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Shanghai

Chases letzter Besuch in Shanghai lag über zwei Jahre zurück. Er war beeindruckt – wenn auch nicht überrascht – vom Ausmaß der Veränderungen in der Stadt. Die Skyline war kaum noch wiederzuerkennen. Wo man auch hinsah, überall waren neue Wolkenkratzer entstanden, und dazwischen ragten Baukräne auf, deren filigrane Silhouetten sich vor dem diesigen Himmel abzeichneten.

Die neuen Gebäude waren keine langweiligen Kästen wie im Westen der Stadt – die boomenden, kapitalkräftigen Shanghaier Firmen lieferten sich ein regelrechtes architektonisches Wettrüsten und wetteiferten um die höchste, coolste und spektakulärste Konzernzentrale. Alte chinesische Tempel waren vertikal auf über hundert Stockwerke gestreckt, daneben ragten funkelnde Türme, Korkenziehergebilde und bizarre organische Formen auf, die sich jeglicher Beschreibung entzogen. Überall leuchteten bunte Neonreklamen.

Das Gebäude, das Chases besonderes Interesse weckte, als das Taxi über eine Überführung an der Ostseite der Stadt fuhr, war nicht so hoch wie manche andere, aufgrund seiner Größe und seines Designs aber gleichwohl imposant. Die Zentrale von Ycom – gesprochen Jie-com – war etwa dreißig Stockwerke hoch. Die eine Seite des Gebäudes war eine senkrechte Fläche aus schwarzem Glas, die andere Seite war sanft geschwungen und erinnerte an eine Skateboardrampe. Das Dach war gespickt mit Sendemasten, alle neonbunt beleuchtet, und in der Mitte befand sich offenbar ein Hubschrauberlandeplatz.

Ycom gehörte zu Richard Yuen Xuans Firmenimperium.

»Na, Eddie, gefällt dir Shanghai noch?«, fragte die Frau, die das Taxi fuhr. Chao Mei wirkte jugendlich, und ihre zierliche Gestalt wurde durch die übergroße, jungenhafte Kleidung noch betont. Dabei war sie einige Jahre älter, als man meinte, und auch nicht so unschuldig, wie ihr Gesicht aussah, das sie gerne unter einer weichen, türkisfarbenen Baskenmütze verbarg: Chase wusste, dass ihre Familie seit Jahren in die nicht ganz legalen Geschäfte mit den Triaden verwickelt war.

»Ja, es sieht richtig cool aus. All die vielen Türme – allerdings kommt es mir so vor, als ginge es bei dem ganzen Gebaue vor allem darum, wer den Längsten und Dicksten hat.«

Mei kicherte. »Du machst ständig sexuelle Anspielungen, Eddie. Wenn das nicht wäre …« Sie tätschelte sich den Bauch. Ihre wattierte Jacke vermochte nicht zu verbergen, dass sie im siebten Monat schwanger war. »… dann hätten wir es endlich mal tun können, hmm?«

»Ja, der verfluchte Lo und seine gesegnete Fruchtbarkeit«, sagte Chase, der sich wohl bewusst war, dass sie nur scherzte. »Aber wahrscheinlich muss ich gleich die Stadt verlassen, wenn ich hier fertig bin.« Er senkte die Stimme. »Außerdem bin ich sozusagen liiert.«

»Tatsächlich?« Sie musterte ihn erfreut, aber auch ein wenig überrascht. »Schön für dich! Wie ist sie? Erzähl! Ist sie schön?«

»Augen auf die Straße, Mei«, sagte Chase mahnend und zuckte zusammen, als das Taxi von der Spur abkam und einem Bus gefährlich nahe kam.

Mei lenkte das Taxi wieder in die Spur, dann sah sie erwartungsvoll in den Rückspiegel.

Chase seufzte. »Ja, das ist sie.«

»Ich hab’s gewusst. Als ich Lo erzählt habe, dass du kommst, ist er richtig eifersüchtig geworden. Er wollte wissen, weshalb jemand mit deinem Gesicht bei schönen Frauen so gut ankommt.«

Chase schnaubte und rieb sich die flache, mehrfach gebrochene Nase. »Schon gut! Liegt wohl daran, dass ich ein so toller Hecht bin.«

»Das habe ich ihm auch gesagt! Und jetzt erzähl mir von ihr. Bist du verliebt?«

Die Skyline verschwand, als das Taxi in den Tunnel unter dem Fluss einfuhr, der die Stadt teilte.

»Ich … ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, wie es momentan um unsere Beziehung bestellt ist.«

Mei bedachte ihn im Rückspiegel mit einem mitfühlenden Blick. »Wie lange seid ihr schon zusammen? Ein Jahr, zwei?«

»Etwa anderthalb Jahre.«

»Ah!«

»Ah, was?«

»Das ist immer eine kritische Zeit«, erklärte Mei. »Der erste Rausch der Verliebtheit ist verflogen, und jetzt lernt ihr euch richtig kennen. Vielleicht findet ihr in dieser Phase auch Dinge über den Partner heraus, die euch weniger gefallen.«

»Das kann man wohl sagen«, brummte Chase unwillig.

»Lo und ich, wir haben das Gleiche durchgemacht«, fuhr Mei munter fort. »Er kann meine Hüte nicht ausstehen, und ich kann seinen Freund Fong nicht leiden, mit dem er diese PC-Spiele spielt, ätsch!«

»Aber ihr habt euch arrangiert?«

Sie bedachte ihn mit einem sarkastischen Blick und tätschelte sich erneut den Bauch. »Sieht so aus, oder?«

Chase musste unwillkürlich lachen.

»Wenn man jemanden wirklich liebt«, fuhr Mei fort, »wenn man füreinander bestimmt ist, wenn es sich lohnt, dafür zu kämpfen, dann merkt man das auch.«

»Das behalte ich im Hinterkopf«, sagte Chase, der gerne das Thema gewechselt hätte. Als das Taxi auf der Westseite der Stadt aus dem Tunnel kam, betrachtete er schweigend die Wolkenkratzer.

Das Grand Theatre von Shanghai war ein ultramoderner Stahl- und-Glas-Bau an der Westseite des Volksparks. Mei hielt vor dem Gebäude. »Okay, wir sind da. Hast du alles?«

»Mein Ticket hab ich«, sagte Chase und hielt es hoch.

»Tut mir leid, dass ich dir keinen besseren Platz besorgen konnte. War ein wenig kurzfristig.«

»Ich bin nicht hergekommen, um einen fetten Kerl singen zu hören«, rief er ihr mit einem Grinsen in Erinnerung.

»Wie wär’s, wenn wir ein Zeichen verabreden würden, für den Fall, dass ich dich rausholen soll?«

»Halt einfach die Augen offen. Du wirst schon merken, wenn es so weit ist.«

Mei runzelte die Stirn. »Eddie, bitte spreng das Grand Theatre nicht in die Luft. Ich mag das Theater, ich hab hier Les Miserables gesehn.«

»Klingt eigentlich eher wie ein guter Vorwand, das Ding in die Luft zu jagen!«

Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Okay, okay, ich verspreche dir, dass ich das Gebäude nicht in Schutt und Asche legen werde.«

»Danke.«

»Aber es könnte das eine oder andere zu Bruch gehen.«

»Eddie!«

»Ich mach doch nur Spaß. Okay, ich muss los.«

»Moment noch.« Mei griff nach hinten und rückte seine Krawatte zurecht. »So, jetzt ist alles perfekt.«

»Bin ich das nicht immer?« Er zupfte am Kragen des Smokings, den sie ihm besorgt hatte.

»Pass auf dich auf«, sagte sie, als er ausstieg.

Chase zwinkerte ihr zu, dann überquerte er den Vorplatz.

Er war absichtlich zu früh gekommen, verweilte im verglasten Foyer des Grand Theatre und beobachtete das eintreffende Publikum.

Die wahren Opernfans waren von den Firmenangebern leicht zu unterscheiden. Erstere waren aufgeregt und gespannt auf die Aufführung. Letztere traten laut und herablassend auf, um zu demonstrieren, dass sie das alles schon kannten und dass dieser Abend bloß eine unter vielen kostspieligen Zerstreuungen war. Sie setzten sich mit teuren Handys, edlen Uhren und protzigem Juwelenschmuck in Szene – Yuppies waren in China ebenso widerwärtig wie überall sonst.

Doch es gab noch eine weitere Besuchergruppe, die lieber unter sich blieb: Dem Sitzplan im Programmheft zufolge waren die meisten Balkon-Plätze Privatlogen vorbehalten. Chase ging davon aus, dass die Zielperson dort zu finden war.

Er behielt die Haupteingänge im Auge und machte sich mit den Gegebenheiten des Foyers vertraut, dann stieg er die Treppe zum Balkon hoch. Am Ende einer Seilabsperrung wurden die Eintrittskarten kontrolliert, um sicherzustellen, dass die Privatsphäre der Superreichen, die sich Logenplätze leisten konnten, gewahrt blieb. Hinter der Absperrung standen zwei massige, stiernackige Herren in Smokings. Unter ihren Sakkos zeichneten sich Waffen ab, und Chase nahm an, dass das durchaus so gewollt war. Eine Machtdemonstration.

Er sah zum Haupteingang hinunter – und erblickte die Personen, auf die er gewartet hatte.

Umgeben von vier Männern in Smokings, die zur selben Gang zu gehören schienen wie die Aufpasser im Gang, kam Yuen ins Foyer stolziert, als würde ihm das ganze Opernhaus gehören. Ein Paar Yuppies rückten näher, als hofften sie auf ein persönliches Gespräch, doch die abweisenden Blicke der vier Gorillas hielten sie auf Abstand.

Sophia folgte Yuen mit ein paar Schritten Abstand. Sie trug ein langes Cheongsam aus schimmernder Seide, eine dazu passende Handtasche und schwarz glänzende, grotesk hohe Plateauschuhe mit Riemchen und Pfennigabsätzen. Ihr Haar war in klassischem chinesischem Stil frisiert.

Chase runzelte die Stirn. Das erschwerte die Sache.

Die Gruppe wandte sich zu den Aufzügen am Ende des Foyers. Chase bahnte sich auf der Balkonebene einen Weg durch die Operngäste und steuerte ebenfalls die Aufzüge an.

Eine Aufzugtür öffnete sich, die vier Bodyguards traten heraus und gaben den Weg frei, gefolgt von Yuen und Sophia. Chase trat vor. Einer der Gorillas verstellte ihm den Weg …

»Eddie!«, rief Sophia.

Yuen erstarrte und musterte ihn misstrauisch. »Mr. … Chase, nicht wahr?«, sagte er langsam.

Der Bodyguard trat zurück und machte Chase den Weg frei.

»Das ist ja eine Überraschung.«

»Ich bin ein großer Opernfan«, sagte Chase. »Ich lasse keine der großen Vorstellungen aus.«

Yuens Misstrauen vertiefte sich. »Es ist ein weiter Weg von New York hierher.«

»Ich komme viel herum. Aber es freut mich, dass ich Sie treffe, denn ich möchte mich bei Ihrer Frau entschuldigen.« Er wandte sich an Sophia. »Ich war … neulich ein wenig grob. Das tut mir leid.«

»Danke«, erwiderte sie. »Wir hatten in der Vergangenheit ein paar Probleme, aber ich möchte nicht, dass du noch länger böse auf mich bist.«

»Das bin ich nicht. Ganz und gar nicht. Wo sitzt ihr?«

»Loge Nummer eins«, antwortete Sophia. »Die besten Plätze im ganzen Haus.«

»Ich muss leider mit den billigeren Plätzen vorliebnehmen. Aber vielleicht treffen wir uns ja später.«

»Wir fahren gleich nach der Vorstellung heim«, erklärte Yuen.

»Schade. Dann vielleicht ein andermal?«

»Es wäre wirklich ein großer Zufall, wenn wir uns erneut begegnen würden.« Yuen nickte seinen Leibwächtern zu, die Chase daraufhin abdrängten. »Wir müssen unsere Plätze einnehmen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Mr. Chase.«

»Die Oper geht mir über alles. Ach, übrigens, Sophia … hübsche Schuhe.«

Sie blieb stehen und stellte den rechten Schuh herausfordernd auf die Spitze. »Ja, nicht wahr?«

»Ziemlich hohe Absätze. Wie hoch sind die eigentlich, zwölf Zentimeter?«

Sophia nickte.

»Die sind bestimmt nicht gut für deine Füße. Du solltest sie ausziehen, wenn du Platz genommen hast.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie Orthopäde sind, Mr. Chase«, sagte Yuen schneidend. »Oder doch wohl eher Schuhfetischist?«

»Hey, jedenfalls sind sie praktisch, wenn man an ein hohes Regal rankommen muss.« Chase grinste Yuen an, doch der verzog keine Wimper. »Jedenfalls hab ich mich gefreut, dich wiederzusehen.«

»Ich auch«, erwiderte Sophia leise, als Yuen sie weggeleitete.

Als Chase im Parkett Platz genommen hatte, sah er auf dem Sitzplan im Programmheft nach, wo genau sich Yuens Loge befand. Bis unmittelbar vor Beginn der Vorstellung hatte er sich im Foyer aufgehalten, und währenddessen waren zwei von Yuens Bodyguards die Treppe heruntergekommen; offenbar machten sie sich nichts aus Opern. Wenn er Glück hatte, hielten sich im Augenblick nur zwei Bewacher in Yuens Loge auf.

Dann waren da noch die beiden Gorillas auf dem Gang, doch mit denen würde er schon fertigwerden.

Zwanzig Minuten nach Beginn der Vorstellung hielt Chase den Zeitpunkt für gekommen. Er erhob sich und zwängte sich unter den missbilligenden Blicken seiner Sitznachbarn durch die Sitzreihe, dann betrat er das Foyer und ging die Treppe hoch. Wie er gehofft hatte, waren die Angestellten vom Gang verschwunden.

Blieben noch die beiden bewaffneten Aufpasser.

Chase spähte um die Ecke. Sie standen unmittelbar vor dem Eingang von Yuens Loge. Der eine lehnte neben einer großen Löschschlauchtrommel an der Wand und wirkte unendlich gelangweilt, während der andere seinen Hemdkragen befingerte. Chase wusste genau, wie ihm zumute war.

Er knöpfte die Smokingjacke auf und trat um die Ecke.

Oder vielmehr, er taumelte aus der Deckung hervor. Die beiden Aufpasser strafften sich und musterten ihn wachsam. Beide waren mit Funkgeräten ausgerüstet – von ihren Ohrstöpseln liefen Spiralkabel den Hals hinunter.

»Ha-hallo, Leute!«, lallte Chase. »Könntet ihr mir vielleicht helfen, wär das drin? Hab ’n bisschen zu viel getrunken und die Orientierung verloren. Ich such die Klos, aber die Schilder sind alle chinesisch!«

Einer der Bodyguards deutete mit seinem Wurstfinger auf ein Schild an der Wand. Es war chinesisch und englisch beschriftet, außerdem waren die internationalen Symbole für Männer und Frauen abgebildet.

Chase blinzelte erstaunt. »Oh, das hier ist ja englisch! Verdammter Mist, muss wohl besoffener sein, als ich dachte. Danke, Kumpel.« Er lächelte einfältig.

Die Gorillas grinsten zurück – dann rammte Chase dem ersten Mann die Faust ins Gesicht.

Der kippte bewusstlos nach hinten. Aus seiner zerschmetterten Nase spritzte Blut. Der andere glotzte erst dumm und fummelte dann wie wild an seinem Sakko herum. Er rief etwas auf Chinesisch – da warf Chase sich auf ihn und schleuderte ihn gegen die Wand. Er packte das Sakko und riss den unter dem Revers befestigten Sender ab. Ein Kabel löste sich, als er ihn auf den glänzenden Marmorboden schmetterte. Gleichzeitig versetzte er ihm mit der anderen Faust einen Nierenschlag.

Das Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerzen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, Chase einen Schwinger auf die Schläfe zu verpassen.

Chase geriet ins Taumeln, diesmal allerdings ohne Vorsatz. Wutentbrannt rammte er die Schulter gegen die Brust des Aufpassers und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass diesem die Luft aus der Lunge gepresst wurde.

Ehe der Mann wieder Luft bekam, nahm Chase ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn den Gang entlang. Mit einem dröhnenden Knall und einer solchen Kraft donnerte Chase den Kopf des Mannes gegen die rote Schlauchtrommel, dass eine Delle im Metall zurückblieb. Bewusstlos sackte der Aufpasser zusammen.

Chase packte die schwere Messingtülle und wickelte mehrere Meter Gummischlauch ab. Er schwenkte die Tülle um den Kopf seines Opfers, immer schneller und in immer weiterem Radius.

Die Logentür wurde geöffnet – und einer von Yuens Gorillas von der Tülle am Kiefer getroffen. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass der bullige Mann unwillkürlich einen Salto rückwärts vollführte. Blut und Zahnsplitter spritzten durch die Luft.

Im Foyer wurde laut gerufen. Chase blickte sich um. Jemand kam die Treppe hochgerannt; Yuens Bodyguards waren aufmerksam geworden.

Und in der Loge war noch ein weiterer Mann.

Chase senkte den erhobenen Arm und ließ die Schlauchtülle dicht am Boden kreisen. Der zweite Bodyguard sprang über seinen verletzten Kameraden hinweg und zog die Waffe …

Der Schlauch wickelte sich um seine Fußknöchel.

Der Mann stolperte, suchte Halt und verlor kostbare Sekunden: Ehe er seine Waffe ziehen konnte, warf Chase sich bereits gebückt auf ihn, rammte ihn in Hüfthöhe und warf ihn sich auf die Schulter. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, stürmte er mit seiner Last in die dunkle Loge, schoss an Yuen und Sophia vorbei, die ihn erschreckt musterten, und warf den Bodyguard über die Logenbrüstung.

Als der Löschschlauch sich mit erschreckender Geschwindigkeit entrollte, stieß der Bodyguard einen schrillen Angstschrei aus …

Als der Schlauch sich schließlich komplett entrollt hatte und wie eine Gitarrensaite zu vibrieren begann, brach der Schrei unvermittelt ab. Chase blickte über die Brüstung. Der Kopf des Bodyguards baumelte wenige Zentimeter über dem Parkett. Die Opernaufführung ging weiter, denn die Sänger und Musiker waren von den Scheinwerfern geblendet und konnten nicht erkennen, was im Publikum vorging – allerdings wurde verärgert gezischelt.

Chase wandte sich um. Sophia musterte ihn bestürzt, während sich in Yuens Miene Verblüffung und wachsender Zorn widerspiegelten.

»Sophia, steh auf«, befahl Chase.

Sie gehorchte.

Mit einer schnellen Bewegung legte er sie sich über die Schulter, dabei fiel ihm auf, dass sie immer noch die Stöckelschuhe anhatte. Fluchend näherte er sich rückwärtsgehend der Brüstung. »Halt dich an mir fest und lass auf keinen Fall los«, wies er sie an.

Sophia klammerte sich an ihn. »Was hast du vor …?«

Er wickelte sich den Löschschlauch um den rechten Arm und hielt ihn von der Brüstung ab – dann warf er sich über das Geländer.

Mit einem ratschenden Geräusch glitt Chase an dem Schlauch aufs Parkett, die Reibungswärme spürte er durch den Ärmel hindurch.

Sophia schrie auf, als sie auf den am Schlauch baumelnden Bodyguard zustürzten …

Chase klemmte sich den Schlauch zwischen die Beine und setzte mit den Füßen auf den nach oben weisenden Schuhsohlen des Bodyguards auf. Er knickte in den Knien ein, um den Aufprall abzufedern, dann rief er: »Achtung!«, löste den Arm aus der Schlauchschlinge und ließ sich die letzten beiden Meter auf den Boden fallen. Er spürte, wie Sophias Bauchmuskeln sich vor dem Aufprall anspannten, ihre Körperwärme strahlte auf seine Wange aus.

Alte Erinnerungen …

Sie setzten auf dem Boden auf. Sophia schnappte nach Luft. Unter den entsetzten Blicken der Operngäste blickte Chase zum Hinterausgang. Von oben rief jemand etwas. Yuen beugte sich über die Brüstung und zeigte auf sie hinunter. Chase salutierte frech, dann rannte er mit der geschulterten Sophia den Mittelgang entlang. Aus seinem rechten Ärmel quollen kleine Rauchfahnen. Der versengte schwarze Futterstoff hatte sich braun gefärbt. Hoffentlich hatte Mei für den Smoking kein Pfand hinterlegt, denn das würde sie bestimmt nicht zurückbekommen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er Sophia.

»Ja!«, antwortete sie atemlos. »Das … das hat mich irgendwie an unsere erste Begegnung erinnert!«

»Ja, aber damals hatte ich ein Maschinengewehr dabei, und es waren keine Zivilisten in der Nähe, auf die ich Rücksicht nehmen musste. Pass auf deinen Kopf auf!« Er wandte sich seitlich, rammte die Doppeltür mit der rechten Schulter und gelangte ins hell erleuchtete Foyer. Vor seiner Brust baumelten Sophias Beine; ihre Pfennigabsätze glitzerten. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst die verdammten Schuhe ausziehen!«, knurrte er.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich wie ein tobendes Rhinozeros aufführen würdest!«, erwiderte Sophia, als er mit ihr zum Ausgang eilte. »Ehrlich gesagt, habe ich ein subtileres Vorgehen erwartet!«

»Du kennst mich wirklich nicht …«, grinste Chase.

Von oben wurde laut gerufen. Die beiden noch einsatzfähigen Bodyguards kamen mit angelegten Waffen die Treppe heruntergestürmt. Die wenigen Menschen im Foyer schrien auf, als sie die Pistolen sahen, und rannten zum Ausgang.

»Zum Teufel! Die werden doch nicht das Risiko eingehen, dich anzuschießen?«

»Das will ich nicht hoffen!«

»Dann sag ihnen, sie sollen nicht schießen!« Er blickte sich um, und Sophia rief den beiden Männern etwas auf Mandarin zu. Sie befanden sich in der Mitte des Foyers, die Bodyguards bereits in ihrer unmittelbaren Nähe …

»Setzen Sie Lady Sophia ab!«, rief einer der Männer mit starkem Akzent. Sophia hatte Erfolg gehabt; sie hatten die Waffen zwar nicht eingesteckt, zielten aber nicht mehr auf ihn.

»Holt sie euch doch!«, brüllte Chase, drehte sich zu ihnen herum und streckte den rechten Arm vor, um Sophias Gewicht auf seiner Schulter auszubalancieren. Die beiden Angreifer versuchten, ihn von zwei Seiten in die Zange zu nehmen. »Machst du noch Kampftraining?«, fragte er.

»Ja, warum?«, erwiderte sie verwundert.

»Weil du jetzt meine Waffe bist! Achtung …«

Der erste Bodyguard kam herangestürmt. Chase wirbelte herum – dann traf Sophias Fuß den Angreifer im Gesicht, und die schwere Plateausohle krachte gegen seinen Kiefer. Der Kopf des Mannes ruckte zur Seite, und er brach blutüberströmt zusammen.

»Gut gemacht!«, lobte Chase und wandte sich dem zweiten Bodyguard zu. Der Mann hatte sich von der anderen Seite genähert, hielt aber unvermittelt an, als ihm klar wurde, dass Sophia dem Entführer half. Er hob die Waffe.

Chase drehte sich schneller und hoffte, dass Sophia noch immer so reaktionsstark wie früher war. Und das war sie tatsächlich, denn als sie begriff, was er vorhatte, ließ sie den teuer beschuhten Fuß vorschnellen …

Die Waffe des Bodyguards flog in hohem Bogen durch die Luft und schlitterte über den Marmorboden. Der Mann glotzte verwundert die Spitze des Absatzes an, der sich gerade durch seine Hand gebohrt hatte. Als Sophia das Bein anwinkelte und den Absatz herauszog, spritzte ein wenig Blut aus dem Loch in der Hand des Mannes. Er heulte auf, verstummte aber unvermittelt, als Chase ihm die Faust ins Gesicht schlug und ihn flach auf den Rücken warf.

»Bist du jetzt froh, dass ich die Schuhe anbehalten habe?«, fragte Sophia.

»Okay, der Punkt geht an dich«, erwiderte Chase und trabte zum Ausgang.

»Wenn du ihn einfach erschossen hättest, wäre es viel einfacher gewesen.«

»Ich habe keine Waffe dabei«, räumte Chase ein.

»Was?«, sagte Sophia ungläubig. »Warum das denn nicht?«

»Ich will damit aufhören, Leute abzuknallen. Das zieht zu viel Papierkram nach sich.«

»Seit wann scherst du dich denn um Papierkram?«

»Ich habe mein Leben geändert!« Mit dem Fuß stieß er eine der Glastüren auf, eilte ins Freie und blickte sich nach eventuellen Verfolgern um. Über die Schulter sah er Yuen die Treppe herunterstürmen und wie der Bodyguard, den Sophia mit dem Fuß am Kopf getroffen hatte, sich wieder aufrappelte.

Jemand hupte hektisch. Ein Taxi schoss über den Vorplatz auf den Eingang des Grand Theatre zu. Fußgänger spritzten auseinander.

»Das ist unser Fluchtfahrzeug!«, erklärte er Sophia und winkte Mei zu, als das Taxi mit quietschenden Reifen vor ihnen hielt. Schnell öffnete er die hintere Tür, bückte sich und setzte Sophia mit klickenden Absätzen auf dem Pflaster ab. »Steig ein!«, sagte er, jetzt ganz geschäftsmäßig. Denn er beobachtete durch die riesige Glasfassade, wie Yuen im Grand Theatre seine Truppen sammelte; der Bodyguard half dem zweiten Mann auf die Beine, ein dritter kam vom Parkett herunter.

Hektisch schob Chase Sophia ins Taxi und hechtete ihr hinterher. Mei gab Gas, ehe er auch nur die Tür zuziehen konnte. Mit durchdrehenden Reifen schoss der Wagen davon.

Vorsichtig streckte Chase den Kopf hoch und blickte durchs Heckfenster.

»Duckt euch!«, rief er dann hektisch und schirmte Sophia mit dem Körper ab. Yuen war mit einem seiner Leute vor das Theater getreten, und der Bodyguard legte gerade die Waffe an.

Chase zählte insgesamt vier Schüsse, doch keiner davon traf das davonrasende Taxi.

»Gut, dass der Wagen nicht mir gehört!«, rief Mei und steuerte das Taxi auf einen Grünstreifen. Sie holperten darüber hinweg, dass die Rasenstücke neben ihnen nur so stoben, und bretterten weiter über einen gepflasterten Weg. Passanten brachten sich in Sicherheit und riefen ihnen Beschimpfungen hinterher, während Mei den Wagen erneut wendete und sich auf der Straße in eine Kolonne gleichartiger Taxis einreihte.

Chase blickte durchs Heckfenster. Der wutschäumende Yuen zeichnete sich vor der hell erleuchteten Glasfassade des Foyers ab – dann wurde er von Bäumen verdeckt. »Okay, gute Arbeit, Mei.«

»Das war doch keine große Sache. Du solltest mich erst mal sehen, wenn ich dringend zum Pinkeln nach Hause muss!« Sie musterte Sophia im Rückspiegel. »Dann hast du deine Freundin also gerettet? Hallo, ich bin Mei.«

»Sophia Blackwood«, sagte Sophia. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen!«

Verwirrung zeichnete sich in Meis Miene ab. »Sophia? Aber ich dachte …« Sie blickte sich zu Chase um. »Ist das die Frau, von der du mir erzählt hast und die du …«

»Nein«, entgegnete Chase mit Nachdruck. »Fahr zum Bahnhof. Je eher wir von hier wegkommen, desto besser.«

»Wir müssen erst noch zur Firmenzentrale meines Mannes«, sagte Sophia. Es war ein Befehl, keine Bitte.

Chase hob eine Braue. »Wieso das?«

»Ich kann das Land sonst nicht verlassen – Richard verwahrt meinen Pass in seinem Bürosafe.« Als Chase ungläubig dreinschaute, fuhr sie fort: »Ich habe dir doch geschrieben, dass er mich überwacht.«

»Und das hast du dir gefallen lassen? Ausgerechnet du

»Können wir nicht einfach hinfahren, bitte?«, bat Sophia flehentlich. »Außerdem geht es nicht nur um meinen Pass. Ich könnte auf seine privaten Computerdateien zugreifen – und dir den Beweis liefern, dass er mit dem Untergang der SBX-Plattform zu tun hatte.«

»Und das konntest du nicht früher erledigen?«

»Glaubst du etwa, ich hätte das nicht schon getan, wenn ich Gelegenheit dazu gehabt hätte?«, fauchte Sophia.

Es entstand ein kurzes, eisiges Schweigen. Dann fuhr sie fort: »Tut mir leid, Eddie, du ahnst gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Du weißt aber nicht, wie Richard tickt. Er ist so … misstrauisch. Paranoid, könnte man sagen. Und jetzt, da ich weiß, worauf er sich eingelassen hat, kenne ich auch den Grund.« Sie berührte seine Hand. »Ich brauche nur zehn Minuten, um die Daten zu kopieren.«

Chase blickte nachdenklich auf ihre Hand nieder. Dann drückte er sie kaum merklich und beugte sich vor. »Okay, Mei, wir machen einen kleinen Umweg. Bring uns zur Ycom-Zentrale.«