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New York City: drei Monate später

Die Lichter von Manhattan funkelten am Nachthimmel wie präzise angeordnete Sterne. Eddie Chase betrachtete das spektakuläre Panorama seufzend. Er wäre jetzt viel lieber woanders gewesen, irgendwo auf der Insel – in einem Restaurant, einer Bar oder notfalls auch in einem Waschsalon –, als ausgerechnet hier.

Der Treffpunkt war eigentlich nicht das Problem: Die Ocean Emperor war der ganze Stolz seines Gastgebers, eine hundertsechs Meter lange Motoryacht mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Chase war nicht zum ersten Mal an Bord einer Luxusyacht, doch diese hier übertraf alles, was er bislang gesehen hatte. Wäre er mit Nina und ein paar guten Freunden hier gewesen, hätte er sich prächtig amüsiert.

Doch außer ein paar älteren IBAK-Angestellten kannte er keinen der über hundert Gäste. Und er hatte nichts mit ihnen gemeinsam. Sämtliche Anwesende waren entweder Diplomaten, Politiker oder Industriemagnaten, alles eifrige Netzwerker, die mit jedem Händeschütteln einen Deal besiegelten. Chase hingegen war lediglich Ninas »Anhang«. Das hier war nicht seine Welt.

Auch Nina fühlte sich hier offensichtlich nicht wohl, bemühte sich aber nach Kräften, so zu tun als ob, bemerkte er stirnrunzelnd. Er kippte den Rest Rotwein in seinem Glas hinunter, wandte sich vom Fenster ab und musterte die Gäste. Nina stand bei Hector Amoros, ehemals Admiral der US-Navy, jetzt Historiker und Leiter der IBAK, und schüttelte einem groß gewachsenen, distinguierten, aber selbstgefällig wirkenden Mann die Hand. Ein Politiker, das sah Chase auf den ersten Blick.

Nina blickte durch die offene Tür in seine Richtung. »Eddie!«, rief sie und winkte ihn näher. Er bemerkte, dass ihr Champagnerglas schon wieder aufgefüllt worden war. »Eddie, komm doch mal her und sag dem Senator guten Abend.«

»Ja, ich komme schon«, antwortete er lustlos und befingerte seinen steifen, unbequemen Kragen. Ein Windschwall fegte über das Deck hinweg, als er in die Kabine trat; ein weiterer Helikopter setzte ultrawichtige Gäste auf dem Heliport ab. Chase und Nina waren wie die meisten anderen Geladenen mit dem Boot zur Ocean Emperor gebracht worden. Auch in der Welt der Superreichen gab es eine Rangordnung. Das Einfliegen per Helikopter war vermutlich nur noch mit einer Landung im Senkrechtstarter zu toppen.

Nina sah toll aus heute Abend, das musste er ihr lassen. Ihr scharlachrotes Kleid in A-Form war schulterfrei und himmelweit entfernt von den praktischen Klamotten, die sie vor anderthalb Jahren bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte. Auch die italienischen Kostüme, die sie in letzter Zeit als Einsatzleiterin der IBAK immer trug, konnten mit diesem Outfit nicht mithalten. Um ihr sorgfältig gestyltes Make-up zu betonen, hatte sie sich ihr rotes Haar sogar extra etwas dunkler gefärbt.

Bei dem Gedanken an ihr Haar knirschte Chase mit den Zähnen. Er hatte den ganzen Tag darüber genörgelt, bis Nina ihn schließlich bat, den Mund zu halten.

Aber trotzdem … fünfhundert Dollar für eine beschissene Frisur?

»Eddie«, sagte Nina, »das ist Senator Victor Dalton. Senator, das ist Eddie Chase, er arbeitet für mich. Außerdem ist er zufällig mein Freund«, setzte sie hinzu.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Senator«, sagte Chase und bedachte Nina mit einem verärgerten Blick, als er Dalton die Hand schüttelte. Er kannte den Namen – Dalton wollte sich um das Amt des Präsidenten bewerben. Das erklärte auch die Anwesenheit der beiden Männer in dunklen Anzügen, die ihn mit versteinerter Miene musterten: Agenten des Secret Service.

»Ganz meinerseits«, erwiderte Dalton. »Sie sind Engländer, nicht wahr? Londoner, wenn mich der Akzent nicht täuscht, richtig?«

»Da liegen Sie verdammt noch mal – ich meine, ja, Sie haben recht. Ich bin aus Yorkshire.«

Dalton nickte. »Yorkshire, okay. Hübsche Gegend, sagt man.«

»Ja, man kann dort ganz gut leben.« Chase bezweifelte, dass der Senator wusste, wo Yorkshire lag, oder dass es ihn überhaupt interessierte.

»Senator Dalton sitzt im Finanzierungskomitee der IBAK«, erklärte Amoros.

Chase lächelte affektiert. »Tatsächlich? Besteht Aussicht auf eine Gehaltserhöhung?«

Ninas lipglossgeschminkte Lippen verengten sich zu einem schmalen Strich, Dalton aber lachte herzlich. »Ich werde mal sehen, was ich für Sie tun kann.« Er blickte an Chase vorbei und zog die Augenbrauen in die Höhe, als er einen Bekannten sah. »Da kommt ja unser Gastgeber! Monsieur Corvus, schön, Sie wiederzutreffen!«

Chase drehte sich um und erblickte einen Mann im Dinnerjackett mit ölig glänzendem schwarzem Haar. Er musste um die Mitte fünfzig sein.

»Bitte«, sagte Corvus zu Dalton, als sie sich die Hand schüttelten. »Nennen Sie mich René. Das ist eine Party, oder? Da können wir auf Förmlichkeiten doch verzichten!«

»Wie Sie meinen … René!«, sagte Dalton mit einem leisen Lachen.

»Danke … Victor!« Corvus wandte sich an Nina und ergriff ihre Hand. »Es ist mir eine große Freude, Sie wiederzusehen.« Er neigte sich vor und küsste sie auf beide Wangen. Nina errötete. Chase funkelte den Franzosen böse an, hatte sich jedoch schon wieder gefasst, als Corvus sich ihm zuwandte. »Und Sie, Sie sind bestimmt …«

»Eddie Chase«, sagte Chase schroff und reichte ihm die Hand. »Ich bin Ninas Freund.«

»Ah, ja«, sagte Corvus und schüttelte ihm lächelnd die Hand. »René Corvus. Willkommen an Bord der Ocean Emperor

»Danke.« Chase blickte sich in dem eichengetäfelten Raum um. »Sie haben es richtig hübsch hier. Ich nehme an, es hat seine Vorzüge, wenn man ein Schiffsmagnet ist.«

Dalton verkniff sich ein amüsiertes Schnauben, während Nina nervös auflachte. »René ist ein Schiffsmagnat«, sagte sie zu Chase, das Wort mit zusammengebissenen Zähnen betonend. »Außerdem ist er einer der IBAK-Direktoren.«

»Ich sitze nur im Aufsichtsrat«, setzte Corvus bescheiden hinzu. »Die Entscheidungen zum Schutz der archäologischen Wunder dieser Welt überlasse ich lieber Experten wie Nina.«

»Ja«, sagte Chase mit breitem falschem Lächeln, »sie mag es, wenn sie alles unter Kontrolle hat. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.«

Nina nahm einen Schluck aus ihrem Glas, dann schenkte sie Chase ein nicht minder heuchlerisches Lächeln. »Schatz?«, sagte sie und zupfte ihn am Ärmel. »Könnte ich dich mal eben unter vier Augen sprechen? Da drüben?« Sie ruckte mit dem Kopf in Richtung Tür.

»Aber gerne doch, Liebling«, erwiderte er und nickte den drei Männern verschwörerisch zu. »Entschuldigen Sie uns einen Moment.« Die drei wechselten vielsagende Blicke, als er sich mit Nina entfernte.

»Sag mal, was soll der Scheiß?«, fauchte Nina, als sie sich fälschlicherweise außer Hörweite wähnte.

»Was meinst du?«

»Du weißt verdammt gut, was ich meine! Du machst dich zum Narren und bringst mich in Verlegenheit!«

»Ach, ich bringe dich in Verlegenheit?«, schnaubte Chase. »Was sollte dann dieses ›Das ist Eddie, mein Wasserträger von der IBAK, und übrigens ist er auch mein Freund‹?«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Aber es hat so geklungen! Und wo wir schon dabei sind: Ich bitte auch demütigst um Verzeihung, dass ich mich bei einem Wort vertan habe, das kein Schwein in einer normalen Unterhaltung verwendet. Schließlich kann sich nicht jeder die Studiengebühren an der Universität für schwülstiges Vokabular leisten. Oder einen Fünfhundert-Dollar-Haarschnitt«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzusetzen.

Ninas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du hast mir versprochen, damit aufzuhören! Herrgott noch mal! Ein einziges Mal möchte ich gut aussehen, um die Leute zu beeindrucken, und du lästerst über die Kosten!«

»Das waren fünfhundert beschissene Dollar!«, rief Chase ihr in Erinnerung. »Wenn ich zum Friseur gehe, zahl ich grad mal einen Zehner!«

»Ja, und so sieht es dann auch aus!«, fauchte sie und strich ihm unsanft über sein kurz geschnittenes schütteres Haar. »Außerdem habe ich jetzt eine leitende Stellung bei den Vereinten Nationen und verdiene bedeutend mehr als an der Uni – es ist ja nicht so, als ob ich mir so was nicht leisten könnte oder dich um Geld bitten müsste.«

»Ja, klar, du kannst dir jetzt eine Menge Dinge leisten.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du …« Chase verstummte, als er die beiden Personen sah, die vom Oberdeck herunterkamen. Neue Gäste, vom Helikopter an Bord der Ocean Emperor abgesetzt. Der eine war Chinese und wie Chase Mitte dreißig. Er musterte die reichen Gäste mit einem arroganten Lächeln, als hielte er sich für etwas Besseres – für besser als alle anderen. Und die zweite Person …

»Entschuldige mich«, sagte Chase, der den Streit mit Nina vollkommen vergessen hatte. Er wandte sich zur Tür. »Ich brauche frische Luft.«

Nina verstellte ihm verwirrt und zornig den Weg. »Was? Nein, du bleibst! Was soll das heißen, ich könnte mir jetzt eine Menge leisten?«

»Vergiss es. Ich …« Er sah wieder zur Treppe.

Doch es war bereits zu spät. Sie hatte ihn gesehen.

Der Chinese stolzierte großspurig auf Corvus zu; die anderen Gäste machten ihm Platz, als fegte er sie mit einem unsichtbaren Kraftfeld beiseite. Ein paar Schritte hinter ihm ging eine jüngere Frau. Europäerin, brünett, umwerfend schön, exquisit und teuer gekleidet … und mit einem Gesichtsausdruck stiller Trauer.

Der einzige Mensch, den sie auf ihrem Weg durch den Raum ansah, war Chase.

»Mist«, fluchte er leise. Jetzt konnte er nicht mehr unbemerkt verschwinden.

»Jo, René!«, sagte der Mann mit lauter Stimme und breitete die Arme aus, als er sich Corvus näherte. Er sah zwar aus wie ein Chinese, doch sein Akzent war durch und durch amerikanisch, kalifornische Oberschicht. »Schönes Boot! Ich muss mir auch so eins bestellen. Eine Nummer größer natürlich. Senator Dalton!« Er ergriff Daltons Hand und schwenkte sie überschwänglich auf und ab. »Oder soll ich mich schon einmal dran gewöhnen, Sie mit ›Mr. President‹ anzusprechen? Was meinen Sie?«

»Also, erst einmal muss ich die Vorwahlen gewinnen …«, sagte Dalton mit verschmitztem Lächeln.

»Ach, das kriegen Sie schon hin. Meine Stimme haben Sie jedenfalls, Vic. Und meine Spenden. Es sei denn, der andere Typ bietet mir einen besseren Deal!« Er lachte, und Dalton fiel ein wenig zurückhaltend in sein Gelächter ein.

Amoros blickte zu Nina und Chase hinüber. »Nina! Ich würde Ihnen gern jemanden vorstellen.«

Nina und Chase setzten eine freundliche Miene auf und schlossen sich wieder der Gruppe an. »Nina«, sagte Amoros, »das ist das neueste Aufsichtsratsmitglied der IBAK, Richard Yuen Xuan.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Xuan«, sagte Nina und reichte dem Chinesen die Hand. Amoros’ Miene gefror, und Dalton gab ein belustigtes Grunzen von sich.

»Eigentlich«, sagte Chase, bevor Amoros Nina verbessern konnte, »kommen die chinesischen Familiennamen an erster Stelle. Hab ich recht, Mr. Yuen?«

»Ja, das stimmt«, sagte Yuen. Er lächelte die entgeisterte Nina an. »Hey, das macht doch nichts! Ihren Namen kann ich allerdings nicht falsch verstehen – ich kenne ihn nämlich bereits.«

Nina blinzelte. »Tatsächlich?«

»Dr. Nina Wilde, Einsatzleiterin der IBAK. Historikerin, Archäologin, Forscherin … und Entdeckerin«, sagte Yuen, wobei er das letzte Wort betonte. »Ich habe alles über Sie gelesen.« Er schüttelte ihr die Hand.

»Äh, danke«, quetschte Nina hervor. Sie war sichtlich aus der Fassung gebracht. »Und was machen Sie, Mr. Yuen?«

Yuen lächelte affektiert. »Nennen Sie mich Rich. Denn ich bin reich!« Er lachte laut über seinen eigenen Scherz. »Ich war im Telekommunikationsgeschäft – bin ich übrigens immer noch. Mir gehören Satelliten, Telefongesellschaften und der größte Internetprovider Chinas – aber in letzter Zeit habe ich auf Diversifizierung gesetzt. Scheiße, warum auch nicht, ich kann’s mir schließlich leisten! Jetzt habe ich zusätzlich noch eine Mikrochipfabrik in der Schweiz, und unserem Freund René habe ich sogar eine Diamantmine in Botswana abgekauft. Sie hätten sie behalten sollen, René, die Förderkurve schießt durch die Decke. Und deshalb interessiere ich mich auch so sehr für Diamanten.« Er wandte sich der Frau zu, die schweigend hinter ihm gewartet hatte, ergriff ihre Linke, hob sie an und präsentierte den großen Diamantring an ihrem Ringfinger. »Ich möchte Ihnen Sophia vorstellen – Lady Blackwood, seit sechs Monaten meine wunderschöne Gattin.«

»Gattin?«, wiederholte Chase mit großen Augen. Es klang beinahe wie ein Aufjaulen. Nina musterte ihn tadelnd.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Sophia, deren lupenreiner englischer Akzent mit tonloser Stimme vorgebracht wurde.

Yuen stellte seiner Gattin die anderen vor, zögerte jedoch einen Moment, als er zu Chase gelangte. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht, Mr. …?«

»Chase. Eddie Chase.«

»Okay … Eddie. Und das ist meine …«

»Wir kennen uns bereits.«

Diesmal jaulte Nina auf. »Wie bitte?«

Sophias Gesichtsausdruck veränderte sich. Ein zögerliches Lächeln blühte auf, als sie die rechte Hand hob. »Hallo, Eddie. Es … ist schon eine ganze Weile her.«

»Ja.« Chase erwiderte weder ihr Lächeln, noch ergriff er ihre Hand. Nach einer Weile ließ sie die Hand sinken, und ihr Lächeln wich Enttäuschung. »Also, wie ich sehe, geht es dir gut.« Chase wandte sich an Yuen. »Viel Glück mit Ihrer Ehe, Dick. Entschuldigen Sie mich.« Er wandte sich zur Tür.

Sophia berührte ihn seitlich am Jackett. Er blieb stehen, ohne den Kopf zu wenden. »Eddie, ich …«

Chase verharrte einen Moment, dann stolzierte er von dannen.

»Eddie!«, sagte Nina, die keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging. Chase hatte sich irgendwie verändert, seitdem er mit dieser ominösen Sophia zusammengetroffen war – seine Stimme klang anders, seine Haltung gerader –, doch sie wurde nicht schlau daraus. »Wo willst du hin?«

»Ich muss pinkeln«, fauchte er sie über die Schulter hinweg an und verschwand durch die Tür.

Nina blickte ihm nach, die Wangen vor Verlegenheit gerötet. »Es … es tut mir wirklich sehr leid«, stammelte sie und nahm einen Schluck Champagner, um sich zu beruhigen.

Yuen zuckte mit den Schultern. »Schon gut, es ist doch nichts passiert.« Er wandte sich Sophia zu. Nina erwartete, dass er sie nach Chase fragen werde, doch stattdessen sagte er: »Alles in Ordnung?«

Sie nickte.

»Gut. Übrigens, Dr. Wilde – darf ich Sie Nina nennen?«

Nina nickte.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich finde Ihre Arbeit faszinierend. Ich weiß, Sie haben da ein paar Entdeckungen gemacht, die die IBAK einstweilen noch unter Verschluss halten möchte, aber ich würde wirklich gern wissen, welchen alten Wundern Sie sich als Nächstes zuwenden wollen!«

Nina zögerte mit der Antwort. Als eines von vielen Aufsichtsratsmitgliedern, die für die IBAK internationale Kontakte herstellen und das politische Getriebe an Orten schmieren sollten, wo archäologische Projekte im Auftrag der UN möglicherweise mit Misstrauen betrachtet wurden, wusste Yuen vielleicht nicht genau, weshalb die IBAK gegründet worden war; bestenfalls war sein Wissen lückenhaft. Die vollständigen Details bezüglich der Entdeckung von Atlantis waren nur einer sehr kleinen Anzahl von Personen bekannt. Andererseits hatte er angedeutet, er wisse Bescheid …

Nina beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und jede Erwähnung von Atlantis zu vermeiden. So gern sie ihre Entdeckung vor aller Welt enthüllt hätte, war ihr doch bewusst, dass sie damit warten musste, bis die IBAK und die dahinterstehenden Regierungen den Zeitpunkt für gekommen hielten. Hätte man der Öffentlichkeit jetzt mitgeteilt, wie knapp fünf Milliarden Menschen der Auslöschung durch eine Virenseuche entgangen waren, hätte das eine Menge Probleme gegeben.

Ihr aktuelles Projekt war viel weniger kontrovers. Und wenn sie in diesem Fall die Wahrheit über den angeblichen Mythos enthüllte, würde sie jetzt gleich die Lorbeeren dafür einheimsen …

»Also«, setzte sie an, »eigentlich suche ich nach dem Grab des Herkules.«

Dalton hob eine Braue. »Sie meinen den Helden aus den griechischen Mythen?«

»Genau.«

»Verzeihen Sie die Nachfrage«, sagte Dalton mit sarkastischem Unterton, »aber weshalb sollte ein Mythos ein Grab haben?«

»Es ist tatsächlich so«, sagte Sophia, »dass an vielen Orten Gestalten der griechischen Mythologie ein Grab haben.«

Die Männer schauten sie an, als erstaunte es sie, dass Sophia etwas zu einem Fachgespräch beizutragen hatte. »Ob tatsächlich jemand darin bestattet wurde«, fuhr sie fort, »war für die Griechen zweitrangig – die Gräber dienten vor allem als Andachtsstätte, als Ort des Gedenkens.«

»Das stimmt«, sagte Nina, die ein wenig das Gefühl hatte, man habe ihr die Schau gestohlen. »Sie sind gut informiert, Lady … soll ich Sie Lady Blackwood nennen, oder …?«

»Sophia, bitte.«

»›Lady‹ nennen wir sie, um den Pöbel zu beeindrucken«, sagte Yuen anbiedernd. »Man glaubt gar nicht, wie förderlich der alte britische Adel bei Geschäftsverhandlungen sein kann. Das ist übrigens der Hauptgrund, weshalb ich sie geheiratet habe!« Sein Lachen ließ durchblicken, dass die Bemerkung durchaus nicht nur scherzhaft gemeint war.

»Das sind die Vorzüge der humanistischen Bildung«, sagte Sophia zu Nina. Entweder das ungehobelte Auftreten ihres Mannes machte ihr nichts aus, oder sie verstand es, ihre Gefühle zu verbergen. »Allerdings bin ich eher auf Latein spezialisiert als aufs Griechische. Aber Sie wollten über das Grab des Herkules sprechen.«

»Ja, richtig.« Nina kippte den Rest des Champagners hinunter, dann winkte sie mit dem Glas einem Ober. Er eilte herbei und schenkte ihr nach. »Wie Sophia schon sagte, lassen sich zahlreichen Gestalten der griechischen Mythologie Gräber zuordnen. Bei Herkules – oder Herakles, wie der ursprüngliche griechische Name lautet – verwundert eher, dass er kein Grab hat. Beziehungsweise«, setzte sie theatralisch hinzu, »dass es noch nicht gefunden wurde.«

»Und Sie glauben, Sie hätten es entdeckt?«, fragte Yuen mit Nachdruck; seine arrogante Frotzelattitüde hatte er auf einmal abgelegt.

»Also … ich würde die Frage wirklich gern bejahen, aber das kann ich leider nicht«, entgegnete Nina mit falscher Bescheidenheit. »Noch nicht. Ich setze seit Monaten einzelne Mosaiksteinchen zusammen, konnte den genauen Ort jedoch noch nicht bestimmen. Aber das wird sich hoffentlich bald ändern!«

»Und woher stammen die Hinweise?«

Obwohl der Champagner seine Wirkung tat, rief Nina sich in Erinnerung, dass hier Diskretion angebracht war. »Es gibt Hinweise in alten griechischen Pergamenten aus den Archiven … eines Privatsammlers.« Dass zu den Pergamenten auch die Schrift Hermokrates gehörte, der verschollen geglaubte Text des griechischen Philosophen Plato, der sich mit Atlantis befasste, und dass es sich bei dem Privatsammler um eine Geheimgesellschaft handelte, die bereit war zu töten, um die Wiederentdeckung jener untergegangenen Zivilisation zu verhindern, behielt sie für sich. »Die IBAK hat voriges Jahr eine Vereinbarung getroffen, die es ihr erlaubt, die Sammlung in Augenschein zu nehmen. Übrigens treffe ich mich morgen mit jemandem, der mir Zugang zu den Originaldokumenten gewähren wird.«

Yuens Interesse war geweckt. »Glauben Sie, Sie können den Originalen mehr entnehmen als den Fotos?«

Nina trank einen Schluck, bevor sie antwortete. »Ja, sicher! Darum geht es doch bei der Archäologie – Dinge leibhaftig vor sich zu sehen, anstatt nur Fotos zu betrachten. Eine Fundstätte zu besuchen oder mit einem Objekt zu arbeiten, das man in Händen halten kann, macht einen großen Unterschied. Dann sieht man die Dinge in einem ganz neuen Licht.«

Yuen nickte nachdenklich, und Corvus sagte: »Aber in Ihrer Funktion als Einsatzleiterin haben Sie doch sicherlich kaum noch Gelegenheit, vor Ort zu arbeiten?«

»Das stimmt leider«, meinte Nina und schüttelte den Kopf. »Im Moment verbringe ich die meiste Zeit am Schreibtisch oder in Sitzungen.« Zumal jetzt, da die Plattform, von der aus man Atlantis erkundet hatte, bei einem Sturm gesunken war, wollte sie hinzufügen; jetzt, wo die meisten Vor-Ort-Projekte der IBAK ruhten, da man die Ergebnisse der laufenden Untersuchung abwarten wollte – sie unterließ es jedoch und sagte stattdessen lächelnd: »Andererseits hat der Job auch seine Vorteile. Wie zum Beispiel das hier!« Sie schwenkte den Arm, als wollte sie das ganze extravagante Schiff umfassen. »Danke für die Einladung.«

»Ich finde, es ist an der Zeit, das Profil der IBAK ein wenig zu heben«, sagte Corvus lächelnd.

Auch Yuen lächelte, allerdings etwas zurückhaltender. »Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der Grabsuche!« Er blickte sich zu einer anderen Gruppe von Gästen um. »Ich muss dann mal weiter. René, danke für die Einladung, und Vic, vergessen Sie nicht, mich ins Weiße Haus einzuladen! Komm, Soph.«

»Hat mich gefreut«, sagte Sophia zu Nina, dann fasste Yuen sie bei der Hand und zog sie mit sich mit.

»Arschloch«, brummte Dalton, als die beiden weg waren. »Ist mir schnuppe, wie viele Milliarden er besitzt, ein Dummkopf bleibt ein Dummkopf. Aber verdammt noch mal, bei seiner Frau hat er ein gutes Händchen bewiesen!«

»Er kann sich glücklich schätzen, dass er eine so perfekte Person gefunden hat«, pflichtete Corvus ihm bei und wandte sich an Nina. »Und Sie, Nina – haben Sie vor, Eddie zu heiraten?«

Die Frage brachte Nina komplett aus dem Konzept. Eilig trank sie einen Schluck Champagner, bevor sie sich um eine Antwort bemühte. »Äh, also, das weiß ich noch nicht.« Nach Chases kleiner Vorstellung heute Abend stand das Thema sicherlich nicht ganz oben auf ihrer Tagesordnung.

Sie schaute sich nach Eddie um und überlegte, ob er wohl zurückkommen würde. Sie beschloss, nach ihm zu suchen und ihm die Hölle heißzumachen.

Doch zuerst trank sie ihr Glas leer.

Chase wanderte ziellos durch die Ocean Emperor. Dass er der Einladung zu der Party gefolgt war, war in Anbetracht von Ninas neuer Großspurigkeit ein großer Fehler gewesen – und dann war zu allem Unglück auch noch Sophia aufgetaucht …

Er wollte gar nicht an sie denken. Sie war ein Teil seiner Vergangenheit, den er bereits ad acta gelegt hatte. Hatte er zumindest angenommen – doch da hatte er sich offenbar getäuscht.

Er trat aufs Achterdeck hinaus und stellte mit Erleichterung fest, dass sich hier weniger Gäste aufhielten. Der kalte Wind bewog die meisten, drinnen zu bleiben. Er trat an die Reling der eingezogenen Badeplattform und betrachtete die Skyline Manhattans, als jemand zu seiner Überraschung seinen Namen rief. Chase blickte sich um. »Matt?«

»Hey, Eddie!« Matt Trulli kam auf ihn zugetrottet. Der rundliche Australier wirkte hier mit seinem Stachelhaar, den schmuddeligen knielangen Shorts und dem grellbunten Hemd völlig fehl am Platz. Mit aufrichtiger Begeisterung schwenkte er Chases Arm auf und ab. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehn! Wie geht’s denn, Kumpel?«

»Gut, danke. Was machst du hier?«

Trulli zeigte zur Brücke der Ocean Emperor. »Ich arbeite jetzt für den Boss!«

»Für Corvus?«

Trulli nickte. »Normalerweise arbeite ich auf den Bahamas, aber ich halte morgen am MIT ein Seminar. Die Einladung hat mich schon gewundert, aber scheiß drauf, Hauptsache, es gibt ne kostenlose Dröhnung!« Er hob sein Glas.

Chase wurde bewusst, dass er nichts zu trinken hatte, und es war auch kein Ober in der Nähe, der ihm ein Glas hätte geben können. Außerdem hatte er im Gegensatz zu Nina schon genug … »Dann bist du also immer noch im U-Boot-Business?«

»Klar, Mann. Nachdem die Sache mit Frost in die Hose gegangen war, hab ich angefangen, für René zu arbeiten und Unterwasserhotels zu entwerfen.«

Chase musterte ihn skeptisch. »Unterwasserhotels

»Lach ruhig, Kumpel, aber das wird der nächste Renner!«, versicherte ihm Trulli. »In Dubai sind sie schon ganz groß damit rausgekommen, aber das ist noch gar nichts gegen meinen Entwurf. Ich konstruiere sie modular, damit man so ein Ding überall dort zusammennieten kann, wo’s einem gerade gefällt. Morgens wachst du auf, und womm! Fische, direkt vor deiner Nase. René bewohnt auf den Bahamas einen Prototyp. Ziemlich cool. Tät mir auch gefallen, kann ich mir aber leider nicht leisten!«

»Ich weiß, wie das ist«, sagte Chase wehmütig, mit Blick auf Manhattan.

»Jedenfalls«, fuhr Trulli fort, »jetzt, wo ich das Hotel-Ding unter Dach und Fach habe, arbeite ich an einer noch cooleren Sache.« Er zog einen bedauernden Flunsch. »Ich kann bloß noch nicht drüber reden. Topsecret, verstehst du?«

Chase lächelte schwach. »Bei mir ist dein Geheimnis gut aufgehoben.«

»Schon klar, Kumpel. Aber eins kann ich dir sagen – das ist der Wahnsinn! Weißt du, die Tauchboote, die ich für Frost gebaut habe, waren vergleichsweise Bulldozer. Das, was ich jetzt entwerfe, ist eher ein Ferrari. Es wird toll werden! Falls ich das Scheißding richtig zum Laufen kriege.« Er nahm noch einen Schluck, dann lehnte er sich an die Heckreling. »Und was ist mit dir, Kumpel? Wie bist du überhaupt auf diese Party gekommen?«

»Ich bin mit Nina hier. Sie hat die Einladung bekommen, nicht ich.«

Trulli reagierte verdutzt auf seinen scharfen Ton, enthielt sich aber einer Bemerkung. Stattdessen sagte er: »Dann seid ihr beide …?«

Chase nickte.

»Boah, das ist ja ein Ding!«

»Krieg dich wieder ein; wir sind nicht verheiratet oder so. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal genau, was wir im Moment gerade sind.«

»O-kay … Dann arbeitet sie jetzt also für die IBAK?«

»Ja. Ich auch.«

»Schon kapiert, Mann. Was machst du da?«

Chase blies die Backen auf, bevor er antwortete.

»Also, die meiste Zeit über hocke ich am Schreibtisch und drehe Däumchen. Die offizielle Jobbezeichnung lautet ›Assistent des Direktors der Einsatzplanung‹, aber in Wirklichkeit soll ich mich um Nina kümmern, wenn sie auf dem Gelände arbeitet. Da sie aber seit über einem Jahr nicht mehr dort war, hab ich den ganzen Tag lang einen Scheiß zu tun.« Er hatte seinem Frust Luft gemacht, obwohl er das gar nicht vorgehabt hatte.

»Dann ist Nina also dein Boss? Das macht die Sache interessant.«

Chase bedachte ihn mit einem finsteren, humorlosen Blick. »Du hast ja keine Ahnung.«

Trulli wirkte leicht verlegen. »Stimmt … Wo ist sie eigentlich? Ich würd ihr gern Hallo sagen.«

»Wo wir gerade vom Teufel sprechen«, sagte Chase, als sich ihnen klackernde Absätze näherten. Er wandte sich um und sah die wutschäumende Nina auf sich zueilen. Ihr Kleid flatterte im Wind.

»Ich habe überall nach dir gesucht!«, fauchte sie, dann erst bemerkte sie Trulli. »Matt! Du meine Güte, wie geht es dir? Was machst du hier?«

»Ich hab Eddie gerade erzählt, dass ich für René Corvus arbeite«, antwortete Trulli. »Ich baue immer noch Tauchboote. Wie ich höre, bist du jetzt ein hohes Tier bei der IBAK. Meinen Glückwunsch!«

»Danke. Hör mal, Matt, es tut mir leid, wenn ich euch störe, aber ich muss mit Eddie reden. Unter vier Augen.«

Trulli musterte Eddie besorgt, dann leerte er sein Glas. »Schon klar … Ich wollte mir sowieso gerade Nachschub holen. Vielleicht sehn wir uns ja später noch?«

»Vielleicht«, sagte Chase. Trulli tätschelte ihm den Arm, gab Nina einen Wangenkuss und zog sich zurück.

Chase sah ihm nach, dann bemerkte er, dass Nina ihn zornig anfunkelte. Er deutete auf ihr Glas. »Du bist mittlerweile also zu Rotwein übergegangen? Ist das dein sechstes oder schon dein siebtes Glas heute Abend?«

»Versuch nicht auszuweichen.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, worum es eigentlich geht.«

»Du weißt ganz genau, worum es geht.« Sie kam näher. »Noch nie im Leben habe ich mich so gedemütigt gefühlt! Es ist mir egal, welche Probleme du mit Sophia hast, aber du hättest dich wenigstens beherrschen können. Es gibt Zehnjährige, die reifer sind als du! Herrgott, René und Sophias Mann sind Direktoren der IBAK!«

»Aufsichtsratsmitglieder«, verbesserte Chase sie sarkastisch.

Nina kniff zornig die Lippen zusammen. »Ist dir klar, wie ich jetzt vor all den Leuten dastehe?«

»Aha, jetzt kommen wir also allmählich zum Punkt«, meinte Chase und lehnte sich an die Reling. »Das war’s doch, was dich am meisten geärgert hat, stimmt’s? Du süffelst Champagner mit Milliardären, Möchtegernpräsidenten und Ihrer Ladyschaft, und dann fällt dir auf einmal ein – oh, Mist! Mein Freund ist ja nur ein dummer Exsoldat, wie peinlich! Da weise ich ihn besser mal vor allen in die Schranken, sonst glauben sie noch, ich stünde ihm näher als denen!«

»Das – das stimmt nicht, und das weißt du auch!«, rief Nina wutentbrannt und trat einen Schritt näher an Chase heran. »Was ist eigentlich mit dieser Sophia? Woher kennst du sie?«

»Das geht dich nichts an.«

»Also, so wie du dich verhalten hast, geht es mich sehr wohl etwas an!«

Chase straffte sich. Sein Gesicht war nur Zentimeter von Ninas entfernt. Ihrer hohen Absätze wegen waren sie beinahe gleich groß. »Na schön, du willst also wissen, welches Problem ich mit Sophia habe? Sie glaubt, nur deshalb, weil sie in der richtigen Familie zur Welt gekommen ist, stünden alle anderen unter ihr. Aber weißt du was?« Er grinste höhnisch. »Bei ihr hat mir das nicht so viel ausgemacht, denn so war sie schon immer, und sie weiß es nicht besser. Aber bei dir? Du hast seit ein paar Monaten einen netten Job und verdienst auch etwas mehr Geld. Na gut, und du plauderst jetzt mit Politikern und all den reichen Säcken – dass dir das gefällt, ist eine Sache. Aber dann fällt dir auf einmal ein, dass du was Besseres bist und mich behandeln darfst wie ein Stück Dreck! Das ist die andere. Und die passt mir ganz und gar nicht.«

Nina lief rot an im Gesicht und bleckte zitternd die Zähne. Und dann …

Platsch!

»Du bist ein Idiot, Eddie!«, fauchte sie, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. Rotwein tropfte Chase auf Hemd und Sakko. Er atmete tief durch, dann wischte er sich die Augen aus. Die wenigen anderen Personen an Deck sahen rasch weg.

»Was ist?«, sagte er und zeigte mit einem breiten Grinsen die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen vor. »Eine richtige Party wird es doch erst, wenn jemand einen Drink ins Gesicht geschüttet bekommt, dachte ich.«

Da diese spezielle Party an Bord einer Yacht im Hafen von New York stattfand, konnten Nina und Chase nicht einfach mit dem Taxi nach Hause fahren. Sie mussten warten, bis eines der Boote zurückkam, dann wurden sie gemächlich ans Ufer geschippert und nahmen schließlich ein Taxi bis zur Upper East Side. Die Fahrt dauerte fünfundvierzig Minuten.

In der ganzen Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort.