9
Botswana
Hallo!«, sagte die hochgewachsene Afrikanerin, die Arme abweisend vor der Brust verschränkt. »Wenn das nicht Edward Chase ist.«
»Tamara Defendé«, erwiderte Chase, als sie sich ihr näherten.
Eine Weile musterten die beiden einander argwöhnisch, dann schloss sie ihn in die Arme.
»Eddie!«, rief sie begeistert, drückte ihn an sich und zerknautschte seine Lederjacke. »Schön, dich zu sehen!«
»Es ist schon eine ganze Weile her«, schnaufte Chase und versuchte sich von ihr zu befreien. »Okay, TD, du kannst mich jetzt loslassen. Ich kriege keine Luft mehr.«
Nina und Sophia sahen einander an. »War das bei dir auch so?«, flüsterte Nina.
Sophia nickte. »Geheimnisvolle Frauen in aller Welt, meinst du? Hmm, ja.«
»TD«, übernahm Chase die Vorstellung, »das ist Dr. Nina Wilde« – Nina entging nicht, dass er kein Wort über ihre Beziehung verlor –, »und das ist Sophia Blackwood. Nina, Sophia, das ist TD, eine gute Freundin von mir.«
TDs neugieriger Miene war zu entnehmen, dass sie über Sophias Beziehung zu Chase Bescheid wusste, doch sie enthielt sich einer Bemerkung. Stattdessen schüttelte sie ihr mit festem Griff die Hand. »Schön, euch beide kennenzulernen.«
»Woher kennst du Eddie?«, fragte Nina.
Chase warf ihr einen warnenden Blick zu – ein weiteres militärisches Geheimnis, vermutete Nina –, doch TD grinste breit, bevor sie antwortete.
»Ich bin Pilotin und besitze ein eigenes Flugzeug«, sagte sie und lächelte Chase an, der anscheinend unter nervösen Gesichtszuckungen litt. »Eddie und seine Kumpels haben mich irgendwann einmal gebeten, sie an verschiedene Einsatzorte in ganz Afrika zu fliegen. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen, ihr wisst ja, wie das bei Eddie so ist!«
»In letzter Zeit nicht mehr«, warf Chase ein. »Meistens hocke ich hinter dem Schreibtisch.«
»Das ist aber schade!« TD hatte einen melodischen westafrikanischen Akzent, mit Anklängen ans Französische und Niederländische. »Du wirst auf deine alten Tage doch nicht etwa einrosten!«
»Ich geb mir Mühe«, sagte Chase, der die Anspielung auf seine »alten Tage« ganz und gar nicht lustig fand. »Hast du alles, worum ich dich gebeten habe?«
TD nickte. »Im Flieger. Kommt mit.« Sie deutete mit dem Daumen auf einen zerbeulten Landrover ohne Verdeck, der in der Nähe abgestellt war.
Es war warm, um die fünfundzwanzig Grad, jedoch nicht schwül.
»Dein Paket ist übrigens angekommen. Du hast mich schwer beeindruckt – ich wusste gar nicht, dass man Waffen per Luftfracht verschicken kann!«
»Bisweilen hat es klare Vorteile, für die UN zu arbeiten. Zum Beispiel, wenn man von der Zollkontrolle befreit ist und Bitte-nicht-röntgen-Aufkleber verwendet.«
Sie gingen hintereinander zum Landrover hinüber, Nina bildete den Abschluss der kleinen Gruppe. Im Gehen musterte sie TD von oben bis unten. Dies war nicht die erste von Chases hilfsbereiten »Freundinnen« in aller Welt, die sie kennenlernte. Obwohl nichts darauf hindeutete, dass die Beziehungen der beiden über das rein Freundschaftliche hinausgegangen waren, fragte sie sich unwillkürlich, wie Chase es anstellte, dass man ihm eine solche Loyalität entgegenbrachte. Zumal er einen bisweilen rasend machen konnte.
Vielleicht ist es ja das, dachte sie. Er ist nie so lange geblieben, dass er die Frauen gegen sich aufgebracht hätte.
TD ragte aus seinen Bekanntschaften sicherlich hervor. Sie war über eins achtzig groß, und ihre Größe wurde durch die Cowboystiefel mit den klobigen Absätzen noch betont. Sie war auffällig gekleidet; ihre Shorts waren nur eine Handbreit von Hotpants entfernt, und das knapp über dem Nabel abgeschnittene T-Shirt entblößte ihre straffe Taille. Ihr langes Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten, die ihr durch den Verschluss einer roten Baseballkappe hindurch auf den Rücken fielen. Nina hatte keinen Zweifel, dass TD bei Männern gut ankam – und dass sie mit der Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde, hervorragend umzugehen verstand. TDs einziges Kleidungsstück, das die Bezeichnung »zurückhaltend« verdiente, war eine verwaschene Jeansjacke – unter der sich vermutlich ein Waffenholster verbarg.
Sie stiegen in den Landrover. TD fuhr durch den Flughafen Gaborone, ihr Haar flatterte im Wind.
»Ich hatte nicht viel Zeit für die Vorbereitung«, sagte sie zu Chase. »Vierundzwanzig Stunden – das war ganz schön knapp!«
»Aber du hast es geschafft, nicht wahr?«
»Natürlich! Oder hab ich dich jemals hängen lassen?«
»Nur in Liebesdingen«, sagte Chase lächelnd.
TD lachte. »Die Presseausweise waren am schwierigsten zu besorgen«, fuhr sie fort, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Ohne deine Informationen hätte ich sie garantiert nicht bekommen – jedenfalls nicht ohne eine größere Summe Bestechungsgeld, die ich in so kurzer Zeit beim besten Willen nicht hätte aufbringen können. Wie bist du da herangekommen?«
»Das war mein Beitrag«, sagte Sophia. »Ich habe Freunde in der Firma meines Mannes, die auf das Netzwerk zugreifen können. Deshalb konnte ich das unter der Hand regeln.«
»Jedenfalls danke! Ich hab’s immer gern, wenn mir jemand das Leben leichter macht – vor allem bei einem Job wie diesem!«
Sie hatten die Hangars erreicht, windschiefe Schuppen, in denen Leichtflugzeuge untergestellt waren. TD ging auf einen der Hangars zu. »Das ist mein Flugzeug!«, sagte sie stolz.
Nina war sich nicht sicher, ob TDs Stolz berechtigt war – die zweimotorige Maschine, die in verwittertem Taxigelb lackiert war, sah so aus, als wäre sie mindestens vierzig Jahre alt.
»Keine Sorge«, sagte TD, die Ninas besorgte Miene richtig gedeutet hatte. »Ich halte es gut in Schuss, dafür lässt es mich auch nicht im Stich!«
»Eine Piper Twin Comanche«, setzte Chase hinzu. »Klein genug, um praktisch überall landen zu können, selbst auf Pisten im Busch – und groß genug, um eine kleine Einsatztruppe mitsamt Ausrüstung befördern zu können. Außerdem verfügt das Ding über ein paar ganz nette Extras, falls wir uns mal schnell aus dem Staub machen müssen. Was durchaus der Fall sein könnte, wenn wir mit Yuen geredet haben.«
»Pass bitte auf, dass Präsident Molowe nicht in die Schusslinie gerät«, meinte TD, als sie die Einstiegsluke öffnete. »Ich habe für ihn gestimmt.«
»Keine Sorge, ich pass schon auf. Ich wurde bereits in zwei afrikanischen Staaten zum Tode verurteilt; auf ein drittes Todesurteil kann ich gern verzichten.«
»Hab ich da eben richtig gehört?«, japste Nina.
»Das ist nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest«, versicherte Chase ihr eilig.
Nina inspizierte die Tragfläche des Flugzeugs. »Ist das – ein Einschussloch?«, fragte sie mit großen Augen.
»Kein Grund zur Beunruhigung!«
TD flog von Gaborone aus siebenhundertzwanzig Kilometer nach Nordnordwesten. Sie überflogen weitläufige Wüstenflächen und das trockene Buschland der Kalahari, dann begann der Landeanflug auf einen privaten Behelfsflugplatz achtzig Kilometer westlich von Maun.
Chase saß auf dem Platz des Kopiloten. Nina blickte ihm über die Schulter und staunte über die Aussicht, die sich im Norden bot. Jenseits der staubigen Wüste erstreckte sich bis zum Horizont ein Gebiet, das in üppigem Grün leuchtete.
»Das ist das Okavangodelta«, erklärte TD. »Das größte Binnendelta der Welt. Außerdem ist es ein bedeutendes Wildreservat. Wenn ihr nichts zu tun hättet, würden wir einen Zwischenstopp einlegen, und ich würde euch herumführen.«
»Später vielleicht«, sagte Chase. »Außerdem, es reicht, wenn man ein stocksaures Flusspferd gesehen hat – kennt man eines, kennt man alle.«
TD lächelte, dann sprach sie über Headset mit einem Fluglotsen am Boden, der ihr letzte Landeanweisungen gab. Als die Maschine sich in die Kurve legte und die Nase nach Westen wandte, wanderte die ferne Schönheit des Deltas aus dem Blickfeld der Passagiere. Was sie stattdessen zu sehen bekamen, machte Chase und Nina sprachlos.
»Du meine Fresse«, brummte Chase. »Was für ein Schandfleck.«
»Ich fürchte, Umweltschutz und Diamantenförderung gehen nicht zusammen«, bemerkte Sophia.
Nina konnte ihr nur beipflichten. Als die Maschine weiter Höhe abbaute, rückte Yuens Diamantmine näher, ein gewaltiger künstlicher Erdkrater. Nina machte auf langen Serpentinenwegen, die zum Grund der riesigen Grube hinunterführten, gelbe Fahrzeuge aus, die sich in beide Richtungen bewegten. Die Laster waren gigantisch und entsprachen in jeder Beziehung den furchterregenden Ausmaßen der Mine.
Jenseits der Grube sah man zahlreiche Lagergebäude und zylindrische Türme, allesamt riesig. Der ganze Komplex mit der Grube und den Nebengebäuden erstreckte sich über anderthalb Kilometer. Wie viel Platz für zusätzliche Erweiterungen war, davon zeugten die in gehörigem Abstand zu den Gebäuden angebrachten Grenzzäune.
Die Twin Comanche landete, rollte holpernd zum Ende der Landebahn und wurde zu einem großen Flugzeug-Parkplatz verwiesen. Dort standen bereits zahlreiche andere Flugzeuge, angefangen von kleinen gecharterten Propellermaschinen bis zu Firmenjets. Ganz offensichtlich fand hier gerade ein großes Ereignis statt. Unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen, wie anzunehmen stand.
Als sie sich von TD verabschiedet hatten, die im Flugzeug auf sie warten würde, gingen Chase, Nina und Sophia auf die Absperrung zu. Dort wurden sie von einer Gruppe finster dreinblickender Wachmänner in Empfang genommen; private Sicherheitsleute, keine botswanischen Soldaten. Ihre Haltung, ihre Wachsamkeit und die Art und Weise, wie sie die Waffen hielten, verrieten Chase, dass sie eine militärische Ausbildung absolviert hatten.
Als er sich ihnen näherte, versuchte er, entspannt zu wirken und mit den beiden schweren Gerätetaschen einen möglichst undisziplinierten Eindruck zu machen.
Einer der Wachleute hob die Hand, woraufhin seine Kollegen ihre Position veränderten, damit sie freies Schussfeld auf die Neuankömmlinge hatten.
»Guten Tag, willkommen in der Ygem-Diamantmine«, sagte der Wachmann mechanisch. »Dürfte ich bitte Ihre Besucherausweise und Pässe sehen?«
Bevor Chase antworten konnte, ergriff Sophia mit schneidend aristokratischem Akzent das Wort. »Guten Tag«, sagte sie von oben herab und würdigte den Wachmann kaum eines Blickes. »Ich bin Sophia Black von der Nachrichtenredaktion von CNB in Kapstadt. Das sind Ed Case, mein Kameramann, und Nina Jones, meine Tontechnikerin.« Sie reichte dem Wachmann die Dokumente, die TD ihnen besorgt hatte.
Der Mann verglich sie mit einer Liste auf einem Klemmbrett und brummte zustimmend. »Danke«, sagte er und gab ihr die Dokumente zurück.
Ein zweiter Wachmann scannte sie mit einem elektronischen Sensor, wobei er jedoch nur harmlose Gegenstände wie Schlüssel und Geldmünzen entdeckte. Der erste Wachmann durchsuchte unterdessen ihr Gepäck.
»Könnten Sie die mal bitte einschalten?«, sagte er und hob die klobige Videokamera aus Chases Tasche hoch.
Chase gehorchte, Kontrolllämpchen leuchteten auf. Der Wachmann schaute sogar durch den Sucher, öffnete das Fach für das Aufzeichnungsband und spähte hinein.
»Kamera, Akkus, Ersatzbänder, Mikrofongalgen, Adapter«, sagte Chase, auf die einzelnen Gegenstände deutend. »Hey, hättet ihr was dagegen, wenn ich ein paar Einstellungen mit euch drehen würde, Jungs? Als Hintergrundmaterial?«
»Ja, hätte ich«, erwiderte der Wachmann entschieden und wandte sich Ninas kleinem Rucksack zu, den er sorgfältig zu durchwühlen begann. Während Chase seine Ausrüstung wieder einpackte, entdeckte er den Hefter. Gleichgültig blätterte er die ersten Seiten der handschriftlichen Notizen um, dann reichte er ihn ihr zurück und sagte gelangweilt: »Routinemäßig weisen wir alle Besucher der Ygem-Diamantmine darauf hin, dass Diamantdiebstahl ein schweres Vergehen darstellt, das mit der vollen Härte des botswanischen Strafrechts geahndet wird. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld – Sie dürfen eintreten. Bitte warten Sie dort drüben auf den Bus.« Er zeigte auf überdachte Bänke am Straßenrand, wo bereits andere Besucher warteten.
»Schönen Tag noch, Kumpel«, sagte Chase und hob seine Reisetaschen hoch. »Ed Case?«, zischte er Sophia im Gehen zu. »Wirklich sehr komisch. Klingt so, als wäre ich ein Problemfall.«
»War nur ein kleiner Scherz.«
»Jedenfalls hat man uns reingelassen, und das ist doch die Hauptsache!«, sagte Nina.
»Ja, sieht so aus.« Chase legte Sophia die Hand auf die Schulter. »Gut gemacht.«
Sie lächelte. »Danke.«
Nach einer Weile fuhr ein Bus vor, und die Wartenden – allesamt Pressevertreter – stiegen ein. Chase ging bis fast nach hinten durch. Sophia setzte sich neben ihn. Nina, die sich ein wenig ausgeschlossen fühlte, nahm eine Reihe hinter den beiden Platz. Als eine weitere kleine Besuchergruppe eingestiegen war, setzte sich der Bus in Bewegung.
Als er sich unbeobachtet glaubte, nahm Chase den langen Mikrofongalgen aus der Tasche, öffnete ihn am Ende und zog die auseinandergenommene Wildey-Pistole und das Halfter heraus. Eilig setzte er die große Waffe zusammen, schnallte sich das Halfter um, schob die Pistole hinein und zog die Lederjacke wieder über.
»Ich dachte, du wolltest dich mit dem Erschießen von Menschen zurückhalten«, raunte Sophia ihm zu.
»Also, das ist wie mit einer Diät – eine Weile hält man sich dran, aber irgendwann …«, scherzte Chase und grinste breit. Dann verhärteten sich seine Züge. »So wie man mit Nina umgesprungen ist, hat irgendjemand es verdient, erschossen zu werden.«
Nina schwieg, ein wenig verärgert darüber, dass ihm erst jetzt wieder einzufallen schien, dass sie ebenfalls anwesend war.
Der Bus wurde langsamer. Sie näherten sich einem Checkpoint, einem hohen, verrosteten Metallzaun auf einem Erdwall.
Nina machte große Augen. »Panzer?«
»Die sind wohl zur Bewachung des Präsidenten hier. Eine Demonstration der Stärke, um allen zu zeigen, wie wichtig man die Diamantminen nimmt«, bemerkte Chase.
Die beiden braun lackierten Kampfpanzer, die das Tor flankierten, waren vom Typ Leopard. Obwohl es sich um relativ alte deutsche Modelle handelte, die im Westen längst durch modernere Waffensysteme ersetzt worden waren, wirkten sie immer noch ausgesprochen furchteinflößend.
»Das wundert mich nicht«, sagte Sophia. »Die Diamanten machen drei Viertel des botswanischen Exports aus.«
»Ich mach mir nichts aus Klunkern«, brummte Chase und äffte eine imaginäre Kundin nach: »›Oh, sieh mal, wie der funkelt!‹ Ja, dafür blättere ich gerne ein Monatsgehalt hin.« Er schnaubte verächtlich. »Nee, im Ernst, was soll das? Ein Glasstein tät’s für mich auch.«
»Genau«, sagte Nina sarkastisch. »Nichts ist so unvergänglich wie ein Glasring.«
»Ich wusste gar nicht, dass du dir aus so Zeug was machst. Jedenfalls hab ich dir das nicht zugetraut.« Chases Tonfall war schneidend.
»Eddie«, sagte Sophia warnend und legte ihm beschwichtigend eine Hand aufs Knie.
Chase schwieg finster, als der Bus durch das Tor fuhr. Nina schäumte. Wenigstens so lange, bis der Bus den Zaun passiert hatte.
Nun fuhren sie am Rand des gewaltigen Kraters entlang. Nina war überwältigt von seiner schieren Größe – und seiner abgrundtiefen Hässlichkeit: Millionen Tonnen Erdreich waren von den Baggern ausgehoben worden.
Minenarbeiter in grellorangen Sicherheitswesten dirigierten den Bus so, dass er den riesigen Kipplastern – hoch wie ein Einfamilienhaus – nicht in die Quere kam: Mit seinen acht Metern Höhe und sechzehn Metern Länge wog der Liebherr T282B voll beladen über sechshundert Tonnen und war somit einer der größten Laster weltweit. Sein Preis betrug über drei Millionen Dollar. Die Ygem-Mine besaß über dreißig dieser Laster; ein niemals ruhender Konvoi mühte sich in Serpentinen vom Boden der Mine zur Aufbereitungsanlage hoch, und kaum hatten die Laster ihre Ladeflächen geleert, fuhren sie direkt wieder zurück, um erneut beladen zu werden. Bei der Diamantförderung kam es vor allem auf Masse an: Je mehr Erdreich und Gestein bewegt wurden, desto mehr Diamanten wurden gefördert – und desto größer war der Profit.
Chase beobachtete, wie einer der leeren Schwerlaster auf dem Weg nach unten in erstaunlichem Tempo an ihnen vorbeirumpelte. »Verdammt noch mal, das ist wirklich was anderes als ein Sandkastenlaster.«
Der Bus fuhr unter einem großen Transparent mit der botswanischen Flagge, dem Logo von Ygem und dem Spruch »Das Größte, das Beste: Einig in Wohlstand« hindurch. Dahinter lag ihr Ziel, eine überdachte Bühne, die nahe den Verwaltungsgebäuden errichtet worden war. Davor waren Sitzreihen arrangiert wie in einem Stadion. An der Seite stand ein großes Festzelt, neben dem mehrere Catering-Lieferwagen parkten. Kellner und Serviererinnen in weißen Uniformen eilten geschäftig umher.
Chase sah auf seine Armbanduhr. »Wann soll es eigentlich losgehen?«
»Um zwei«, antwortete Sophia.
»Dann haben wir etwa eine Stunde Zeit, Dick zu finden, bevor er mit dem Präsidenten auf die Bühne tritt. Anschließend dürfte es uns schwerfallen, mit ihm zu reden. Ich nehme an, er wird nicht lange bleiben.«
»Wohl kaum«, meinte Sophia. »Unserem ursprünglichen Reiseplan zufolge wollte mein Mann so schnell aus Botswana weg, dass er sogar einen Helikopter organisiert hat, der ihn zum Firmenjet bringen soll, sobald der offizielle Teil der Veranstaltung beendet ist.«
»Wo wolltet ihr anschließend hinfliegen?«, fragte Chase. »Ich meine, falls wir ihn hier verfehlen sollten … Das wäre zwar ziemlich übel, aber vielleicht bekommen wir ja eine zweite Chance.«
»In die Schweiz. Aber vielleicht hat er seine Reisepläne in der Zwischenzeit geändert.« Sophia zuckte unschlüssig die Schultern.
Der Bus hielt neben dem Haupteingang des Festzelts. Chase nahm seine Reisetaschen auf und folgte den anderen Insassen ins Innere. Dort sah er sich aufmerksam um. Die Zeltwände waren mit großen Postern geschmückt, auf denen der technologische Stolz der Mine abgebildet war; die Riesentrucks, die noch größeren Bagger, die sie mit Erdreich füllten, die Überwachungssysteme zum Schutz der kostbaren Steine und sogar ein Zeppelin, der das Okavangodelta nach neuen Diamantadern absuchte.
Chase schätzte, dass an die zweihundert Menschen im Zelt waren und sich mit ersten Getränken um das bereits aufgetragene Buffet tummelten. Er konnte zwei klar voneinander getrennte Gruppen ausmachen: Zwei Drittel des Innenraums wurden von den Medienleuten und den weniger einflussreichen Gästen beansprucht; gegenüber dem Eingang war ein kleinerer VIP-Bereich abgeteilt.
»Oje«, sagte Chase leise, als sie sich durch das Gewühl schoben. Er senkte den Kopf und bedeutete Sophia, es ihm gleichzutun. »Siehst du, was ich sehe?«, raunte er.
»Ja«, antwortete sie. Sie blickte vorsichtig über die Schulter nach hinten und machte Yuen im VIP-Bereich aus. Er stand lachend in einer kleinen Männerrunde.
Doch es war gar nicht Yuen, der Sophia aufgefallen war. »Mist«, flüsterte sie, senkte den Kopf und winkte Chase näher. »Das ist er. Das ist der Typ, der die fehlenden Pergamente hat!«
Chase folgte ihrem Blick unauffällig mit den Augen. »Der Typ mit dem Pferdeschwanz?«
»Das ist Fang«, erklärte Sophia. »Fang Yi, der … Vollstrecker meines Mannes, das trifft es wohl am ehesten.«
Nina sah noch einmal hin. Fang stand etwas abseits von Yuen, seine Körperhaltung drückte Ungeduld aus, als wartete er darauf, dass sein Boss die Unterhaltung beendete. In der einen Hand hielt er einen schwarzen Stock, in der anderen einen Aktenkoffer – der durch eine Kette mit seinem Handgelenk verbunden war. So hatte die Bruderschaft den Hermokrates nach New York gebracht.
»O mein Gott«, sagte sie leise. »Ich glaube, da sind die Pergamente drin.«
»Jedenfalls irgendetwas Wichtiges.« Chase blickte sich im Zelt um. Sein Blick blieb an der Seilabsperrung zum VIP-Bereich haften. Sie wurde gleich von mehreren Sicherheitsleuten bewacht, alle mit Pistolenhalftern am Gürtel ausgestattet.
»So ein verdammter Dreck. Wir kommen nicht an ihn heran. Es sind einfach zu viele Gorillas hier.«
»Vielleicht können wir Richard vor Beginn der Veranstaltung abfangen«, meinte Sophia. »Ich kenne ihn: Er wird sich ein paar Minuten zurückziehen, um sich für die Rede zu sammeln und ein frisches Hemd anzuziehen. Wahrscheinlich wird er sich im Verwaltungsgebäude umkleiden.«
»Das heißt, wir müssen von hier verschwinden und in das Verwaltungsgebäude reinkommen«, sagte Chase. »Okay, schauen wir uns mal den Catering-Eingang dort drüben an, vielleicht können wir uns ja unbemerkt hinausschleichen. Wir sagen einfach, wir müssten mal aufs Klo oder so.«
»Subtil wie eh und je«, bemerkte Sophia belustigt, als Chase sich in Bewegung setzte. Die anderen Gäste schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen. Als Chase sich vergewissert hatte, dass niemand zu ihnen hersah, wollte er schon durch die Tür schlüpfen, als Nina ihn anhielt.
»Warte mal einen Moment«, sagte sie und deutete zum VIP-Bereich. »Sieh mal!«
Chase folgte ihrem Finger und beobachtete, wie Yuen seine Unterhaltung beendete und gleich darauf von Fang beiseitegenommen wurde. Er hob den Aktenkoffer hoch und öffnete ihn …
Nina stockte der Atem, als sie beobachtete, wie Yuen behutsam etwas aus dem Koffer nahm und es vor den Umstehenden verdeckte. Sie konnte sich denken, was es war.
Die fehlenden Seiten des Buches. Die geraubten Pergamente aus Platos Hermokrates.
Der Rest der Landkarte, der sie zum Grab des Herkules führen würde.
»Das ist es, das ist das Buch!«, wisperte sie aufgeregt. Sie konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. »Er hat es tatsächlich mitgebracht!«
»Na schön, beruhig dich, du kriegst sonst noch einen Herzinfarkt«, sagte Chase abweisend.
Nina schnaubte, dann blickte sie wieder zu Yuen und Fang hinüber. Yuen betrachtete die Blätter, dann legte er sie wieder in den Aktenkoffer und sagte etwas zu seinem Handlanger. Fang nickte, verschloss den Aktenkoffer und entfernte sich. Ein Wachposten trat beiseite und ließ ihn durch einen Ausgang an der Rückseite des Zelts passieren.
»Wir müssen ihm folgen!«, sagte Nina und wurde ganz hibbelig. »Wir müssen ihm die Blätter abnehmen!«
Chase runzelte die Stirn. »Moment, wir sind hergekommen, um uns Yuen vorzuknöpfen, oder hast du das schon wieder vergessen?«
»Nein, Eddie, sie hat vollkommen recht«, sagte Sophia. »Fang hat das Buch – und er wird nicht bewacht. Die Bodyguards konzentrieren sich auf meinen Mann und den Präsidenten, sobald er da ist. Lass uns einfach das Buch schnappen – dann müssen wir nur noch das Flugzeug erreichen.«
Chase blickte von Yuen zum Ausgang, durch den Fang verschwunden war, dann atmete er zischend aus. »Okay, schnappen wir ihn uns«, knurrte er. »Aber wir müssen hier raus, wenn wir ihn erwischen wollen.« Er setzte die Reisetaschen ab und schlüpfte durch den Eingang.
Sie kamen bei den Catering-Lieferwagen heraus. Mehrere uniformierte Angestellte musterten sie teilnahmslos, dann setzten sie ihre Vorbereitungen fort. Der Grund für ihr mangelndes Interesse lag auf der Hand: Im Zelt durfte nicht geraucht werden, und den zahlreichen Zigarettenstummeln am Boden nach zu schließen, war dies der einzige Ort, wo die Medienleute in Ruhe paffen konnten.
Chase ging am Zelt entlang und spähte um die Ecke. Vor dem Ausgang, den Fang passiert hatte, war ein Wachmann postiert. Er wandte Chase den Rücken zu, weil er zwei Männer beobachtete, die ein Holztreppchen zu einem mit Klebeband markierten Kreis schleppten. Sie bereiteten sich auf die Ankunft eines Helikopters vor, mit dem vermutlich Präsident Molowe eintreffen würde.
Chase machte Fang aus, der zu einer Reihe weißer Toyota Land Cruiser hinüberging, die in der Nähe des Verwaltungsgebäudes parkten. »Ich sehe ihn«, berichtete er den beiden Frauen über die Schulter. »Er scheint wegfahren zu wollen.«
»Was ist, wenn er sich einfach davonmacht?«, fragte Nina besorgt. »Wenn er zur Landepiste fährt?«
»Wir sollten ihm folgen«, sagte Sophia.
Chase vergewisserte sich, dass der Wachposten abgelenkt war, dann ging er hinter einer Reihe abgestellter Bulldozer in Deckung. Sophia und Nina folgten ihm rasch.
Angespannt beobachteten sie, wie Fang in einen der Land Cruiser einstieg und den Zündschlüssel hinter der Sonnenblende hervorzog. Als er den Motor des Geländewagens anließ, begannen orangefarbene Warnleuchten auf dem Fahrzeugdach zu blinken.
Chase rannte geduckt an den Bulldozern entlang. Hinter dem letzten in der Reihe hielt er an, spähte hervor und beobachtete, wie Fang davonfuhr. Der Land Cruiser machte einen Bogen um die Landepiste – ein Stück weiter weg gab es einen zweiten Hubschrauberlandeplatz, wo ein Jet Ranger mit dem Ygem-Logo stand. Mehr sah Chase jedoch nicht, weil das Fahrzeug mittlerweile von dem Festzelt verdeckt wurde.
Chase löste den Lederriemen des Halfters und bedeutete Nina und Sophia, zum nächsten Land Cruiser zu laufen. Ohne den Wachposten aus den Augen zu lassen, rannte er hinüber, die eine Hand an der Waffe, doch der Mann bemerkte ihn nicht einmal. Als die Frauen in Deckung waren, eilte er zu ihnen hinüber.
»Okay«, sagte Chase und öffnete die Fahrertür. »Ich fahre.«
Sophia nahm auf dem Beifahrersitz Platz, sodass Nina mit dem Rücksitz vorliebnehmen musste. Als alle saßen, klappte Chase die Sonnenblende herunter, und tatsächlich fiel ihm der Zündschlüssel in die Hand. »Ich schätze, Jugendbanden sind hier kein Problem«, grinste er. »In England wäre der Wagen binnen sechs Sekunden weg – spätestens aber in sechzig.«
»Wer sollte hier Autos klauen? Immerhin sind wir dreißig Kilometer von der nächsten Stadt entfernt«, sagte Nina.
Chase ließ grinsend den Motor an.
»Hmm!«, kam es von der Rücksitzbank.
Chase und Sophia blickten sich um und sahen, dass Nina zwei weiße Schutzhelme in Händen hielt. »Damit fallen wir vielleicht weniger auf«, sagte sie.
Sophia wirkte beeindruckt. »Gute Idee.« Sie setzte einen der Plastikhelme auf, während Chase sich den zweiten Helm knurrend auf den Schädel drückte. Als er losfuhr, setzte Nina sich einen dritten Helm auf.
Einen Moment lang befürchtete er, er habe Fang aus den Augen verloren, doch dann kam der andere Land Cruiser hinter dem Zelt und der angrenzenden Bühne hervor. Die Minenarbeiter, an denen sie vorbeifuhren, nahmen kaum Notiz von ihnen.
Chase folgte Fangs Fahrzeug, beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Stundenkilometern und hielt ausreichend Abstand von den entgegenkommenden Lastern, um keinen Verdacht zu erregen. Als sie sich der Straße näherten, die zur Landepiste führte, wunderte er sich, dass Fang nicht darauf einbog. »Aber hallo, wo will der denn hin?«
Nina blickte die Straße entlang. »Offenbar runter in die Mine.«
Chase drosselte die Geschwindigkeit, denn er wollte Fang nicht zu nahe kommen. Dass er ihn verfolgte, ließ sich allerdings nicht verbergen – abgesehen von den Riesentrucks war kein Verkehr unterwegs. Er blickte Sophia fragend an. »Was ist da unten?«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Nur weil ich einen Helm aufhabe, bin ich noch lange keine Minenexpertin.«
Sie fuhren weiter die lange Serpentinenstraße hinunter, immer tiefer in den Krater hinein. Die Kipper nahmen die längste, flachste Route, doch Fang wählte mit dem Geländewagen steilere Abkürzungen zwischen den einzelnen Ebenen. Chase folgte ihm mit gut hundert Meter Abstand. Allmählich näherten sie sich dem Grund des Kraters, wo die Arbeit in vollem Gange war: Riesige fahrbare Bagger, die selbst die Kipper in den Schatten stellten, nagten mit gewaltigen rotierenden Schaufeln, die aussahen wie die Klinge einer Kreissäge, an den Kraterwänden. Der Abraum wurde mit Förderbändern zu Schüttgutwagen transportiert, die ihren mehrere hundert Tonnen schweren Inhalt in die wartenden Kipper entleerten. Der Lärm war ohrenbetäubend, und in dem vom Krater ausgehenden Aufwind wogten Staubwolken.
»O Mann«, sagte Chase, der Fang vorsichtig zwischen den Maschinenkolossen hindurch folgte. »Die hätte man als Kampfroboter in Robot Wars auftreten lassen sollen.«
»Fahr nicht zu dicht auf«, sagte Nina und zuckte zusammen, als ein Felsbrocken, der größer war als ihr Land Cruiser, auf die Ladefläche eines Kippers krachte. »Ich möchte nicht als roter Fleck an jemandes Ehering enden.«
»Das nennt man dann wohl Blutdiamant«, bemerkte Sophia, womit sie Chase zum Lachen brachte.
Trotz ihrer Anspannung ärgerte sich Nina, dass ihr der Scherz nicht selbst eingefallen war.
Es war schon eine ganze Weile her, dass sie Eddie zum Lachen gebracht hatte …
Diese Gedanken verflüchtigten sich jedoch, als Chase abrupt abbremste. »Er hält an«, sagte er.
Nina spähte durch die inzwischen stark verschmutzte Windschutzscheibe. Der andere Land Cruiser hielt vor einem Tunneleingang am morastigen Boden der Grube, abseits der dröhnenden Maschinen.
»Ein Minenschacht«, sagte Sophia erstaunt. »Was hat der hier zu suchen? Hier wird doch Tagebau betrieben.«
»Ich dachte, du wärst keine Expertin«, sagte Nina mit kaum verhohlenem Sarkasmus in der Stimme.
»Das bin ich auch nicht, aber ich weiß, was man unter Tagebau versteht.« Sophias Tonfall war nicht minder spöttisch. »Der Schacht gehört nicht hierher.«
»Aber er ist nun mal da«, sagte Chase, »und Fang geht hinein.« Damit war das Thema für ihn beendet.
Sie beobachteten, wie Fang, dessen Handschelle noch immer an dem Aktenkoffer angekettet war, einen Schutzhelm aufsetzte und zum Tunneleingang ging. Dort wurde er von einem anderen Mann in Empfang genommen. Sie wechselten ein paar Worte, dann verschwanden sie im Tunnel.
Chase hielt neben Fangs Geländewagen. »Und was machen wir jetzt? Sollen wir warten, bis er wieder rauskommt, und ihm dann die Landkarte abnehmen, oder folgen wir ihm?«
»Wir gehen rein«, sagte Sophia entschieden. »Was immer darin verborgen ist, es muss in Verbindung mit den Aktivitäten meines Mannes stehen. Das ist alles zu abwegig, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Vielleicht soll Fang jemandem die Pergamente übergeben. Wenn wir sie aus den Augen verlieren, bekommen wir sie vielleicht nie mehr zurück.«
»Na schön. Aber ihr bleibt besser hier und wartet, bis ich zurückkomme.«
»Das finde ich nicht«, protestierte Nina und deutete auf die Bagger. »Was ist, wenn jemand herkommt und wissen will, was wir hier machen? Wenn jemand den Sicherheitsdienst ruft, sitzen wir in der Patsche – dieses Mauseloch hat nur einen Ausgang.«
Chase nickte widerwillig. »Okay, okay. Aber … seid vorsichtig. Falls es Ärger gibt, rennt ihr einfach zum Wagen zurück und macht, dass ihr aus der Grube rauskommt. Alles klar?«
»Und dich sollen wir zurücklassen?«, sagte Nina.
Er zog seine Waffe und sagte gönnerhaft: »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Und ich etwa nicht? Neulich ist mir gar nichts anderes übrig geblieben, denn du hattest dich ja netterweise auf die andere Seite der Erdkugel abgesetzt …«
»Ich glaube, das ist kein guter Zeitpunkt, um zu streiten«, unterbrach Sophia das Geplänkel scharf. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus, um weiteren Auseinandersetzungen zuvorzukommen.
Chase bedachte Nina mit einem finsteren Blick, dann folgte er Sophia.
Nina schlug in hilflosem Zorn mit den Fäusten auf den Sitz, dann stieg auch sie aus.
Der Tunneleingang hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern; eine nahezu kreisrunde Öffnung, die in das braune, staubtrockene Erdreich hineinführte. In weiten Abständen hingen Glühlampen an der Decke. Nina schauderte. Genauso war es in den New Yorker Abwasserkanälen gewesen. Bei der Erinnerung daran verkrampfte sie sich am ganzen Leib.
»Alles in Ordnung?«, fragte Chase und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Es geht schon«, erwiderte Nina barsch, schüttelte seine Hand ab und schulterte ihren Rucksack. »Also los. Holen wir uns die Landkarte.«