissportzentrums erkannte Zoch endlich den Fahrer; einen braungebrannten Typ mit offenem, weißem Hemd. Die schulterlangen, dauergewellten Haare flatterten im Fahrtwind. Zoch sah im Licht der Straßenlaternen eine goldene Armbanduhr glitzern.

»Zuhälter«, entfuhr es dem Schwebebahnfahrer abfällig, als er sah, wie der Typ ein offensichtlich intensives Gespräch mit seiner jungen, hübschen Beifahrerin führte. Er redete mit übertriebenen Gesten auf die Frau ein und schaute sie viel zu lange an, anstatt sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Immer wieder landete seine behaarte Pranke auf dem nackten Knie der jungen Frau, der diese Berührungen anscheinend unangenehm waren, denn geschickt wich sie immer wieder aus und brachte ihre Beine aus der Gefahrenzone. Wie Zoch schätzte, war sie Anfang dreißig. Höchstens. Ihr blondes Haar trug sie sportlich kurz. Als ihr die Annäherungsversuche ihres Verehrers zu bunt wurden, zog sie das geblümte Sommerkleid herunter.

»Widerling«, zischte Zoch kopfschüttelnd.

Das bunte Licht von unzähligen Leuchtreklamen der Geschäfte warf bizarre Schatten auf die blank polierte Motorhaube des Cabrios, während Hans Zoch das offenbar ziemlich einseitig verlaufende Gespräch zwischen den beiden von oben beobachten konnte. Es schien, als hätte das junge Paar unter ihm Streit oder zumindest eine Meinungsverschiedenheit. Wiederholt schüttelte die junge Frau trotzig den Kopf und blickte scheinbar gelangweilt aus dem Seitenfenster, während sich ihr Verehrer immer wieder weit zu ihr hinüberbeugte. Dass sich der Cabrio-Fahrer mehr auf die junge Frau neben sich konzentrierte, als auf den fließenden Verkehr, bemerkte er erst, als er um ein Haar auf einen langsam vor ihm herfahrenden Wagen aufgefahren wäre, der einen freien Parkplatz zwischen den Schwebebahnpfeilern suchte. Der BMW geriet ins Schlingern. Zoch vernahm das Kreischen der Reifen bis in den Führerstand der Bahn. »Idiot«, brummte er und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Was gingen ihn die Streitigkeiten anderer Leute an?

Die Haltestelle Bruch kam in Sichtweite, und Zoch drosselte das Tempo, als die Bahn in die menschenleere Station einlief. Auch hier konnte sich der Betrunkene von der letzten Bank nicht dazu aufraffen, endlich auszusteigen.

»Also doch ein Taxi an der Endstation«, murmelte Zoch Gott ergeben und rollte mit den Augen. In wenigen Minuten hatte er Dienstschluss, sollten sich doch andere um den Heini kümmern! Seelisch bereitete er sich schon auf einen gemütlichen Feierabend auf der Terrasse seines Häuschens vor, träumte von einem kühlen Bier und einem kleinen Plausch mit seiner Hilda, die ihn sicherlich schon erwartete. Morgen hatte er frei; da würde er nach Dormagen fahren, zum Angeln.

Der Zug rollte in die Endstation Vohwinkel ein. Ein leiser Seufzer der Zufriedenheit kam über Zochs Lippen, als er die weinrote Krawatte über dem hellblauen Diensthemd mit der pedantischen Bügelfalte zurechtrückte. Brav wies er seine letzten Fahrgäste darauf hin, dass hier Endstation sei und jeder die Güte haben möge auszusteigen. Eigentlich überflüssig, da jeder Wuppertaler wusste, dass die Schwebebahn hier den letzten Halt einlegte. Hinter der engen Wendeschleife erkannte er im gleißenden Lichtschein die Wagenhalle. Zoch sah in Reih und Glied aufgereihte Züge, die bereitstanden für den nächsten Tag, frisch gewaschen und gewartet, denn Sicherheit wurde groß geschrieben bei den Stadtwerken. Immerhin galt die Wuppertaler Schwebebahn als das sicherste Verkehrsmittel der Welt, und das sollte auch so bleiben.          

Mit einem wehmütigen Stich im Herzen erinnerte er sich an den Absturz einer Bahn im April 1999, bei dem fünf Menschen ums Leben gekommen waren. Fast fünfzig Verletzte waren zu beklagen gewesen. Infolge des Vorfalls wurde die Strategie, das alte Gerüst der Bahn nur am Wochenende auszutauschen - und dann unter immensem Zeitdruck -, von zahlreichen Stellen kritisiert. Hans Zoch bekam eine Gänsehaut, denn eigentlich hätte er an diesem schwarzen Montag die erste Bahn fahren sollen. Er hatte sich am Wochenende den Magen verdorben und war nicht vom stillen Örtchen gekommen. Glück im Unglück, denn den Kollegen, der ihn vertreten hatte, hatte er wahrlich nicht beneidet. Abgesehen davon, dass der Fahrer der Unglücksbahn im Krankenhaus gelandet war, hatte man ihm zunächst vorgeworfen, er hätte die Kralle, welche den Unfall verursacht hatte, sehen müssen. Dieser Vorwurf hatte sich glücklicherweise nicht sehr lange halten lassen, denn immerhin war es zu diesem Zeitpunkt dunkel gewesen. So war die Schwebahn gegen die Kralle gefahren, als wäre sie auf einen Rammbock aufgelaufen. Das erste der vier Leitwerke auf dem Dach war abgerissen worden und hatte dadurch das Unglück besiegelt.

Zoch dachte nicht gern an diese Schicksalsfügung, wehrte sich aber dagegen, dass man das tragischste aller Ereignisse einfach totschwieg und verdrängte. Er schüttelte stumm den Kopf und versuchte in die Gegenwart zurückzukehren.

Ein letztes Mal in dieser Schicht beobachtete Zoch über den kleinen Monitor, wie die Fahrgäste seine Bahn mehr oder weniger eilig, jedenfalls ohne sich noch um weitere Mitfahrende zu kümmern, verließen. 

Nur einer stieg nicht aus.

Der Betrunkene.

Hans Zoch zerquetschte einen Fluch auf den Lippen. Ruckartig sprang er vom Fahrerstand auf und öffnete die halbhohe Tür, die seinen Stand vom Fahrgastraum abtrennte. Mit langen Schritten stürmte er nach hinten.

»He Mann, hier ist Endstation!«, rief er schon vom Gelenk des Zuges aus. Er erhielt keine Reaktion. Der Anzugträger schlummerte tief und fest.

»Mein Gott, ist der voll«, murmelte Zoch und beeilte sich, das Heck der Bahn zu erreichen. Ihm blieb nicht viel Zeit, den unliebsamen Fahrgast an die frische Luft zu setzen, denn er blockierte den Bahnsteig. Solange er sich in der Station aufhielt, wurde die Strecke hinter ihm gesperrt, sodass die folgende Bahn vom Leitstand aus gestoppt wurde. Also musste Zoch rasch die Strecke räumen, sonst gab es wegen ihm Verzug im nachfolgenden Verkehr der Schwebebahn. Das war ihm in all den vielen Dienstjahren noch nie passiert, und Zoch wollte sich von einem sternhagelvollen Fahrgast nicht die Statistik versauen lassen.

»Hallo, guter Mann!«, wagte er einen zweiten Versuch. »Hier ist Endstation!« Dann hatte er den scheinbar Saumseligen erreicht. Zoch stutzte. Er kannte den Herrn. Jetzt war er sich ganz sicher. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Dunkle Erinnerungen wurden lebendig, als er an seine erste Begegnung mit ihm dachte. »Ausgerechnet der«, fluchte er. Erschrocken griff er nach der rechten Hand des Betrunkenen und fühlte den Puls.

Zumindest versuchte er es.

Die Hand war eiskalt. Schockiert ließ Zoch sie los. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Entsetzt konstatierte er, dass der Arm des Fahrgastes leblos am Körper herunterhing. »Kein Puls, Mann, das sieht aus, als hätte ich ein Problem«, stellte Zoch fest und blickte sich irritiert um. Noch immer war er alleine mit dem Anzugträger. Es roch penetrant nach Alkohol. Gehetzt ließ er den Blick über den schlaffen Körper des Mannes gleiten. Der Anzug war zerknittert und wirkte, als hätte der Mann ihn seit Tagen nicht mehr ausgezogen. Zoch schätzte den Fahrgast auf Anfang fünfzig. Er hatte ein rundes, volles Gesicht, die Haut war gebräunt, vermutlich von einer Sonnenbank. An den fleischigen Händen erkannte Zoch protzige Siegelringe. Erst jetzt erblickte er die mit zahllosen Diamanten besetzte Uhr am Armgelenk des Mannes. Die Gedanken rasten förmlich durch Zochs Kopf.

Steinreich und dennoch sternhagelvoll. Der Schwebebahnfahrer spürte instinktiv, dass hier etwas nicht stimmte. Wenn jemand so reich war, wie der hier aussah, hatte er es nicht nötig, mit öffentlichen Verkehrsmitteln heimzufahren. Leichte Panik stieg in Hans Zoch hoch. Er warf immer wieder gehetzte Blicke über die Schulter. Dann schlug er dem Mann vorsichtig auf die Wange, er tätschelte ihn; erst sanft, dann energischer. Als der Anzugträger nicht reagierte, beugte Zoch sich weit über den massigen Körper und zog entschlossen ein Augenlid hoch. Der Knabe blickte ihn aus geweiteten, leblosen Pupillen an.

Das war bizarr.

Jetzt hörte der Spaß auf.

Zoch spürte, wie der Boden unter ihm nachzugeben schien. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, während er gegen die Übelkeit ankämpfte, die von ihm Besitz ergriff. Dann endlich hatte er begriffen: »Ausgerechnet der«, zischte Hans Zoch.

Es sah ganz so aus, als hätte er eine Leiche zur Endstation befördert.