19
Chase wusste, wohin Sophia wollte. Um die Bombe zum Flugzeug zu schaffen, musste sie mit der Seilbahn zum Staudamm fahren.
Die untere Seilbahnstation lag an der Nordwestecke des Fabrikgeländes. Mit quietschenden Reifen wendete er auf der Uferstraße und hielt auf die Station zu. Sie war von den Fabrikanlagen gut zu unterscheiden, ein Turm mit einem hohen Schrägdach.
Er hatte sich nicht geirrt: Ein weißer Van, dessen Hecktür offen stand, parkte direkt davor. Seine Ladefläche war leer, was nur bedeuten konnte, dass die Bombe bereits aufgeladen worden war.
Chase blickte zu dem Seil, das zur oberen Station führte. Im Moment waren keine Kabinen unterwegs. Sophia war also noch hier, und er hatte immer noch eine Chance, sie aufzuhalten.
Hinter ihm flammten Scheinwerfer auf. Ein SUV jagte um eine Ecke. Er war zwar noch ein paar hundert Meter entfernt, doch wenn Chase erst einmal anhielt, würde er ihn schnell einholen.
Auch vor ihm tat sich jetzt etwas – Eduardo, der zweite Bodyguard, tauchte im Eingang der Seilbahnstation auf.
Chase duckte sich, als eine Kugel in die Windschutzscheibe einschlug. Diese überzog sich augenblicklich mit einem Spinnwebmuster von haarfeinen Rissen, sodass er nichts mehr sah. Die Kugel pfiff an ihm vorbei und drang mit einem dumpfen Geräusch in den hinteren Ledersitz ein.
Eine zweite Kugel riss den Rückspiegel aus der Halterung. Glasscherben regneten herab.
Sieben Jahre Pech, dachte Chase, doch einer Person würde das Glück schon wesentlich früher ausgehen, und zwar in weniger als sieben Sekunden …Er riss den Mercedes herum und hielt auf die Eingangsrampe zu.
Eduardo feuerte zwei weitere Schüsse ab. Die eine Kugel traf die Kühlerhaube, die andere ließ die Windschutzscheibe zersplittern.
Eiskalter Wind schlug Chase ins Gesicht. Er wappnete sich – und jagte den Mercedes mit brüllendem Motor die Rampe hoch. Eduardo stand im Eingang und konnte nicht ausweichen …
Als der Wagen ihn rammte, landete er auf der Kühlerhaube, dann erreichte der Mercedes den Eingang und schoss ins Innere der Seilbahnstation.
Chase trat auf die Bremse, doch der Wagen schleuderte bereits auf eine Wand zu – und rammte sie in schiefem Winkel. Eduardo flog von der Kühlerhaube und prallte inmitten von umherspritzendem Blut von der Wand ab.
Gleichzeitig bliesen sich mit einem lauten Knall die Airbags auf. Chase hatte das Gefühl, ein Michelinmännchen habe ihm ins Gesicht geboxt. Trotz des lauten Aufpralls hörte er, wie sein Nasenknorpel knackte.
Noch ein letztes Mal drehte sich der Wagen, bevor er zum Stillstand kam. Als die Airbags erschlafften, konnte Chase sich aufsetzen. Seine Nase pochte. Gebrochen war sie nicht – wie sich das anfühlte, wusste er ganz genau –, doch das Nasenbein war anscheinend gesplittert und würde noch eine ganze Weile schmerzen.
Doch wenn er nicht bald ausstieg, wäre eine schmerzende Nase bald seine kleinste Sorge. In weniger als dreißig Sekunden würden die Verfolger aufgeholt haben …
Eilig packte Chase seine Waffe und kletterte aus dem demolierten Mercedes. Das in Weiß gehaltene Innere der Seilbahnstation war karg und funktional, der einzige Farbtupfer war der rote Blutfleck an der Wand, den Eduardo hinterlassen hatte. Von Sophia – oder der Bombe – war weit und breit nichts zu sehen, allerdings führte eine Treppe nach oben.
Chase eilte die Stufen hoch und gelangte in einen großen, zugigen Raum, der an der einen Seite nach außen hin offen war – er befand sich am Wendepunkt der Seilbahn. Die Kabinen der Gondelbahn wurden jeweils vom Tragseil abgekoppelt, wenn die Passagiere ein- und aussteigen wollten, während die anderen Gondeln weiterfuhren. Zwei kastenförmige Gondeln warteten darauf, wieder ans Seil gekoppelt zu werden.
Eine dritte hatte sich soeben in Bewegung gesetzt. An deren Fenster stand Sophia. Sie lächelte Chase zu und winkte, als die Gondel aus der Station in die mondhelle Nacht hinausglitt.
Chase hob die Waffe und zielte auf ihren Kopf.
Sie rührte sich nicht – und er ebenso wenig. Er brachte es nicht über sich abzudrücken. Was immer sie getan hatte, was immer sie vorhatte, sie war einmal seine Geliebte gewesen, seine Frau … »Scheiße!«, knurrte Chase zornig – auf sich selbst und auf sie.
Die Gondel stieg höher. Mittlerweile war Sophia nur noch eine Silhouette am Fenster. Das Schwirren des Seils war trotz des Rumpelns der Antriebsmaschine deutlich zu hören.
Der SUV hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Gebäude. Chase sprang in die erste wartende Gondel und sah sich um. Neben dem Vorderfenster war ein Tastenfeld angebracht. Der Startknopf war rot markiert.
Er drückte darauf.
Ketten und Zahnräder klirrten. Die Gondel wanderte schwankend um das große horizontale Rad am Ende des Tragseils herum, dann koppelte sie sich mit einem Ruck wieder ans Seil. Die Sperrklinken schnappten ein, und schon begann die Gondel ihren Aufstieg.
Sophias Kabine hatte einen Vorsprung von dreißig Metern, schätzte Chase. Sie würden die obere Station im Zwanzigsekundenabstand erreichen – was bedeutete, dass Sophia vor seinem Eintreffen nicht einmal aussteigen, geschweige denn die Bombe umladen konnte.
Sie blickte sich zu Chase um. Er erwiderte ihr Winken wesentlich unfreundlicher. Sophia neigte den Kopf; damit drückte sie ihren Unwillen aus. Dann hob sie die Hand und zeigte auf seine Gondel.
Oder vielmehr zeigte sie hinter die Gondel.
Chase stürzte ans Rückfenster. Soeben hatte sich eine weitere Gondel an das Seil angeklinkt. Mit drei Wachmännern an Bord, allesamt bewaffnet. Und das nicht nur mit Handfeuerwaffen: Sie hatten Karabiner vom Typ Steyr AUG A3 dabei – und öffneten bereits die Kabinenfenster, um auf ihn zu feuern und seine Gondel in Schweizer Käse zu verwandeln!
Chase spürte am Gewicht seiner Pistole, dass er nur noch einen Schuss hatte. Die Handgranate lag schwer und kalt in seiner Jackentasche, doch selbst wenn es ihm gelänge, sie durch das offene Gondelfenster zu schleudern, würde den Männern immer noch Zeit genug bleiben, ihn abzuknallen.
Er blickte nach vorn. Seine Gondel hatte ein Viertel des Weges zurückgelegt und stieg rasch höher. In höchstens zwei Minuten würde sie die Station erreichen.
Ob es ihm gelingen würde, so lange zu überleben, war jedoch eine ganz andere Frage …
Die Gondel bot zwölf Personen Platz. An den Wänden waren Polstersitze angebracht, und unter der Bank vor dem Heckfenster war die Rettungsausrüstung verstaut.
Um dem Gegner das Zielen zu erschweren, zertrümmerte Chase die Deckenbeleuchtung mit dem Pistolenkolben, dann riss er das Polster der hinteren Sitzbank ab, schob es vor die Vorderseite der Rettungsbox und warf sich daneben auf den Boden.
In diesem Moment barsten die Heckfenster unter dem Kugelhagel der auf Automatikmodus eingestellten AUGs. Das Tack-tack-tack der Kugeln, die die Stahlwand durchlöcherten, hörte sich an, als ginge ein Graupelschauer auf ihn nieder.
»Herrgott noch mal!«, rief Chase und schützte sein Gesicht mit den Armen vor herabregnenden Glasscherben. Die Notausrüstung unter der Sitzbank wurde von den Kugeln zerfetzt, welche die Metallwand der Box und das Sitzpolster durchschlugen – und dann im massiven Holz der Bank stecken blieben.
Bei jedem Treffer ruckte die Bank, doch Chase wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine AUG-Kugel fünf Schutzschichten durchschlug – die Gondelwand, die aufgerollten Seile und die Hängeleiter, die Außenwand der Staubox, das Sitzpolster und die Holzbank –, äußerst gering war. Es war zwar nicht mehr als ein Hoffnungsschimmer – doch er musste sich notgedrungen damit begnügen.
Die Verfolger feuerten Salve um Salve auf die Gondel ab. Sämtliche Fenster waren zerstört, die Wände, die Decke und selbst der Boden waren von Kugeln durchsiebt. Nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt wurde von der Ecke der Sitzbank ein dicker Holzsplitter abgesprengt. Die provisorische Barrikade würde nicht mehr lange standhalten.
Eine kurze Feuerpause trat ein. Die Wachleute luden nach. Dafür würden sie zwar nur wenige Sekunden brauchen, doch in dieser Zeit konnte er nicht viel tun, kalkulierte Chase.
Oder vielleicht doch – er sprang hoch, packte die unterste Sprosse der Hängeleiter, die an der Decke entlangführte, und zog sie zu sich herab. Als das Gewehrfeuer wiederaufgenommen wurde, ließ er sich erneut auf den Boden fallen. Jeder Treffer fühlte sich an, als werde die Bank von einem Eispickel getroffen, und es konnte jeden Moment passieren, dass eine Kugel das Holz durchschlug und sich ihm in den Rücken bohrte …
Plötzlich ruckte die Gondel und schwang am Seil wie ein Pendel. Das überstrapazierte Metall ächzte und quietschte.
Trotz der umherfliegenden Splitter wagte es Chase, die Augen zu öffnen. Sie passten sich rasch an die Dunkelheit an. Im trüben Licht des geisterhaft wirkenden bläulich weißen Mondscheins sah er, wie sich die durchlöcherte Decke bog, während von der Mitte Falten ausgingen wie bei überstrapazierter Küchenfolie.
Die Gondel war im Begriff, sich von der Aufhängung zu lösen! Die Löcher hatten das Metall dermaßen geschwächt, dass es das eigene Gewicht nicht mehr halten konnte und unter dem Dauerfeuer langsam nachgab.
Chase blickte zur Notleiter. Er hatte die Gondel erst im letztmöglichen Moment verlassen wollen – doch wenn er noch länger zögerte, würde er über hundert Meter in die Tiefe stürzen.
Hinter ihm barst Holz, die Splitter trafen seine Beine.
Metall kreischte, und das hintere Ende der Gondel sackte ein paar Zentimeter ab. In der Decke hatte sich ein Riss gebildet, sah Chase, ein klaffender Spalt hinter der Aufhängung.
Die Gondel würde jeden Moment abstürzen …
Das Feuer wurde eingestellt. Sie luden nach …
Chase kletterte die Leiter hoch und riss die Deckenluke auf, sprang aufs Dach und warf sich mit aller Kraft gegen den massiven Schwingarm.
Mit einem beinahe menschlich klingenden Kreischen riss das Metalldach auseinander. Die durchlöcherte Gondel stürzte dem Talboden entgegen und zerschellte auf den Felsen mit einem lauten Knall, der vom hoch aufragenden Staudamm widerhallte.
Der Haltearm schwang wie wild hin und her, und das Tragseil wippte aufgrund des plötzlichen Gewichtsverlusts. Chase klammerte sich verzweifelt an das kalte Metall und suchte mit den Füßen auf den verbogenen Überresten des Dachs nach Halt. Auch die hinter ihm befindliche Gondel schwankte heftig – einer der Schützen war auf den Boden gefallen.
Er warf einen Blick über die Schulter. Vielleicht war Sophia ja aus dem Fenster gestürzt, als ihre Gondel ins Schwanken geraten war. Leider Fehlanzeige: Sie hielt sich an einem Handlauf fest und funkelte ihn böse an – offensichtlich hatte sie mitbekommen, wie er aus der Kabine entkommen war.
Die Erschütterungen ließen nach, wenngleich der Haltearm noch immer hin- und herschwang. Chase bemühte sich um einen besseren Halt, doch da war nichts, woran er sich hätte festhalten können.
Er blickte sich erneut um, nicht zu Sophia, sondern zu der hinter ihr befindlichen Seilbahnstation. Über zwei Drittel des Weges hatten sie bereits zurückgelegt – da ging es wieder los: Gewehrfeuer!
Die von der unteren Gondel abgefeuerten Kugeln pfiffen an ihm vorbei, einige trafen den Schwingarm.
Der Arm, an dem Chase sich festhielt, war etwa dreißig Zentimeter breit. Er selbst war etwas breiter. Er drehte sich so, dass er den Schützen seine Schmalseite zuwandte – Hände und Oberarme aber schauten noch immer hinter dem Schwingarm hervor. Wenn er auch nur einen Streifschuss abbekam, würde er den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen.
Sophias Kabine näherte sich der Station. Das, was von Chases Gondel übrig war, würde in etwa dreißig Sekunden dort ankommen …
Als der Schwingarm unmittelbar über seiner Hand von einer Kugel getroffen wurde, liefen Schockwellen durch das Metall. Er klammerte sich verzweifelt fest, spürte jedoch, wie seine andere Hand abrutschte. Die Reste des Dachs, auf denen er stand, bogen sich unter seinem Gewicht …
Mit den Fingerspitzen berührte er einen Vorsprung: einen Metallbolzen, an dem er sich ein paar Zentimeter höher zog, um zu verhindern, dass das Gondeldach unter ihm nachgab.
Eine weitere Salve traf den Schwingarm.
Sophia hatte die Station mittlerweile fast erreicht, ihre Gondel geriet schon in den Erfassungsbereich der Beleuchtung. Chase konnte die Station jetzt deutlich sehen. Sie war, genau wie der Wendepunkt der Seilbahn, ein weiterer an der einen Seite offener Betonbau, der an einer Felswand klebte.
Jedenfalls beinahe.
Zwischen dem massigen Fundament der Station und der senkrecht zum Talboden abfallenden Felswand befand sich eine schmale Felsleiste.
Etwas Hartes drückte ihn an der Seite, die dem Schwingarm zugewandt war.
Die Handgranate …
Das Seil vibrierte, als Sophias Gondel abgekoppelt wurde.
Weitere Schüsse ertönten. Die Kugeln trafen die Felswand.
Noch zehn Sekunden, neun …
Die Wachleute feuerten weiter.
Mit einem Aufschrei nahm Chase eine Hand vom Schwingarm. Ein sengender Schmerz fuhr durch die Fingerspitzen der anderen Hand, als sie sein ganzes Gewicht halten mussten. Das Metall unter seinen Füßen gab nach. Mit dem Arm rudernd, gelang es ihm schließlich, die Granate aus der Jackentasche zu ziehen.
Die Felswand war jetzt nur noch knapp zwei Meter entfernt.
Chase zog sich hoch, fasste den Sicherungsring der Granate mit den Zähnen und zog daran. Der Sicherungsstift sprang heraus und verschwand in der Dunkelheit.
Ihm blieben noch vier Sekunden bis zur Zündung …
»Sieg oder Untergang!«, brüllte Chase, drückte die Granate nach oben und rammte sie in das Laufrad, das die Gondel mit dem Seil verband. Dann sprang er auf die Felsleiste.
Loses Geröll geriet unter ihm ins Rutschen. Wie in einem Wasserfall von Steinen suchte er verzweifelt nach Halt …
Über ihm fuhr der Schwingarm in die Station ein.
Die Wachleute zielten – da explodierte die Handgranate.
Die Druckwelle durchtrennte das Hauptseil. Der Schwingarm fiel herab, krachte auf das Betondach der Station und wurde mit enormer Wucht nach hinten katapultiert. Wie ein Riesenanker schoss er über Chases Kopf hinweg und wurde vom Gewicht des Seils und der dritten Gondel in die Tiefe gerissen.
Die Schreie der Wachleute verstummten jäh, als sie auf den Talfelsen aufprallten.
Chase rutschte noch immer im Geröll nach unten und griff nach allem, was verhindern mochte, dass er den Wachleuten folgte. Erst rutschten seine Beine über die Felskante, dann seine Hüfte …
Mit der einen Hand bekam er einen Stein zu fassen und brachte die andere Hand nach oben. Der Stein hielt. Er zog sich hoch, fand mit den Füßen wieder Halt. Sekunden später hatte er die eigentliche Felsleiste erreicht. Durch den Adrenalinschock zitterte er am ganzen Leib, doch er durfte sich nicht ausruhen. Noch nicht. Erst musste er Sophia finden.
Er kletterte zum Fuß des Gebäudes und entdeckte in der Nähe in den Beton eingelassene Metallsprossen. Schnell begann er daran hochzuklettern. Unterhalb der letzten Sprosse hielt Chase inne und zog die Waffe. Fertig …
Los!
Mit einem Ruck zog er sich nach oben, schwenkte die Waffe umher und fand sein Ziel.
»Keine Bewegung!«, rief er.
Sophia kniete an der Hinterwand der Seilbahnstation. Als er sie anrief, erstarrte sie. Sie war hinter einer der geparkten Gondeln in Deckung gegangen, als ihr klar geworden war, was Chase mit der Handgranate angerichtet hatte. Dass er sie aber schon finden würde, bevor sie sich von dem ohrenbetäubenden Knall erholt hatte, den die Betonwände der Station noch verstärkt hatten – damit hatte Sophia offensichtlich nicht gerechnet.
»Eddie«, sagte sie und blickte ihm und der gezückten Waffe verwirrt entgegen. Chase war mittlerweile bereits auf den Boden der Station geklettert und kam nun direkt auf sie zu. Ihr blieb nur noch, sich in den Sarkasmus zu flüchten.
»Wundern sollte mich das eigentlich nicht. Du hast dich noch nie davon beeindrucken lassen, dass du unerwünscht bist«, sagte sie höhnisch.
»Wo ist die Bombe, Sophia?«, fragte Chase geschäftsmäßig.
»In der Gondel.« Sie lächelte schwach. »Für mich ist sie allerdings ein bisschen zu schwer. Würdest du sie mir ausladen?«
»Halt’s Maul!« Seine rüde Äußerung verblüffte Sophia. Augenblicklich verflüchtigte sich ihr Trotz, als sie merkte, dass es ihm todernst war. Mit vorgehaltener Waffe ging Chase zur Gondel und blickte hinein. Die Bombe stand in der Mitte der Kabine.
Erst jetzt konnte er sie genauer in Augenschein nehmen. Ein stumpfer Kegel aus glänzendem Stahl war die Basis, und aus einer Öffnung in der Mitte führten drei Metallstreben zu einer gedrungenen, überhängenden Kappe hoch, die ebenfalls aus poliertem Stahl gefertigt war. Scharf gemacht wurde sie offenbar in einem Schlitz in der Basis, der gegenwärtig allerdings leer war. Die knapp ein Meter hohe Bombe sah aus, als wöge sie mindestens fünfzig Kilo – wegen des Urankerns war sie vermutlich aber noch wesentlich schwerer.
Die Bauweise war ungewöhnlich, doch Chase wusste gut genug über Atomwaffen Bescheid, um auf den Typ schließen zu können. Diese Bombe beruhte auf dem so genannten Kanonenprinzip, der einfachsten Art, einen atomaren Sprengkörper herzustellen – allerdings war er auch am leichtesten zu bauen, zu transportieren und zu warten. Andere Atombomben-Typen waren Präzisionsinstrumente, die mit minimalen Toleranzen gefertigt und darauf angewiesen waren, dass alle Komponenten in der vorgegebenen Reihenfolge auf die Mikrosekunde genau funktionierten.
Kanonenbomben wie die in seiner Hand hingegen waren primitive Waffen, bei denen es eher um rohe Gewalt ging: Man nehme zwei Teile angereichertes Uran-235 von einer bestimmten Gesamtmasse. Dann presse man sie fest zusammen. Wenn die kritische Masse erreicht ist, kommt es zur Kettenreaktion und zur Explosion. Die Bezeichnung stammte von der ersten Bombe dieser Art, die auf Hiroshima abgeworfen worden war; dabei handelte es sich um ein abgeschnittenes Kanonenrohr, in dem ein Stück Uran auf ein größeres Stück am anderen Ende des Rohrs abgefeuert worden war.
Yuens Bombe war kleiner und technisch avancierter als ihre historische Vorgängerin, doch das Prinzip war das gleiche. Chase vermutete, dass die Zündmasse in der Basis untergebracht war – eine Sprengladung würde sie wie eine Gewehrkugel an den Führungsschienen entlang auf die in der Stahlkappe untergebrachte Uranladung katapultieren. Simpel, primitiv … aber wirkungsvoll.
Und vor allem tödlich. Wenn Yuen nicht übertrieben hatte, dann verfügte die Bombe über eine Sprengkraft von fünfzehn Kilotonnen – somit hätte sie eine etwas höhere Sprengkraft als die Hiroshima-Bombe und wäre imstande, das Zentrum jeder beliebigen Stadt dem Erdboden gleichzumachen und einen Feuersturm zu entfachen, der kilometerweit im Umkreis sämtliche Gebäude zerstören würde, vom radioaktiven Fallout ganz zu schweigen.
Instinktiv blickte er sich nach Sophia um. »Was hast du mit der Bombe vor, Sophia?«, rief er aufgeregt.
Sie kniff die Augen zusammen. »Der Trockner hat meinen Prada-Rock ruiniert, da wollte ich meinem Missfallen Ausdruck verleihen.«
Er trat vor sie hin und hielt ihr die Waffe an die Stirn. »Red schon!«
»Du wirst mir nicht wehtun«, erwiderte sie leise. Chase starrte sie einfach nur an. Die Pistole rührte sich keinen Millimeter. Unsicherheit zeigte sich in Sophias Blick. »Eddie …«
»Das ist Vergangenheit, Sophia«, sagte Chase. »Gib mir dein Handy. Ich werde die Behörden verständigen, und dann …«
Weiter kam er nicht. Die Waffe wurde ihm aus der Hand geschlagen und flog durch die Luft. Im nächsten Moment erreichte sie der Überschallknall des Gewehrs, das außerhalb der Station abgefeuert worden war.
Chase fasste sich an die Hand und hielt Ausschau nach dem Schützen. Draußen war jedoch kein Mensch zu sehen, nur der Staudamm, der das Tal abschloss. Er rollte sich ab, um dem Gegner das Zielen zu erschweren, und hechtete zur am Boden liegenden Pistole.
Noch ehe er sie erreicht hatte, stellte Chase jedoch fest, dass es keinen Sinn hatte. Unmittelbar über dem Abzug war die Steyr-Pistole durchlöchert, die Verbindung zum Hammer war zerstört und die Waffe damit komplett nutzlos. Der unsichtbare Gegner hatte entweder einen Glückstreffer erzielt – oder aber er war ein unglaublich guter Schütze.
Chase änderte seine Taktik. Er war unbewaffnet – und in der ganzen Station gab es nur ein Ziel, das ihn vor einer Hochgeschwindigkeitsgewehrkugel schützen konnte.
Er hechtete zurück – und landete hinter der knienden Sophia. Da seine Rechte vom Einschlag der Gewehrkugel noch ganz taub war, legte er ihr die Linke um den Hals. »Hoch mit dir!«, knurrte er und zog sie auf die Beine. Auch für den verborgenen Scharfschützen musste klar sein, dass Chase sie als menschlichen Schutzschild benutzte.
»Eddie!«, quiekte Sophia angstvoll.
»Wer immer da draußen ist, sag ihm, er soll sich zurückhalten!«, befahl Chase. »Ich weiß, dass er dich sehen kann – sag es ihm!«
»Wenn du mir etwas antust, wird er dich töten!«
»Wenn er sich nicht zurückhält, töte ich dich!«
Eine kleine Ewigkeit lang rührte sich keiner von ihnen. Dann ergriff Sophia das Wort: »Das wirst du nicht tun«, sagte sie mit erstickter Stimme, aber neu erwachter Arroganz. »Das bringst du nicht fertig. Dafür kenne ich dich zu gut …«
Chase drückte fester zu, bis sie keine Luft mehr bekam. »Du hast Mac getötet. Du hast Nina getötet. Nenn mir einen einzigen Grund, weshalb ich dich am Leben lassen sollte.«
»Ich … habe … Nina … nicht … getötet …«, keuchte Sophia.
»Was?« Chase lockerte seinen Griff ein wenig.
»Sie ist nicht tot. Noch nicht.«
Er drückte wieder fester zu. »Du auch nicht. Noch nicht.«
»Handy«, flüsterte Sophia und langte in die Tasche. »Ich … zeig’s … dir …«
Chase hatte noch genug Gefühl in der Rechten, um ertasten zu können, dass sie ein Handy aus der Tasche zog und kein Messer oder eine Pistole. Er lockerte seinen Griff ein wenig. »Mach schon«, befahl er grob.
Sophia hielt das Handy hoch und aktivierte mit einem Fingerdruck den Touchscreen. Sie tippte sich zum Fotoalbum durch. Darin war ein einziges Bild gespeichert.
Chase erkannte sie auf dem winzigen Vorschaubild sofort, doch das verhinderte nicht, dass ihm ganz kalt wurde vor Angst, als Sophia das Foto zoomte.
Nina.
Mit zerschrammtem Gesicht, geknebelt und mit angstgeweiteten Augen. Sie lag auf dem Rücken, und ihr rotes Haar breitete sich wie eine Blutlache am Boden aus.
»Wenn mir etwas zustößt«, zischte Sophia, »ist sie tot. Glaub bloß nicht, dass ich Skrupel hätte. Ich habe eben meinen eigenen Mann getötet – und um es ganz klar zu sagen: Dein fuchsrotes Spielzeug mit den Parvenüallüren bedeutet mir nichts. Und jetzt lass mich endlich los.«
Chase reagierte nicht.
»Lass mich los, Eddie. Du hast gekämpft bis zuletzt – aber jetzt bist du am Ende angelangt. Der Kampf ist vorbei. Du hast verloren.«
Mit einem wütenden, verzweifelten Knurren nahm Chase die Hand von ihrem Hals.
Sophia entfernte sich ein paar Schritte und bedachte ihn mit einem säuerlichen Hohnlächeln, während sie sich den Hals massierte. »Knie dich hin, Eddie. Hände hinter den Kopf. Wir wollen meinem Freund doch keinen Anlass geben, dir die eine oder andere Extremität wegzuschießen, oder?«
Widerstrebend kniete Chase nieder und blickte zum Staudamm hinaus – erst jetzt konnte er den Scharfschützen ausmachen, eine dunkle Silhouette vor dem blassblauen Hintergrund des Staudamms. Die Schießkünste des Fremden nötigten Chase unweigerlich Respekt ab, so viel musste er sich eingestehen und starrte weiter auf den Schützen. Der Mann stand auf einer Aussichtsplattform etwa in der Mitte des Bauwerks, mindestens vierhundert Meter entfernt, schätzte Chase. Dass er auf diese Entfernung überhaupt traf, war schon beachtlich; eine Waffe in der Hand der Zielperson zu treffen war jedoch eine verdammte Meisterleistung!
Sophia wählte eine Nummer und hob das Handy ans Ohr. »Ich hab sie«, sagte sie. »Jemand muss mich abholen – ich hatte ein bisschen Ärger mit meinem Ex.« Sie lauschte der erstaunten Gegenfrage, dann lächelte sie. »Nein, mit dem anderen. Keine Sorge, Joe hat ihn im Visier. Bringen Sie einfach den Wagen her. Und zwar möglichst schnell, danke.«
Sie unterbrach die Verbindung und näherte sich Chase, wobei sie darauf achtete, nicht in die Schusslinie zu geraten. »Jetzt, wo wir dich haben, läuft es wie geschmiert«, sagte sie. »Ich wusste nicht so recht, wie ich mir die weinerliche kleine Yankee-Schnecke gefügig machen sollte, aber seit du in meiner Gewalt bist …«
»Ich weiß nicht«, sagte Chase und zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht auf den Köder anzuspringen. »So wie es zuletzt zwischen uns stand, dürfte sie wohl eher froh sein, mich endlich von hinten zu sehen.«
Sophia grinste. »Netter Versuch. Aber ich habe gespürt, wie sie wirklich für dich empfindet – und du für sie. Ich hab gewusst, dass du nicht zulassen würdest, dass ihr etwas zustößt. Für sie gilt übrigens das Gleiche. Nur deshalb, weil dich jemand zur Weißglut reizt, heißt das noch lange nicht, dass du keine tiefen Gefühle für die betreffende Person hegst.«
»Was weißt du schon von Liebe!«, sagte Chase.
Seine Stichelei zeigte jedoch keine Wirkung, Sophias Gesichtszüge verhärteten sich. Sie wandte sich ab und ging davon.
Chase verharrte in der Schusslinie des Scharfschützen, bis draußen ein Wagen vorfuhr und mehrere Männer die Seilbahnstation betraten.