Weißt du eigentlich, wo dieser Klaus Gembowsky seinen Bunker hat?«
Heike starrte ihren Freund und Kollegen verdutzt an.
»Nun«, half Stefan ihr auf die Sprünge, »ich meine, wo wohnt er?« Er nippte an seinem Bierglas.
»In Solingen«, erwiderte Heike. »Leider bin ich nicht mehr in den Genuss gekommen, seine Villa besichtigen zu dürfen.«
»Ich wollte ihn besuchen.«
»Du bist bescheuert«, stellte Heike fest und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Er wird direkt wissen, aus welcher Richtung der Wind weht, wenn du bei ihm aufkreuzt.« Sie beobachtete eine alte Frau, die es sich am Nebentisch mit einem Wupper-Dunkel-Nullvierer bequem gemacht hatte und genießerisch vom Gerstensaft schlürfte.
Es war Abend geworden, und während Heike jetzt frei hatte, begann Stefans offizieller Dienst in Kürze. Nach ihrem Dienstschluss waren sie durch die Barmer City hinüber zum Wuppertaler Brauhaus geschlendert, um es sich unter einem großen Ahornbaum im Biergarten gemütlich zu machen. Sie benötigten etwas Ruhe, um den Stand der Dinge zu klären. Es war in der hektischen Redaktion einfach unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Wetter war traumhaft und das Thermometer gegenüber vom Rathaus hatte knapp sechsundzwanzig Grad angezeigt. Entsprechend viel Betrieb herrschte im Biergarten, und nur durch Glück war es ihnen gelungen, einen freien Tisch zu ergattern, nachdem sie es sich zunächst auf dem kleinen Mäuerchen, der den Marktplatz abgrenzte, bequem gemacht hatten.
»Er muss ja nicht wissen, was ich beruflich treibe«, überlegte Stefan. Er grinste die Freundin breit an.
»Stefan«, ächzte Heike und winkte ab. »Gembowsky ist Geschäftsmann. Er muss vorsichtig sein, sehr, sehr vorsichtig. Was willst du ihm erzählen? Dass du von der Versicherung kommst, oder was?«
»Mir wird etwas einfallen«, brummte er missmutig. Seine Kollegin hatte Recht. Seufzend blickte er auf die Armbanduhr. »In anderthalb Stunden muss ich zum Sender. Da schaffe ich nichts mehr. Aber morgen«, Stefan nickte, »morgen werde ich diesem Zuhälter einen Besuch abstatten.«
»Die Adresse steht kaum im Telefonbuch«, erwiderte Heike.
Stolz griff Stefan in die Innentasche der Jeansjacke und zog seinen Joker hervor. Heike starrte verdutzt auf das in Leder gebundene Büchlein.
»Was ist das?«, fragte sie und streckte die Hand danach aus.
»Mein Fahrschein zu Gembowsky«, grinste Stefan. »Das ist Rolf Spielbergs persönliches Adressbuch. Möglicherweise hat er die genaue Anschrift seines Lieblingsfreundes Gembowsky notiert.«
»Woher ...« stotterte Heike und blätterte im Buch herum. »Woher hast du die Kladde?«
»Aus seinem Haus. Ich konnte sie verschwinden lassen, bevor das Unheil seinen Lauf nahm.« Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
»Stefan«, sagte die Reporterin vorwurfsvoll. »Das ist Diebstahl.«
»Nein.« Er winkte ab. »Es dient mir lediglich zur Beweisaufnahme. Als Mitarbeiter der Wupperwelle habe ich ein berechtigtes Interesse daran, dass der Erpresser so schnell wie möglich aufgetrieben wird.« Stefan zog die Mundwinkel nach unten. »Bevor der guten alten Schwebebahn etwas zustößt und unschuldige Fahrgäste dran glauben müssen.«
»Du bist größenwahnsinnig«, stellte Heike unbeeindruckt fest und reichte ihm das Buch zurück. »Es ist Sache der Polizei, den ...«
Weiter kamen sie nicht.
Das Handy in seiner Jackentasche schlug an. Als er stirnrunzelnd auf das Display blickte, stellte er fest, dass ihn jemand aus der Redaktion anrief. »Eckhardt«, brummte Stefan und nahm den Anruf an.
»Sie müssen sofort los«, fiel dieser mit der Tür ins Haus. »Ich habe keine Leute, und Frau Göbel ist nach der Sendung sofort verschwunden. Sie müssen nach Vohwinkel!« Der Chefredakteur schien völlig aufgelöst zu sein.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Stefan geduldig.
»Diese Schweine haben ihre Drohung wahrgemacht«, erwiderte er.
Heike, die nur die Hälfte des Telefonats mitbekam, warf Stefan einen viel sagenden Blick zu und rollte mit den Augen. »Was ist in Vohwinkel los?«
Er ahnte das Schlimmste und wusste sofort, dass Eckhardt von den Erpressern sprach. »In der Endstation Vohwinkel sind zwei Bahnen aufeinandergefahren. Zwanzig Personen verletzt, der Fahrer der hinteren Bahn liegt im Krankenhaus.«
Stefan stutzte. Seine gute Laune war verflogen. Scheinbar war er zu spät dran, um die Sicherheit der Schwebebahn zu schützen.
»Allerdings spricht man derzeit von einem technischen Defekt.«
»Wenn ich alles glaube«, brummte er, »aber das nicht.« Eilig unterbrach Stefan die Verbindung und bezahlte die Zeche. Es gab Arbeit.
*
Am Redaktionsgebäude hatten sich ihre Wege getrennt.
Heike wollte noch mal mit dem Polizeipräsidium telefonieren, um herauszufinden, ob man dort dem unbekannten Schützen, der Hans Zoch aus dem Hinterhalt angeschossen hatte, auf der Spur sei.
Stefan hatte sich den Road Runner, wie sie das mobile Aufnahmegerät nannten, geholt und war mit seinem Käfer zur Vohwinkler Halle gedüst. Natürlich war die Autobahn dicht gewesen - der Berufsverkehr war seit einer Stunde in vollem Gange. Er benötigte fast zwanzig Minuten für die Kaiserstraße, dann endlich hatte er sein Ziel erreicht. Auf den ersten Blick erkannte er zahlreiche auffällig-unauffällige Wagen von Kripo und Staatsanwaltschaft, die sich zu den Streifenwagen gesellten. Rettungswagen parkten unter der Schwebebahnhalle und versorgten noch immer die verletzten Fahrgäste. Männer und Frauen in weißen Kitteln rannten aufgeschreckt umher. Auf der anderen Straßenseite parkten zwei Übertragungswagen vom Fernsehen. Ein Unfall der Schwebebahn war selten, und entsprechend groß war das Interesse der Medien an einem derartigen Unglück mit dem sichersten Verkehrsmittel der Welt.
Stefans Interesse galt der dichten Menschentraube vor dem Eingang der Schwebebahnstation. Es hatten sich unzählige Schaulustige eingefunden und waren in intensive Gespräche verwickelt.
»Der Fahrer war wohl sternhagelvoll, sonst hätte er ja die andere Schwebebahn gesehen, die im Bahnsteig wartete«, rief ein untersetzter Mann mit buschigen Augenbrauen.
»Quatsch, die Bahn war im Eimer - die Bremsen sollen versagt haben«, erwiderte sein Kumpel, ein langer Lulatsch mit schulterlangen, fettigen Haaren und einer krummen Boxernase.
»Wenn die Bremsen versagen, dann schaltet sich der Strom automatisch ab«, wusste ein kleiner Dicker und linste aus tückischen Augen zu seinem Freund hinauf, der dementierte.
Wo immer etwas geschehen war, gab es neunmalkluge Besserwisser, die natürlich jede Katastrophe voraussagen konnten. Stefan hatte genug von dem Unsinn gehört und wandte sich kopfschüttelnd ab. Als er den kleinen Schalterraum am Fuße der Station betrat, stellte er fest, dass der Fahrkartenschalter geschlossen war. Ein Schild über dem Eingang wies die Fahrgäste darauf hin, dass die Bahn derzeit außer Betrieb sei und stattdessen Ersatzbusse eingesetzt wurden.
Rasch eilte Stefan die ausgetretenen Steinstufen zum Bahnsteig hinauf, stets zwei Stufen mit einem Schritt nehmend. Eigentlich erwartete er, dass man die beschädigten Züge eilig in die Wagenhalle zurückgefahren hätte, um sensationsgeilen Besserwissern den Anblick der zerstörten Bahnen zu ersparen. Stefan reckte den Kopf und stellte sich auf die Zehenspitzen, um vielleicht ein bekanntes Gesicht auszumachen. Doch das Erste, was er sah, war das rotweiße Flatterband mit der Polizei-Aufschrift.
»Hier können Sie nicht rein«, belehrte ihn ein junger, uniformierter Beamte und bemühte sich, ihm den Blick zu versperren.
»Was ist geschehen?«, fragte Stefan, eigentlich um Zeit zu gewinnen.
»Zwei Schwebebahnen sind zusammengeprallt«, wurde er mit wichtiger Miene aufgeklärt. »Die Bahn steht zur Zeit still, Sie müssen wohl für die nächsten Stunden mit dem Bus fahren.«
»Unsinn, ich fahre mit dem Auto«, erwiderte Stefan ungeduldig. Das profilierungssüchtige Gehabe des Polizisten nervte ihn, und er präsentierte dem Polizisten seinen kleinen Koffer, der den Road Runner beinhaltete. Das knallrote Logo der Wupperwelle war nicht zu übersehen und in der Stadt bekannt. »Ich bin vom Radio und würde gern Ihren Einsatzleiter sprechen.«
»Den Staatsanwalt?«, fragte der junge Polizist und machte eine säuerliche Miene. »Staatsanwalt Pesche ist aber beschäftigt.«
»Staatsanwaltschaft?«, fragte Stefan. Stimmt: Schon am Fuße der Haltestelle war ihm der Dienstwagen der Staatsanwaltschaft aufgefallen. Das ging aber verdammt schnell. Also ging man wohl doch nicht von einem technischen Defekt aus. Vermutete man auch hier schon einen Anschlag der Erpresser?
Der blasse Beamte - Stefan schätzte ihn auf Mitte zwanzig - schien zu merken, dass er bereits zu viel verraten hatte. »Natürlich eine reine Vorsichtsmaßnahme«, beeilte er sich zu sagen.
»Natürlich«, stimmte Stefan im Brustton der Überzeugung zu. Während er mit dem Polizisten redete, spähte er an diesem vorbei, um einen Blick auf den Bahnsteig zu erhaschen. Dort huschten unzählige Personen aufgeregt umher oder waren in angeregte Gespräche vertieft.
Dann sah Stefan die Unglücksbahn. Der orange-blaue Zug stand leer und führerlos am Bahnsteig. Alle Türen waren geöffnet, und, obwohl er von seinem Standort aus von der Beschädigung nicht viel sehen konnte, so fiel ihm doch auf, dass die Schwebebahn schief in den Schienen hing. Der Zug erinnerte ihn an ein gekentertes Schiffswrack und die Beule im Heck ließ das Schlimmste vermuten. Die letzten Bänke waren aus den Verankerungen im Boden gerissen worden. Wer hier gesessen hatte, konnte unmöglich unverletzt davongekommen sein. Obwohl Stefan als Journalist einiges gewohnt war, so schnürte sich ihm bei diesem Anblick doch die Kehle zu.
»Lassen Sie den Mann durch«, riss ihn eine weibliche Stimme aus den Gedanken. Zögernd löste Stefan sich vom Anblick der lädierten Schwebebahn. Auch der junge Beamte fuhr auf dem Absatz herum. Eine konservativ gekleidete Frau im mittleren Alter hatte sich ihnen genähert.
»Frau Meister«, erkannte Stefan die Pressesprecherin der Stadtwerke. »Darf man erfahren, was vorgefallen ist?« Er hatte sie bereits am Vormittag auf der Pressekonferenz angetroffen. Seither waren nur wenige Stunden vergangen. In dieser Zeit hatten sich die Ereignisse rund um das Wuppertaler Wahrzeichen förmlich überschlagen. Entsprechend grau sah die Pressesprecherin nun aus. Sie wirkte wie eine alte, gebrochene Frau; sie war sichtlich nervös, als sie Stefan mit einem unsteten Blick musterte und die Hände rang. Dann starrte sie auf ihre rotlackierten Fingernägel und seufzte. Das Geschehen schien ihr persönlich ziemlich nahe zu gehen. Sie war als Idealistin bekannt, und eben dieser Idealismus machte ihr jetzt zu schaffen. »Nun, das dürften Sie schon wissen, denn sonst wären Sie kaum hier.« Ihr Lächeln wirkte unecht.
»Eckhardt«, sagte Stefan und räusperte sich, bevor er etwas verlegen grinsend fortfuhr: »Ich meine, Herr Eckhardt sagte, dass es zu einem Auffahrunfall gekommen sei. Unten vor der Station kursieren schon die wildesten Gerüchte unter den Schaulustigen. Es dürfte an der Zeit sein, den Leuten die Wahrheit zu sagen.«
»Was wissen Sie?«
Der Polizist wollte wohl nicht indiskret sein und wandte sich ab. Nachdenklich zog Stefan die Mundwinkel nach unten. Mit wenigen Sätzen berichtete er ihr, was er von seinem Chef erfahren hatte.
»Der Pressesprecher der Polizei war wieder einmal schneller als wir selber«, räumte Erika Meister mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen ein und bedeutete Stefan, ihr zu folgen. Dann waren sie außer Hörweite der anderen Personen auf dem Bahnsteig.
»Die Herren verbindet eine gute Freundschaft«, bemerkte der Reporter mit einem viel sagenden Lächeln.
»Ja.« Die Meister deutete auf den Zug. Erst jetzt bemerkte Stefan die Scherben auf dem Bahnsteig. Zwei Fensterscheiben waren zerstört.
Erika Meister führte ihn an die Bahn und bemerkte seine Blicke.
»In Panik warfen die Fahrgäste die Fenster ein und retteten sich nach dem Unfall durch die kleinen Luken«, erklärte sie.
»Aber die Türen«, murmelte er, »sie stehen doch offen. Warum sind die Fahrgäste nicht einfach ausgestiegen?«
»Durch die Wucht des Aufpralls klemmten die Ausstiege. Von Mitarbeitern der Werkstatt wurden die Schiebetüren per Brechstange geöffnet. Die Leute reagierten panikartig und verletzten sich an den Scherben der Fensterrahmen, durch die sie zunächst geklettert waren.
»Hmm«, machte Stefan und massierte sein Kinn.
»Wir haben neunzehn Verletzte zu beklagen, darunter auch den Fahrer der Unglücksbahn. Er befindet sich im Krankenhaus.«
»Ist er schon vernommen worden?«
»Leider nur kurz, ja«, nickte die Meister und spielte mit ihrem Kettchen. »Er sagte aus, dass die Bahn plötzlich beschleunigte und sich nicht bremsen ließ. Somit deutet alles auf einen technischen Defekt hin.«
Auf der Station wimmelte es von Sachverständigen, auch das Fernsehteam der WDR-Lokalzeit erkannte Stefan. Die Kollegen vom Fernsehen drehten einen Schwenk hinüber zur Werkstatt, deren Tore man geschlossen hatte. Dann zeigte man dem Publikum eine Totale vom zertrümmerten Heck der Schwebebahn, um die Dramatik des Unfalls zu dokumentieren. Wie Stefan erfreut feststellte, war sein Lieblingskollege Axel Grimm noch nicht hier. Techniker mit Sturzhelmen kletterten auf dem lindgrünen Gerüst der Bahn herum und diskutierten angeregt über den Schaden, den der Auffahrunfall verursacht hatte. Möglicherweise war sogar der Schienenstrang beschädigt. Die Bewegung 12. April hatte ganze Arbeit geleistet. Steckten sie wirklich hinter dem merkwürdigen Unfall - und wenn ja, aus welchem Lager mochten sie kommen?
Stefan beschloss, mit Erika Meister darüber zu reden, und musste zunächst versprechen, ihre Informationen streng vertraulich zu behandeln und nicht im Radio zu senden. Fast ängstlich blickte sie sich zu den Sachverständigen um, die mit den Leuten von Staatsanwaltschaft und Kripo beschäftigt waren und sie nicht beachteten. Erika Meister wirkte erleichtert, fast so, als habe sie in Stefan einen Gesprächspartner gefunden, dem sie vertrauen konnte. Sie lächelte unsicher und zuckte mit den Schultern. »Natürlich können wir nichts auszuschließen - mein erster Gedanke ging ebenfalls in diese Richtung«, räumte sie mit gedämpfter Stimme ein. »Kommen Sie.« Die Pressesprecherin zog ihn auf das begehbare Gitterrost, welches den Bahnsteig mit dem Werkstattbereich der Wagenhalle verband. Im Gänsemarsch steuerten sie auf die Werkstatthallen zu. Unter ihnen gähnte der Hof der Werkstatt. Tunlichst vermied Stefan es, durch die Vierecke des Eisengitters nach unten zu blicken. Seine Höhenangst machte ihm zu schaffen, und man kam auch als Radioreporter nicht täglich in den Genuss, auf dem Sperrgitter der Wuppertaler Schwebebahn herumzuturnen. Insgeheim bewunderte Stefan die Meister, wie sie mit hochhackigen Schuhen über das Gitter zu schweben schien, ohne auch nur einmal mit den Absätzen in den Streben hängen zu bleiben.
Frauen waren ihm ein Rätsel.