13
Ah! Langsamer, langsamer!«, keuchte Nina, deren Knöchel schmerzhaft pochte, als sie mit Chase den Hang hinuntereilte.
»Na gut, gehen wir’s locker an«, sagte Chase mitleidslos. »Du hast ja recht, das Wetter ist gut, die Stimmung noch besser und überhaupt: Wir sollten die Aussicht genießen und ein Picknick machen. Zum Frühstück gab’s ja schließlich nur eine Verfolgung durch Auftragskiller und die halbe botswanische Armee, da sollten wir wirklich mal eine kleine Rast einlegen. Kein Grund zur Eile!«
Nina bedachte ihn mit einem finsteren Blick und atmete tief durch die Nase ein, um sich zu beruhigen. Die Technik funktionierte allerdings nicht. »Weißt du was, Eddie«, sagte sie mit harter Stimme, »ich hab die Schnauze voll von deinem Sarkasmus.«
»Ach, tatsächlich?«, erwiderte er. Sarkastisch, was auch sonst.
»Ja, allerdings! Seit Tagen verhältst du dich wie ein komplettes Arschloch – nein, wenn ich’s recht bedenke, schon seit Wochen.« Sie schnaubte und winkte ab. »Eigentlich schon seit Monaten! Was zum Teufel ist los mit dir?«
»Mir mir ist gar nichts los«, erwiderte Chase. In seiner Stimme schwang Wut mit. »Wenn hier jemand das Arschloch gibt, dann du.«
»Ich?«, rief Nina verletzt. »Was habe ich denn getan, bitte schön?«
Chase schnaubte. »Das ist eine lange Liste.«
»Wie wär’s, wenn du es mir einfach sagen würdest, statt hier blöd herumzuorakeln? Ich meine, ich merke doch, dass etwas an dir nagt, also rede endlich! Weih mich ein!«
»Willst du’s wirklich wissen?«
»Ja, ich will! Na los, sag mir, weshalb ich im Gegensatz zur heiligen Sophia eine Unperson bin.«
»Keine Bange, es kommt schon noch alles zur Sprache«, sagte Chase mit einem spöttischen Lächeln. »Darum geht’s doch, nicht wahr? Du willst nicht mehr mit mir zusammen sein, weil ich nicht in deine Hochglanzwelt mit Luxusbüros, tuntigen Wohnungen und Küsschen-Küsschen passe? Zu all den reichen Schnöseln und den mächtigen Entscheidern. Das ist es doch, oder? Aber sobald Sophia auftaucht, kriegst du dich nicht mehr ein vor Eifersucht!«
»Wann habe ich jemals gesagt, dass ich nicht mehr mit dir zusammen sein will? Wann?« Ninas Stimme zitterte vor Empörung.
Chase gab keine Antwort.
Wütend fuhr sie fort: »Außerdem ist Sophia nicht einfach nur ›aufgetaucht‹. Du bist verschwunden und um die halbe Welt geflogen, um sie zu holen – und dann hast du sie auch noch in unsere Wohnung gebracht!«
»Sie hat in Schwierigkeiten gesteckt und brauchte meine Hilfe. Sie war mal meine Frau, Herrgott noch mal. Was hätte ich denn tun sollen?«
Ninas Augen verengten sich. »Wie wär’s, wenn du nicht immer gleich springen würdest, sobald sie mit dem Finger schnippt? Sie ist deine Ex-Frau, Eddie. Deine Ehemalige. Und du bist ihr nichts schuldig.«
Chase versteifte sich, und sein Tonfall wurde abwehrend, als er antwortete. »Nur weil du Historikerin bist, glaubst du auf einmal, dass du Expertin für meine ganz persönliche Geschichte bist, was?«
»Ich weiß, du redest nicht gern drüber, aber ein paar Dinge über deine Vergangenheit sind mir durchaus bekannt. Zum Beispiel weiß ich, weshalb ihr euch getrennt habt. Das hat Hugo mir erzählt.«
»Ach, tatsächlich? Der konnte noch nie sein Maul halten.«
»Wenn du das sagst, muss es wohl ironisch gemeint sein. Er hat mir jedenfalls erzählt, deine Frau habe eine Affäre gehabt. Mit Jason Starkman.«
»Ha!«, bellte Chase triumphierend. »Leider falsch. Jason hat mir nämlich vor seinem Tod gesagt, dass nichts gewesen sei zwischen ihnen, und sie hat das mittlerweile bestätigt.«
»Soll das heißen, du bist froh, dass sie dich angelogen hat, um eure Ehe zu beenden?«, fragte Nina.
Er wandte den Blick ab.
»Und ich wette, selbst wenn sie dich hinsichtlich Jason Starkman belogen hat, gab es noch andere«, sagte sie triumphierend.
»Weibliche Intuition?«, höhnte er.
»Aber ich hab doch recht, oder? Sie hat dich geheiratet, weil du ihr das Leben gerettet hast, und als die erste Euphorie verflogen war und ihr Vater deutlich gesagt hat, was er von dir hielt, kam sie zu dem Schluss, dass sie einen Fehler gemacht hat. Und hat sich bemüht, das Ganze möglichst rasch zu beenden. Ganz gleich, wie sehr sie dich dabei verletzt hat.«
Chase schwieg und fixierte die ferne Hütte.
»Eddie, ich hab mich während des Flugs mit ihr unterhalten. Sie hat mir praktisch ins Gesicht gesagt, dass ihr das gute Verhältnis zu ihrem Vater und ihre Geschäfte wichtiger gewesen sind als eure Beziehung. Es ist mir schleierhaft, weshalb du Sophia unbedingt verteidigen willst.«
Chase biss die Zähne so fest zusammen, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten. »Vielleicht, weil ich sie geliebt habe«, knurrte er leise. »Und weißt du was? Als wir zusammen waren, da ging richtig was ab zwischen uns. Scheiße, es war immer Leben in der Bude, und unsere Gemeinsamkeit stand im Mittelpunkt.«
»Und das heißt?«
»Das heißt«, sagte Chase und wurde lauter, »dass Sophia tatsächlich lebt, anstatt nur zu lesen, was ein Typ geschrieben hat, der vor tausenden Jahren gestorben ist.«
»Ich lebe auch in vollen Zügen!«
»Ach ja? Dann sag mir doch mal, wann du das letzte Mal dein Büro verlassen und dich in der richtigen Welt umgesehen hast? Wann hast du zuletzt etwas unternommen, was spontan, romantisch oder sexy gewesen wäre?«
»Ho-ho-ho«, sagte Nina mit einem vorwurfsvollen Lachen, »jetzt kommen wir der Sache schon näher! Es läuft also auf Sex hinaus, ja? Auf den Frust, den du aufgestaut hast, weil du dich in einem Büro eingesperrt fühlst, anstatt in der Weltgeschichte herumzugondeln und Leute zu erschießen? Und natürlich bin ich schuld an diesem Frust, weil ich Karriere gemacht habe und Verantwortlichkeiten habe, anstatt ständig deine sexuellen Launen zu befriedigen!« Sie fasste sich theatralisch an die Brust. »Wie kann ich es nur wagen!«
»Zumindest wusste Sophia, wie man im Bett Spaß hat«, erwiderte Chase scharf. »Ja, ich war nicht ihr Erster und auch nicht ihr Letzter, aber weißt du was? Erfahrung zahlt sich aus! Auf den Ratgeber ›Sex für Dummies‹ konnte sie zumindest verzichten!«
»Das kann ich auch!«, kreischte Nina empört.
»Ob du’s glaubst oder nicht, aber es gibt mehr als drei Stellungen! Und Sophia kannte Stellungen, die nicht mal in dem beschissenen Kamasutra stehen! Glaubst du etwa, nur weil sie eine Lady ist, wäre sie spröde und verklemmt? Sie war ein Tier im Bett.«
»Wenn sie so toll ist«, schäumte Nina, »wieso heiratest du sie dann nicht einfach? Aber halt! Das hast du ja schon hinter dir! Und es hat sich als Possenspiel herausgestellt, stimmt’s? Ihre Ladyschaft und der Soldat, der neue Gutserbe!«
»Daraus habe ich mir nichts gemacht«, wandte Chase ein.
Nina hob die Brauen. »Ach, wirklich? Weißt du, für jemanden, der glaubt, er führe sein Leben so frei wie die Vöglein auf dem Feld, reagierst du ganz schön heftig, wenn sie in der Nähe ist.«
»Bockmist.«
»Aber sicher doch. Und zwar in jeder Beziehung. Deine Haltung wird straffer, du fluchst weniger, sogar dein Akzent verändert sich! Wenn sie da ist, versuchst du so aufzutreten wie Hugh Grant! Du gestehst es dir vielleicht nicht gerne ein, aber du tust alles, wirklich alles, damit sie dich akzeptiert. Und warum? Weil du tief in deinem Innern glaubst, sie wäre etwas Besseres als du.«
Chase bleckte die Zähne. »Verfickte Scheiße noch mal. So, jetzt fluche ich, und was zum Teufel sagt dir das?«
»Das kann ich dir ganz genau sagen«, erwiderte Nina kühl. »Das ist ein Abwehrmechanismus. Auch das hat Hugo mir gesagt. Du wirst immer dann grob und aggressiv, wenn du dich emotional hilflos fühlst und auf Distanz gehen willst. Ich nehme an, das ist so ziemlich das Einzige, was du von der Scheidung zurückbehalten hast.«
»Das ist doch Blödsinn!«, fauchte Chase. »Hirnrissiger Quatsch.«
»Wie kommt es dann, dass ich in letzter Zeit viel mehr Gefluche zu hören bekomme als sonst? Eddie …« Nina suchte seinen Blick, und ihr Tonfall wurde ein wenig milder. »Du warst im Krieg, hast gegen Terroristen gekämpft, und es wollten dir so viele Leute ans Leder, dass du wahrscheinlich schon den Überblick verloren hast, bei wem du alles auf der Abschussliste stehst … und da fürchtest du dich davor, mit mir zu reden?«
Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Ich fürchte mich vor gar nichts. Scheiß drauf. Und weißt du was? Ich scheiß auf dich.«
Ehe Nina ihrer Bestürzung Ausdruck verleihen konnte, fuhr er in einem solch verletzenden Ton, wie sie ihn noch nie von ihm gehört hatte, fort: »Und weißt du was? Wenn ich uns hier rausgeholt habe, ziehe ich los und befreie Sophia. Wenn ich Glück habe, verliebt sie sich wieder in mich. Und wenn nicht, dann weiß ich wenigstens, dass sie ihr Leben nicht mit einer idiotischen, sinnlosen Obsession vergeuden wird.«
»Wie kannst du es nur wagen …«
Chase hielt an.
Nina blieb ebenfalls stehen.
Wortlos sah er sie an, und als er fortfuhr, war seine Stimme schneidend. »Dabei ist es nicht mal eine richtige Obsession! Zum Teufel noch mal, Nina! Du hast dich doch nur deshalb auf das verschissene Grab des Herkules gestürzt, weil du nach der Entdeckung von Atlantis plötzlich eine innere Leere verspürt hast! Da kam dir das Grab gerade recht. Du hattest einen neuen Job, du hattest mich, aber das hat dir offenbar nicht gereicht. Weil du keinem Mythos mehr hinterherjagen konntest. Dein Leben lang hast du dich bemüht, deinen Eltern nachzueifern, denn die hatten ebenfalls eine Obsession, und sieh dir an, wohin sie das gebracht hat – sie wurden in einer Höhle erschossen.«
Nina schlug nach ihm. Es war keine Ohrfeige, sondern ein Boxhieb ins Gesicht. Es tat zwar weh, doch vor allem war er überrascht. »Du bist ein Arschloch, Eddie!«, fauchte sie. In ihren Augen standen Tränen. »Zum Teufel mit dir! Du willst Sophia? Nur zu, dann nimm sie dir. Verbieg dich und lass dich weiter von ihr verachten. Mir ist es egal.« Sie wandte sich ab und humpelte den Hang hinunter. Bei jedem Schritt flammte im Fuß ein stechender Schmerz auf, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen.
»Nina!«, rief Chase ihr nach. »Nina! Scheiße.« Er rannte los und holte sie rasch ein.
»Lass mich in Ruhe, Eddie«, schrie sie und schüttelte ihn zornig ab, als er sie stützen wollte.
»Das geht im Moment nicht, diese Eifersuchtsnummer, okay?«, sagte er und schüttelte sie leicht. »Wir haben ein Problem. Männer mit Waffen, erinnerst du dich? Hör mal, lass uns erst mal von hier verschwinden, und dann …«
In diesem Moment wurde Chase bewusst, dass er sich über seine wahren Gefühle im Unklaren war. Zorn und Verwirrung brodelten in ihm. Er klang unsicher, als er fortfuhr: »Wir verschwinden, und dann – dann können wir … dann sehen wir weiter.« Er zeigte zur Hütte. »Komm, es ist nicht mehr weit.«
Nina wollte ihm nicht in die Augen sehen und fixierte stattdessen die Hütte. Auch sie konnte ihre Gefühle im Augenblick nicht sortieren. Sie fühlte sich verraten und gedemütigt, was ihr Bedauern jedoch nicht zu überdecken vermochte.
»Na schön«, sagte sie schließlich und ließ sich widerwillig von ihm stützen. »Gehen wir.«
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der Hütte um eine Rangerstation, die den Wildhütern des Okavango-Reservats als Arbeitsplatz und zeitweilige Unterkunft diente. Das Boot am Steg war ein Sumpfgleiter, dessen Heckpropeller durch ein Drahtgitter geschützt war. Die Steuervorrichtung sah wenig vertrauenerweckend aus, fand Chase. Er kannte sich mit diesem Bootstyp aus; die Dinger machten einen Heidenlärm und ließen sich nur schwer manövrieren, allerdings konnte man sie aufgrund ihres geringen Tiefgangs auch in Sümpfen einsetzen, in denen ein normales Boot Schwierigkeiten gehabt hätte.
Der Sumpfgleiter deutete darauf hin, dass die Rangerstation besetzt war. Diese Vermutung bestätigte sich, als Chase an die Tür klopfte. Ein älterer Botswaner mit einem ansehnlichen Trommelbauch unter einem khakifarbenen Kurzarmhemd und Shorts öffnete ihm. Er wirkte überrascht, Besuch zu bekommen, vor allem so lädiert aussehenden.
»Hallo?«, begrüßte er Nina und Chase vorsichtig und sah sie fragend an.
»Hi«, sagte Nina und humpelte, gestützt von Chase, in die Hütte. Aus einem Radio tönte Musik. »Wir sind ja so froh, Sie anzutreffen! Wir hatten einen Unfall und sind sozusagen gestrandet. Wäre es möglich, dass Sie uns von hier wegbringen? Ähem, einigermaßen schnell sogar?«
»Sind Sie verletzt?«, fragte der Ranger, sah sie genauer an und rollte erschrocken mit den Augen. Eine Antwort erübrigte sich. »Warten Sie, ich hole den Verbandskasten«, rief er hektisch und stürzte davon.
»Wir sind okay; es sieht schlimmer aus, als es ist«, rief Chase ihm erfolglos hinterher. Der Mann öffnete bereits einen Schrank, nahm einen Verbandskasten heraus und bedeutete ihnen, sich zu setzen.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Unser Truck hat sich überschlagen«, erklärte Nina wahrheitsgemäß und setzte sich. »Also, wie sieht es mit einer Mitfahrgelegenheit aus?«
Der Ranger öffnete den Kasten und nahm ein Fläschchen Antiseptikum und Verbandsmaterial heraus. »Der nächste Ort, wo man Ihnen helfen könnte, ist die Diamantmine etwa neun Kilometer von hier.«
»Wir möchten eher in die andere Richtung. So weit wie möglich von der Mine weg«, sagte Nina mit schiefem Grinsen.
Der Ranger musterte sie forschend.
Nina bemühte sich um eine ebenso plausible wie erschöpfende Erklärung – die Zeit rannte ihnen davon. »Weil, äh, wir moralische Bedenken gegen die Diamantenförderung haben. Sie wissen schon, die Kartelle, die Preisabsprachen, Blutdiamanten, all das. Diamanten, das geht gar nicht! Jawohl, deshalb.«
»Das werd ich mir merken«, flüsterte Chase.
»Halt du den Mund«, zischte Nina ihm zu und zuckte zusammen, als der Ranger die Stirnverletzung mit Desinfektionsmittel abtupfte. »Autsch.«
»In Botswana gibt es keine Blutdiamanten«, erklärte der dicke Mann gekränkt.
Chase grinste. »Hast du gehört, Nina?«, sagte er herablassend. »Ich hab dir doch gesagt, das ist der falsche Ort, um gegen Blutdiamanten zu protestieren, aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Frauen«, setzte er an den Ranger gewandt hinzu und zuckte seufzend mit den Schultern.
Der Dicke nickte mitfühlend.
»Hey!«, fauchte Nina.
Der Ranger brachte ein Heftpflaster über der Schnittwunde an. Er wollte sich gerade Chases verletzter Wange zuwenden, als die Musik im Radio unterbrochen wurde und der Moderator mit getragener Stimme sagte: »Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Meldung.«
Nina und Chase sahen einander vielsagend an.
Es erklang ein dramatischer Jingle, dann ertönte die Stimme eines Nachrichtensprechers: »Am Vormittag wurde ein Anschlag auf Präsident Molowe verübt, bei dem Michael Kamletese, der Minister für Industrie und Handel, ums Leben kam. Der Präsident nahm an der Veranstaltung einer Diamantmine in der Nordwestprovinz teil. Bei den Attentätern handelt es sich um Weiße, einen Mann und eine Frau in den Dreißigern. Sie konnten entkommen, doch die Sicherheitskräfte haben sie als Edward Chase und Nina Wilde identifiziert …«
Dem Ranger klappte der Mund auf, doch Chase hatte bereits die Waffe gezogen, die er dem toten Wachmann in der Weiterverarbeitungsanlage abgenommen hatte, und zielte auf den konsternierten Mann. »Okay, ganz ruhig, Kumpel.«
»Was?«, stammelte Nina. »Was war das? Wir haben den Handelsminister nicht ermordet, wir haben niemanden ermordet! Was zum Teufel geht da vor?«
»Man hat uns reingelegt«, sagte Chase und stand auf.
Der Ranger starrte mit großen Augen die Waffe an. »Sie, äh, wollen doch wohl keine Dummheiten machen, oder?«, fragte er irritiert.
»Nicht, wenn Sie vernünftig sind. Wo ist der Schlüssel vom Gleitboot?«
»Außerdem bin ich erst neunundzwanzig«, setzte Nina entrüstet hinzu.
»Der Wahrheitsgehalt von Nachrichten ist im Moment nicht unsere größte Sorge«, erwiderte Chase, während der Ranger ihm nervös einen Schlüsselbund reichte. »Haben Sie ein Funkgerät?«
Der Ranger zeigte auf ein Gerät an der Hinterseite des Raums. Ohne die Waffe zu senken, ging Chase hinüber, riss den Netzstecker heraus, warf das Gerät auf den Boden, setzte den Fuß aufs Gehäuse und riss das Kabel heraus. »Okay, setzen Sie sich, Mann. Nina, fessle ihn an einen Stuhl.« Er warf ihr das Kabel zu.
»Der Tag wird immer besser«, murrte Nina, fesselte dem Ranger die Hände auf den Rücken, schlang ihm das andere Ende um die Füße und zog sie unter den Stuhl zurück. »Erst beschuldigt man uns des Mordes, und jetzt haben wir auch noch einen Wildhüter überfallen. Dazu kommt schwerer Diebstahl und wer weiß was noch alles …«
Chase überprüfte die Knoten und zog sie noch etwas fester an.
Der Ranger zuckte vor Schmerz zusammen.
»Das wird nicht lange halten«, sagte Chase zu Nina, als er sie aus der Hütte geleitete, »aber wir sind ja gleich außer Reichweite. Diese Dinger sind ganz schön schnell.«
»Ja, aber wohin sollen wir fahren?«, fragte sie.
Chase überlegte einen Moment, dann schlüpfte er noch einmal in die Hütte und kam mit einer Touristenkarte des Okavangodeltas wieder heraus. »Hey, das ist immerhin besser als nichts«, meinte er, sprang auf den Steg und machte das Boot los.
Nina kletterte vorsichtig an Bord. Der flache Bootsrumpf schaukelte heftig unter ihr, als sie mit ihrem verletzten Bein das Gleichgewicht zu halten versuchte. Da der Propeller und der Fahrersitz erhöht angeordnet waren, wirkte das Boot ausgesprochen kopflastig. »Ist das Ding auch sicher?«
»So sicher wie jedes andere Fahrzeug, in dem wir jemals gesessen haben.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht. »O Gott …«, stöhnte Nina mit gespielter Verzweiflung.
Chase warf die Vertäuung an Bord und kletterte ins Boot. Ein kurzer Check des Motors genügte, dann steckte er den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.
»Achtung, jetzt wird’s laut!«, warnte er Nina, und schon kam der Propeller hinter dem Schutzgitter knatternd auf Touren. Flink kletterte Chase auf den Fahrersitz, schnallte sich fest, setzte die Füße auf die Pedale, legte die Hände auf die beiden langen Hebel, mit denen die Windruder hinter dem Propeller gesteuert wurden, und gab Gas. Das Boot löste sich vom Steg und beschleunigte.
Während der Sumpfgleiter Richtung Norden raste, wechselten Nina und Chase kaum zehn Worte, was nicht nur am Propellerlärm lag. Sie verweigerte ihm sogar den Blickkontakt und zog es vor, stattdessen das vorbeigleitende üppig grüne Sumpfland zu betrachten.
Von dort starrten hunderte von Augenpaaren auf Nina und Chase: Die Bewohner des Okavangos beobachteten interessiert, wie die beiden Fremden den gewundenen Fluss entlangfuhren. Vom morastigen Ufer aus starrten Büffel und Gnus ihnen wachsam nach, und unter ihnen brachten sich funkelnde Fischschwärme im klaren Wasser in Sicherheit.
Der Fluss war jedoch auch von weniger friedfertigen Tieren bewohnt: Chase manövrierte das Boot geschickt und in ausreichendem Sicherheitsabstand um Elefanten und Flusspferde, die ihnen jedoch nur träge nachschauten. Die Krokodile waren weniger apathisch – immer wieder tauchten sie in der Nähe des Bootes aus dem Wasser auf und sahen Nina und Chase skeptisch an – beinahe ebenso skeptisch wie die kleine Leopardenherde, die ihnen am Ufer entlang folgte.
Nina erwiderte die Blicke der lautlosen Raubtiere, doch der Streit mit Chase, der ihr noch wie ein Stein im Magen lag, dämpfte ihr Staunen. Nach einer Weile wandte sie den Kopf. »Wohin fahren wir?«, fragte sie barsch.
Chase ging ein wenig vom Gas, woraufhin der Propellerlärm nachließ. »Weiter nördlich auf der Karte ist ein Dorf mit einer Landebahn eingezeichnet. Dort hat bestimmt jemand ein Telefon – damit können wir TD Bescheid geben, dass sie uns abholen soll«, erklärte er.
Ein Blick in den Himmel zeigte jedoch, dass sein Plan möglicherweise einen Haken hatte: Das fremde Flugzeug war inzwischen bedrohlich viel näher gekommen und flog langsam in nordwestliche Richtung. Er warf Nina die gefaltete Karte zu. »Sieh mal nach, ob wir noch richtig sind.«
Nina faltete die Karte auseinander, die im Fahrtwind flatterte. »Wo sind wir?«
»Rangerstation Nummer 12. Irgendwo links unten.«
Nina orientierte sich auf der Karte. »Hab’s gefunden.« Sie fuhr mit dem Finger die Strecke bis zu einem Dorf mit Flugzeugsymbol ab. »Hast du Nagembe gemeint?«
»Gibt es dort eine Landebahn?«
»Ja.«
»Dann wollen wir da hin. Wie weit ist es noch?«
Nina überprüfte den Maßstab. »Etwa vierzig Kilometer.«
»Dann brauchen wir noch eine knappe Stunde. Ein Kinderspiel.« Chase bemerkte, wie sich Ninas Miene verdüsterte, als sie etwas hinter seinem Rücken bemerkte. »Vielleicht auch nicht …«, fügte er kleinlaut hinzu, als er die drei Speedboote entdeckte, die ihnen hinterherrasten.
Sie holten rasch auf. Allzu rasch für seinen Geschmack – sie waren bereits so nah, dass Chase in einem der Boote Fang ausmachen konnte, dessen Pferdeschwanz im Fahrtwind flatterte.
»Na großartig, ein Killer in Wut!«, stöhnte er und gab Vollgas.